STANDPUNKTE • Kaschmir – Historische Hintergründe und aktuelle Probleme (Podcast)

Ein Standpunkt von Matin Baraki.

Als es im Februar zu einem Selbstmordanschlag auf indische Polizisten im von Indien kontrollierten Teil des Kaschmirs kam, die indische Luftwaffe einen Angriff auf Pakistan flog, was in Folge zu einem Abschuss eines indischen Kampfflugzeuges durch Pakistan führte, rückte ein Konflikt in den Vordergrund, der seit Jahrzehnten andauert. Droht nun eine erneute Gewalteskalation? Worum geht es eigentlich bei diesem Konflikt?

Die Genese des Konflikts

Als in Folge des antikolonialen Kampfes der nationalen Bewegung der Völker des indischen Subkontinentes die britische Herrschaft in Indien nicht mehr zu halten war, griffen die Kolonisatoren nach der bewährten Methode „divide et impera“, um zumindest eine Verlängerung ihrer Herrschaft unter veränderten Umständen zu ermöglichen. Die ersten Maßnahmen waren darauf gerichtet, die antikoloniale Bewegung zu spalten, indem sie diese ethnisch-religiös darstellten bzw. zu beeinflussen suchten. Infolgedessen bildeten sich säkular orientierte Kräfte unter Führung Mahatma Gandhis und Jawahar Lal Nehrus und religiös orientierte unter der Regie der Muslim Liga von Mohammed Ali Jinah heraus. Sowohl Gandhi und Nehru als auch deren Kampfgefährte, der legendäre Paschtunenführer Abdul Ghafahr Khan, kämpften für die Befreiung des gesamten einheitlichen indischen Subkontinents. Während die Muslim Liga von Jinah die These der „Zwei-Nationen-Theorie“ verbreitete, die dieser vor allem religiös begründete, goss der britische Geheimdienst Öl ins Feuer, indem er in der Nacht Köpfe geschlachteter Kühe hinter die Türen der Hindus und zerrissene bzw. teilweise verbrannte Koranausgaben hinter die Türen der Muslime ablegen ließ. Damit wurde der in der indischen Geschichte grausamste Bürgerkrieg mit gewalttätigen Massakern zwischen Hindus und Muslimen eingeleitet, wodurch die Teilung Indiens gerechtfertigt wurde und unausweichlich schien. Damit hat die britische Kolonialmacht ihr erstes Ziel erreicht.

Um auch bei der künftigen Gestaltung des Subkontinents ihren gewichtigen Einfluss zu erhalten, entsandte Großbritannien Anfang 1947 Lord Mountbatten als Vizekönig nach Indien, „um den Subkontinent in kürzester Zeit zu teilen.“ Nach dem Mountbatten-Plan sollte innerhalb von lediglich hundert Tagen die Teilung Indiens vollzogen sein. Diese wurde am 15. August 1947 realisiert und verursachte ein unvorstellbares Chaos. Sie löste eine bis dahin eine unbekannte Fluchtbewegung von insgesamt 16 Millionen Menschen aus, da die Grenze zwischen den neu entstandenen Staaten, der Indischen Union einerseits und Pakistan andererseits, willkürlich inmitten des von verschiedenen Völkern besiedelten Punjabs gezogen wurde. Und nun flohen beiderseits der Grenze die Hindus nach Indien und die Muslime nach Pakistan.

Während die indische Regierung unterschiedliche religiöse Bekenntnisse der Bevölkerung anerkannte, die weder die Teilung Indiens noch die spätere Teilung Kaschmirs rechtfertigen konnten, begründete die am 14. August 1947 neu aus der Taufe gehobene pakistanische Regierung ihre Existenz allein auf religiöser Grundlage und erhob den Anspruch, Repräsentantin aller Muslime auf dem indischen Subkontinent zu sein, darunter auch der muslimischen Mehrheit von über 70 % im Fürstenstaat Jammu und Kaschmir.

Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, fielen, veranlasst durch pakistanische Stellen ab dem 22. Oktober 1947, „einige Tausend dem Islam anhängende Stammeskrieger von der pakistanisch-afghanischen Grenze kommend in den bereits von Unruhen erschütterten Westen von Jammu und Kaschmir ein. Sie verwüsteten und plünderten die Orte, die an ihrem Weg lagen, und gelangten am 25. Oktober 1947 bis kurz vor die Hauptstadt Srinagar.“ Diese Angehörige der Bergstämme, die zuvor nur leichte Handfeuerwaffen kannten, setzten bei ihrer Invasion in Jammu und Kaschmir Tanks, Geschütze und sogar Flugzeuge ein. Von wem sie diese schweren Waffen erhalten hatten, darüber braucht man nicht allzu lange zu spekulieren.

Dieses Ereignis war die Geburtsstunde des nun seit über 72 Jahren währenden Konflikts, der seit 1947 zwischen Indien und Pakistan zu vier Kriegen geführt hat, drei davon im Streit um die strategisch wichtige Himalaja-Region Kaschmir, dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist.

Um die Integrität seines Landes zu gewährleisten, erklärte der Maharadscha von Jammu und Kaschmir, Hari Singh, am 26. Oktober 1947 den Beitritt seines Landes zur Indischen Union und bat in einem Schreiben die indische Regierung um militärische Unterstützung. Diese Beitrittserklärung wurde vom Vizekönig Mountbatten am 27. Oktober formal angenommen, und er riet dem indischen Premierminister Nehru, den Beitritt anzuerkennen. Auf dieser Grundlage leistete die indische Regierung Militärhilfe. Dieser erste indisch-pakistanische Krieg dauerte bis Ende 1948.

Seit Januar 1948 war der UNO-Sicherheitsrat mit dem Konflikt befasst. Auf Basis der Resolution der United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) vom 13. August 1948 wurde am 1. Januar 1949 ein Waffenstillstand vereinbart, der eine Demarkationslinie auf der Höhe der zufälligen Kampflinien zwischen den Truppen beider Länder zog. Damit war auch die Teilung Kaschmirs vollzogen, die weitere indisch-pakistanische Kriege zur Folge hatte.

Über den künftigen Status Kaschmirs sollte ein Plebiszit entscheiden. Dies geht aus einem Schreiben von Mountbatten an den Maharadscha Hari Singh hervor, auf das sich Pakistan seitdem immer wieder beruft. Dort heißt es „die Frage des Beitritts sollte in Übereinstimmung mit den Wünschen des Volkes des Staates entschieden werden, es ist der Wunsch meiner Regierung, dass, sobald Recht und Ordnung in Kaschmir wiederhergestellt und sein Territorium von dem Invasor gesäubert ist, die Frage des Beitritts […] unter Einbeziehung des Volkes entschieden werden sollte.“

Abgesehen davon, dass von Recht und Ordnung in Kaschmir bis heute kaum die Rede sein kann und die Voraussetzung für ein Referendum ebenso wenig erfüllt ist, „wurde Nehru klar, dass eine Volksabstimmung zugleich die eine oder andere Staatsidee antasten musste. Entschieden sich die Moslems Kaschmirs für Pakistan, musste dies zugleich die Idee des säkularen Staates treffen; entschieden sie sich für Indien, wurde damit die Existenzberechtigung Pakistans verneint.“

Was macht eigentlich das Großfürstentum Kaschmir, das vor fast 400 Jahren vom Mogulkaiser Jahangir als „Paradies auf Erden“ gepriesen wurde, in unserer Zeit so begehrenswert? Abgesehen von bedeutenden Bodenschätzen, wie Steinkohle, Erdöl, Eisenerze, Nickel, Blei, Kupfer, Gold, genügt ein Blick auf die Landkarte, um dessen geostrategische Bedeutung zu erkennen. Das Land bildet einen Knotenpunkt, da es an die VR China, Indien, Afghanistan und Pakistan grenzt und nur durch einen schmalen Streifen von Kasachstan getrennt ist. Hier liegt die eigentliche Bedeutung dieses Landes und eine der Ursachen für die Entstehung des Konflikts.

