STANDPUNKTE • Die multinationale Historie Englands und der Brexit (Podcast)

Von Michael Griesemer.

Der Historiker verzweifelt schnell bei der Suche nach der Fundierung eines “englischen” Nationalgefühls – wenn es sich nicht im Kern nur mit kolonialer Großmachts-Nostalgie nach Übersee übersetzen lässt (statt mit einem über Jahrhunderte gereiften “Nationalbewusstsein” im eigentlichen Sinn): Ein guter Indikator für Nationalgefühl ist eine gemeinsame Sprache. Das “Englische” ist aber eine multi”nationale” Mixtur: Aus mit keltischen Klängen der bald erschlagenen Ureinwohner verfremdeten lateinischen, norddeutschen, gälischen, französischen und skandinavischen Worten.

Es sei ihnen gelassen: Immerhin wird Englisch als offizielle Sprache auf der Insel “schon” seit Heinrichs IV. erster Thronrede auf Englisch im Jahr 1399 gesprochen. Während “England” bis dahin zu 50 % das heutige Frankreich war (oder umgekehrt – je nachdem, auf welcher Seite des Kanals man stand): Sprach, was auf der Insel lesen oder schreiben konnte, seit 1066 offiziell Französisch. Selbst König Richard Löwenherz war eines “Englischen” nicht mächtig. Was ein Nationalgefühl, andererseits, was die  Kriterien gemeinsamer Stammesgeschichte oder Herkunft anbetrifft: So haben sich – als Anfang “Englands” – aus allen 4 Himmelsrichtungen keltische Gälen, keltische Briten, Römer, Picten, Skoten, Schleswig-Holsteiner, Niedersachsen, Dänen und Norweger auf der Insel zusammengefunden, um sich als Gründungsbaggage dieser seltsamen “Nation” gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.

Nicht, dass das mit Deutschlands oder Frankreichs “Nationsbildung” – im Prinzip – so sehr anders wäre: Wir alle sind multi “völkische” Konglomerate in den Anfängen. Nirgendwo in Westeuropa als auf dieser Insel aber scheint sich ein derartiger “National”stolz gehalten zu haben, bei dem an “National-” gar nichts richtiges zu fassen ist – egal, auf was dabei eigentlich: Hauptsache “-stolz”. Es bleibt nur Stolz auf Großmachtsvergangenheit zur Erklärung – oder der Wunsch, selbst bei mäßigen und schlechten oder mörderischen Kulturleistungen sich für die Welt noch einfach als “ganz besonders” vorauszusetzen.

Und in diesen beiden Belangen fällt einem in Europa außer England derzeit eigentlich nur der so geartete “Osmanenstolz” der Erdogan-Türkei ein, am gegenüber liegenden anderen Ende Europas. Alles, was Kulturen wie bspw. die letztere kennzeichnet, ist: Dass sie zu einer gegebenen Zeit 1) Rüstungserlegenheit für Eroberungen entwickeln, darum 2) bald alles mit Goldprunk kunsthandwerkeln, tapezieren und schreiben, und 3) eine eigene „Erwähltheit“ dabei aus einer mehr oder minder absurden Religion ableiten. Globale Massenware an Unbedeutsamkeit, sobald sie (wie jede Kultur) unter- oder in einer anderen aufgehen.

Sich andererseits nur auf eine “jahrhundertealte Geschichte” zu berufen für ein solches Nationalpathos – mit verklärten Königen und Ahnen, Säbelrasseln und Tschindarassabumm: Damit schafft es bis zum Kongo und zur