Antagonistische außenpolitische Orientierungen

Während Indiens Außenpolitik auf die Unterstützung des Befreiungskampfes der noch kolonialen Länder sowie Blockfreiheit ausgerichtet war, und indische Politiker schon im März 1947, d. h. am Vorabend der Unabhängigkeit, in Neu Delhi zu der historischen „Asian Relations Conference“ eingeladen hatten, um über die Probleme des weiteren antikolonialen Kampfes und die Beziehungen zwischen den jungen Nationalstaaten zu beraten, leitete die pakistanische Regierung von Anfang an eine eindeutig westorientierte Außenpolitik ein. Deutlicher konnte der Kontrast nicht mehr werden, als am 8. September 1954 Pakistan Mitglied der von den USA ins Leben gerufenen South-East Asia Treaty Organization (SEATO) wurde, Indien aber zum Initiator und Gründungsmitglied der Nichtpaktgebundenen Staaten und der Konferenz von 29 souveränen afrikanischen und asiatischen Staaten, die vom 18. bis 24. April 1955 in Bandung (Indonesien) stattfand.

Die pakistanische Regierung legte noch eins drauf, als sie am 23. September 1955 ihren Beitritt zum von Großbritannien geführten Bagdadpakt erklärte. Pakistan hoffte mit der Unterstützung der Central Treaty Organization (CENTO) von einer Position der Stärke aus den Kaschmir-Konflikt lösen zu können. Hätte die indische Regierung von ihrer „unmoralischen Blockfreiheitpolitik“, wie es der damalige US-Außenminister John Forster Dulles drastisch formulierte, Abstand genommen und wäre sie den vom Westen gegründeten Bündnissen in irgendeiner Form beigetreten, hätte es in den letzten 72 Jahren womöglich überhaupt keinen Kaschmir-Konflikt gegeben.

Die Proklamation Pakistans zur Islamischen Republik am 23. März 1956 sollte dem Anspruch, legitimer Vertreter der in Kaschmir lebenden Muslime zu sein, weiteren Nachdruck verleihen. Nachdem am 17. November 1956 die verfassunggebende Versammlung von Jammu und Kaschmir den Beitritt zur Indischen Union beschlossen und am 26. Januar 1957 eine Verfassung für Kaschmir in Kraft gesetzt hatten, in der „festgelegt [ist], dass ganz Kaschmir ein integrierender Bestandteil der Republik Indien ist,“ wurde am 27. Januar auf der Grundlage von Art. 370 der bereits 1947 vollzogene Beitritt zur Indischen Union verfassungsrechtlich sanktioniert.

Die ökonomische und innenpolitische Krise in Pakistan veranlasste das Militär am 27. Oktober 1958 unter Führung von Feldmarschall Ayub Khan zu einem Putsch. Die Militarisierung von Pakistans Innen- und Außenpolitik und die Aufnahme Kaschmirs in die Indische Union verschärften die Spannungen um die Kaschmir-Frage, die im September 1965 in dem zweiten indisch-pakistanischen Krieg kulminierten. Während die VR China Drohungen an die Adresse Indiens richtete, vermittelte der Ministerpräsident der Sowjetunion Alexej Kossygin in Taschkent zwischen den Konfliktparteien. Als Ergebnis schlossen der indische Ministerpräsident Lal Bahadur Shastri und Pakistans Präsident Ayub Khan einen Waffenstillstand und einigten sich nach Artikel I der „Tashkent Declaration“ vom 10. Januar 1966 auf eine gewaltsame Konfliktlösung zu verzichten. Auf der Grundlage des Artikels XI der „Tashkent Declaration“, worin weitere Treffen auf höchster Ebene vereinbart worden waren. Da diese jedoch nicht zustande kamen, fand vom 1. bis 2. März 1966 in Rawalpindi eine Begegnung der Außenminister Indiens und Pakistans statt. Obwohl danach intensive diplomatische Aktivitäten folgten, konnte die Spannung zwischen beiden Ländern nicht minimiert werden. Stattdessen polemisierten die Kontrahenten gegeneinander und warfen sich gegenseitig vor, dafür verantwortlich zu sein, dass es nicht zur Lösung des Kaschmir-Konfliktes gekommen sei. Der Bau einer Straße mit Hilfe der VR China im Jahre 1969, die Kaschmir mit Sinkiang verband und welche die strategische Lage dieses Raumes zu Ungunsten Indiens veränderte, sowie die Verhaftung einiger propakistanischer Politiker in Kaschmir verschärften die Spannungen weiter. Durch die Entführung eines Flugzeugs der Indian Airlines Ende Januar 1971 durch separatistische Kaschmiri nach Lahore (Pakistan), wo die Maschine in die Luft gesprengt wurde und die Entführer dort Asyl erhielten, erreichten sie einen vorläufigen Höhepunkt. Das Jahr 1971 war in der Geschichte der pakistanisch-indischen Beziehungen von mangelnder Dialogbereitschaft und durch gegenseitiges diplomatisches Anprangern geprägt. Dies führte gegen Ende dieses Jahres (3. Dezember 1971) zum dritten indisch-pakistanischen Krieg, der schon am 16. Dezember 1971 zur Niederlage Pakistans und zur Abtrennung Ostpakistans als unabhängigem Staat unter dem Namen Bangladesch führte.

Diese Kriegsereignisse verhinderten die zuvor vereinbarten weiteren Treffen auf höchster Ebene. Erst mit der Amtsübernahme Zulfikar Ali Bhuttos am 20. Dezember 1971 als neuen Ministerpräsident Pakistans kam es vom 28. Juni bis 2. Juli 1972 zu einem Zusammentreffen zwischen der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi und Z.A. Bhutto in Simla (Nordindien). Auch im am 2. Juli 1972 von I. Gandhi und Z.A. Bhutto persönlich unterzeichneten Abkommen von Simla verpflichteten sich beide Seiten, den Kaschmir-Konflikt auf friedlichem Weg lösen zu wollen. Jedoch kaum aus Simla zurückgekehrt, leitete Z.A. Bhutto das pakistanische Atomprogramm ein, wovon er sich einen Abschreckungseffekt gegenüber Indien erhoffte. Dadurch würde es zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten Pakistans kommen. Es dauerte jedoch gerade zwei Jahre, bis auch Indien nachzog und 1974 einen atomaren Sprengsatz zündete. Nun wissen wir es definitiv: Beide Länder haben im Mai 1998 insgesamt elf unterirdische Atomtests (Indien am 11. und 13. fünf, und Pakistan am 28. und 30. sechs) durchgeführt.

Der Kaschmir-Konflikt ist in mehrfacher Hinsicht für die Anrainerstaaten, aber auch für die internationale Politik von erheblicher Brisanz.

Erstens: Im Herbst 1959 führte die VR China einen Nacht-und-Nebel-Krieg gegen Indien, besetzte den nordöstlichen Teil von Jammu und Kaschmir. In einem weiteren Grenzkrieg besetzte die VR China 1962 beträchtliche Gebiete im Nordosten Indiens, gliederte sie in seine Provinz Sinkiang ein und nannte sie einfach „Aksai Chin“.

Als am 16. Oktober 1964 die VR China ihre erste Atombombe zündete, war sie nicht mehr bereit, über die Rückgabe von „Aksai“ an Indien zu verhandeln. Diese Situation verstärkte die Position Pakistans, das mit der VR China während sämtlicher bürgerlicher und Militärregimes verbündet blieb, gegenüber Indien und implizierte die Verschärfung weiterer Konflikte sowie eine defensivere künftige Haltung Indiens in der Kaschmir-Frage. Außerdem sind dadurch nicht mehr nur die neuen Atommächte Indien und Pakistan im Kaschmir-Konflikt involviert, sondern auch eine weitere Atommacht, die VR China.

Zweitens: Während die indischen Regierungen sich an die Vereinbarungen von Taschkent und Simla hielten, provozierten die pakistanischen Regierungen Indien u.a. mit der Forderung der Durchführung eines Plebiszits, um den Kaschmir-Konflikt weiter am Kochen zu halten. Denn „obwohl es zynisch klingen mag, es war und ist der alles andere überlagernde Konflikt mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen Kräfte zusammengehalten hat.“ Abgesehen davon, dass Pakistan zu keinerlei Forderungen an Indien legitimiert ist, und durch den Beitritt Kaschmirs zur Indischen Union ein Plebiszit obsolet geworden ist, haben indische Regierungen betont, dass, wenn Pakistan sein Militär aus Kaschmir abziehen würde, sie bereit wären, eine Volksbefragung durchzuführen, obwohl diese nicht nur das Prinzip des säkularen Staates, dem Indien verpflichtet sei, bedrohe, sondern als Dominoeffekt die staatliche Einheit der Indischen Union gefährden könnte.

Die aktuelle Situation und ihre Ursache

Am 14. Februar 2019 hatte ein Attentäter in der Nähe von Srinagar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, einen mit großen Mengen Sprengstoff beladenes Auto in einen Bus gelenkt. Dabei wurden über vierzig indische Soldaten getötet. Das war einer der verheerendsten Anschläge im indischen Teil Kaschmirs seit 30 Jahren. Im Jahre 2008 hatten auch islamistische Extremisten die indische Finanzmetropole Mumbai tagelang mit Terror überzogen. Zu dem neuesten Attentat bekannte sich die in Pakistan ansässige islamistische Terrororganisation „Jahish-e Mohammad“ (JeM). Nach dem Anschlag begann die indische Armee mit einem Großeinsatz gegen die JeM. Dabei entdeckten sie ein Versteck der Terroristen in der Nähe des Dorfes Pinglan auf dem Territorium Pakistans außerhalb Kaschmirs. Bei zwölfstündigen beiderseitigen Feuergefechten starben sieben Menschen, darunter vier indische Sicherheitskräfte. Als die von Pakistan aus operierende JeM sich zu dem Terrorangriff offen bekannte, bombardierte die indische Luftwaffe ein Ausbildungscamp der JeM, das sich auf dem pakistanischen Territorium befindet. Daraufhin schoss die pakistanische Armee einen Kampfjet der Inder ab und nahm den Piloten fest. Kurz danach hat der pakistanische Premierminister Imran Khan angekündigt, den Piloten freizulassen. Beobachter interpretierten dies als ein Schuldbekenntnis bzw. Wiedergutmachungsakt Pakistans, um die Krise zu entschärfen, wie die Zeitung DAWN aus Karachi am 1. März 2019 bemerkte. Es ist bemerkenswert, dass dies das erste Mal ist, dass seit dem Beginn des Kaschmir-Konfliktes die Arme Militärschläge auf der pakistanischen Seite öffentlich zugibt.

Die indische Regierung erwartet, den Führer von JeM, Maulana Masood Azhar, auf die Terrorliste der Vereinten Nationen zu setzen und beschwert sich dabei, dass die Regierung der VR China als Vetomacht diese Maßnahme blockiert. Die staatlich gelenkte „Global Times“ in Peking hat in einer Stellungnahme von der indischen Regierung „solide Beweise“  gegen Azhar verlangt. Das ist im Grunde genommen eine durchsichtige Ausrede. Denn die JeM bezichtigt sich selbst, den Terrorakt begangen zu haben. Darüber hinaus ist die JeM in Pakistan offiziell verboten. Aber ihre Anführer bleiben im Lande unangetastet. Indische Sicherheitsexperten heben immer hervor, dass JeM nach wie vor durch den pakistanischen Militärgeheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) beschützt werde. Nach Darstellungen der indischen Regierung kämpfen mehrere extremistische Gruppen, die vom ISI gesteuert werden, gegen den indischen Staat. Beobachter aus der Region bestätigen, dass JeM zu jenen islamistischen Tarnorganisationen gerechnet wird, „die vom pakistanischen Militär und seinen Geheimdiensten finanziert, ausgerüstet, ausgebildet und mit Anschlägen in Nachbarstaaten beauftragt werden.“ JeM wäre allein niemals in der Lage, autonom zu agieren und solche Terroroperationen durchzuführen, betont der Antiterror-Experte und Direktor des „Institute for Conflict Management“ Ajai Sahni. Maulana Masood Azhar war schon in den 1990er Jahren wegen terroristischer Aktivitäten in Kaschmir verhaftet worden. Als er 1990 eine Maschine der Indian Airlines entführte und nach Kandahār in Afghanistan brachte, wo damals noch die Taliban herrschten, wurde er in einem Austausch gegen die Passagiere freigelassen.

Schon auf die Drohung Indiens hat der pakistanische Ministerpräsident Imran Khan angekündigt, seine Armee werde nicht zögern, zurückzuschlagen.

In Indien wird in April 2019 ein neues Parlament gewählt. Bis vor kurzem galt der amtierende Ministerpräsident Narendra Modi von der „Bharatiya Janata Party“ (BJP) als Sieger. Aber inzwischen hat die oppositionelle Kongress Partei aufgeholt. In dieser heißen Phase des Wahlkampfest will Modi die nationalistische Karte spielen und ließ der Armeeführung freie Hand. Wenn überhaupt, wäre eine Militärreaktion Indiens im Jahre 2008 angebracht gewesen, als die islamistischen Extremisten die Finanzmetropole Mumbai terrorisierten. Dennoch, wer die Verantwortung für die jüngste Eskalation „des verfahrenen Konflikts zwischen den beiden südasiatischen Atommächten Neu-Delhi zuschreibt, der zäumt das Pferd von hinten auf.“ Die Eskalation des Konflikts zwischen Indien und Pakistan scheint vorerst abgewendet zu sein. Eigentlich haben beide Seiten kein Interesse an einer Zuspitzung des Konflikts, weil sie wissen, was sie in sich birgt. Darüber hinaus gehen einige Analysten davon aus, dass Pakistan am Rande eines Staatsbankrotts steht und einen Krieg mit Indien gar nicht verkraften würde. „Doch Pakistans staatlich gelenkter Terrorismus wird weitergehen.“ Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan hat bis jetzt keine nennenswerte „Stabilität geschaffen, sondern konventionelle Kriege und hybride Kriegführung begünstigt. Darunter fällt Pakistans systematischer Einsatz islamistischer Terroristen für Attacken gegen Indien.“ Das ist eine taktisch genau kalkulierte Politik Islamabads. Denn islamisch extremistische Terrorgruppen werden als „Handlanger […] dem bankrotten Pakistan eine kostengünstige irreguläre Kriegführung, die Indien trotz seiner atomaren und konventionellen Übermacht ins Hintertreffen versetzt, [ermöglichen]. Militär und Geheimdienste erhalten den Konflikt mit dem größeren Nachbarn aufrecht, weil er den Machtanspruch der Generäle über den pakistanischen Staat zementiert. Und er dient der Vergeltung: Kaschmir, Ursprung der Feindschaft, ist nicht der einzige wunde Punkt der Pakistaner. Indiens militärische Unterstützung für die Abspaltung Bangladeschs 1971, die Pakistan mit einem Schlag halbierte, hat das Militär bis heute nicht verschmerzt.“

Am 27. Februar 2019 berichtete die pakistanische Zeitung „The Nation“ über die Verhaftung von 44 verdächtigen Männern, die mit dem Terrorakt von 14. Februar 2019 in Zusammenhang stehen sollen. Allerdings scheint die Regierung in Islamabad unentschlossen, den Führer der Terrorgruppe, Maulana Moaood Azhar, festzunehmen. Interessanterweise stehen die Namen von einigen Verhafteten in einem von der indischen an die pakistanische Regierung übergebenen Dossier. Indien identifizierte auch „Lager der Terrororganisation Jaishe-e Mohammad im Nachbarland.“ Shehryar Khan Afridi, Staatsminister im pakistanischen Innenministerium, verkündete, dass seine Regierung entschlossen sei, „den Rechtsstaat durchzusetzen, fänden sich Beweise gegen die Männer.“ Die JeM hat sich ja selbst zu dem Terrorakt bekannt. Bessere Beweise kann es ja nicht geben. Die Inder sind skeptisch und sehen die Festnahmen eher als „kosmetische Schritte“. Der indische Anti-Terror-Experte Ajai Sahni prognostoziert, dass „die Verwundbarkeit Indiens durch Terrorangriffe“ auch in der Zukunft weitergehen würde.

Schon früher gingen ausnahmslos alle Experten und Beobachter der Verhältnisse davon aus, dass die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan jederzeit möglich ist. Im Jahre „1999 hätte Pakistan inmitten einer Auseinandersetzung mit Indien schon einmal fast seine Atomwaffen in Stellung gebracht.“ Ein Atomkrieg „wäre nicht nur für beide Nachbarländer, sondern für die ganze Welt eine Katastrophe“, warnt die türkische Zeitung Milliyet am 1. März 2019. Pakistan fühlt sich im konventionellen militärischen Bereich Indien gegenüber unterlegen. Deswegen hat Islamabad vor einigen Jahren eine Doktrin der „kompletten Abschreckung“ entwickelt, nämlich die „full-spectrum deterrence“, die einen nuklearen Erstschlag beinhaltet. Wobei Indien den Ersteinsatz von Atomwaffen als Antwort auf einen konventionellen Angriff seitens Pakistans ausschließt.

Die Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts wird deshalb immer dringlicher! Der damalige indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee hatte den pakistanischen Militärmachthaber Parvez Musharaf am 24. Mai 2001 zu Friedensgesprächen eingeladen, wobei es in erster Linie um eine Lösung des Kaschmir-Konflikts gehen sollte. Musharaf nahm die Einladung in einem Brief an den indischen Ministerpräsidenten vom 29. Mai 2001 offiziell an und wies darin auf die Bedeutung guter Beziehungen für die wirtschaftliche Entwicklung hin. Er griff die Kernaussage des indischen Ministerpräsidenten auf, indem er die Armut als den gemeinsamen Feind beider Völker bezeichnete. Pakistan sei an einem stabilen, prosperierenden Indien, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebe, interessiert und sei bereit, über den Kaschmir-Konflikt hinaus auch über alle anderen ungeklärten Fragen in den bilateralen Beziehungen zu sprechen. Zu hoffen bleibt, dass beide Seiten ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um den seit mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Konflikt friedlich beizulegen. Sind die Kontrahenten nicht in der Lage oder nicht gewillt, wären die „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ sowie die Blockfreien Staaten, den auch Indien und Pakistan angehören, geeignete Vermittler.

Vorschläge für eine politische Lösung des Konflikts

Zunächst müssen alle am Konflikt beteiligten Parteien ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen bereit sein. Auf der Tagesordnung sollten folgende Punkte stehen:

1. Die völlige Demilitarisierung ganz Kaschmirs, d. h. des von der VR China und des von Pakistan besetzten sowie des von Indien regierten, aber von Pakistan beanspruchten Teils als Voraussetzung für eine mögliche Lösung des Konflikts.

2. Es muss sichergestellt werden, dass alle Beteiligten absolute Zurückhaltung bezüglich Kaschmirs an den Tag legen und keine weiteren Versuche unternehmen, die Situation in Kaschmir zu ihren Gunsten zu verändern.

3. Vertrauensbildende Maßnahmen, wie Gefangenenaustausch, Reiseerleichterungen (z. B. Aufhebung der Visapflicht) für alle Kaschmiris, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit, gemeinsame Radio- und Fernsehsendungen usw. sollten durchgeführt werden. Vordringlich muss auch die Lösung der enormen sozialen Probleme, die nicht zuletzt durch den Konflikt verursacht worden sind, ernsthaft in Angriff genommen werden.

In weiteren Verhandlungen sollte es um die Wiedervereinigung der getrennten Teile Kaschmirs gehen, eingeschlossen die Rückgabe des von der VR China besetzten Gebietes, um die Vereinbarung einer Autonomie für ganz Kaschmir zunächst im Rahmen der Verfassung der Republik Indien zu ermöglichen. Am Ende sollte ein Referendum unter internationaler Aufsicht über die Selbstbestimmung Kaschmirs stattfinden. Ein Referendum am Anfang dieses ganzen Prozesses in einem von islamischen Fundamentalisten jahrelang vergifteten Klima würde hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Separierung Kaschmirs von Indien unter der Führung dieser Islamisten zur Folge haben, zweifelsohne unter starker Abhängigkeit von Pakistan. Dies würde keinesfalls zum Frieden in Kaschmir und auf dem indischen Subkontinent beitragen. Im Gegenteil, Pakistan würde sich gegenüber Indien in einer Position der Stärke befinden, was Gefahren in sich birgt und eine mögliche dauerhafte Lösung des Konfliktes eher erschweren würde. Daher muss von solchen verfrühten Maßnahmen dringend abgeraten werden.

4. Wenn es zurzeit auch unrealistisch erscheinen mag, sollte doch im Ergebnis der vertrauensbildenden Maßnahmen langfristig auf eine Union zwischen Afghanistan, Indien und Pakistan hingearbeitet werden. Denn alle drei Länder haben eine zumindest seit der Mogulherrschaft gemeinsame Geschichte, Kultur und zum Teil auch Religion. Eine solche Union könnte sowohl den afghanisch-pakistanischen Grenzkonflikt im Stammesgebiet (Duran-Vertrag) sowie den Kaschmir-Konflikt lösen und die Region für längere Zeit stabilisieren.

Vermittler in einem Verhandlungsszenario, in Punkt 1 bis 3 dargelegt, wären m. E. am besten die Blockfreien Staaten und die Konferenz der Islamischen Staaten, die als relativ neutrale Akteure von beiden Seiten akzeptiert würden.

Der Ruf der kaschmirischen Völkerschaften nach Frieden ist unüberhörbar. Deren Freude über eine erneute faktische Grenzöffnung zwischen Indien und Pakistan am 21. Oktober 2008 war überwältigend. Es ist an der Zeit, diesem Wunsch endlich zu entsprechen.

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Matin Baraki ist ein deutsch-afghanischer Politikwissenschaftler und Dolmetscher. Er studierte in Kabul Pädagogik und arbeitete als Lehrer. 1974 ging er in die BRD und promovierte 1995 an der Philipps-Universität Marburg. Er nahm danach als Politikwissenschaftler Lehraufträge an den Universitäten Marburg, Gießen, Kassel, Münster und der FH-Schule Fulda wahr.

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Dieser Beitrag erschien zuerst bei International – Die Zeitschrift für internationale Politik

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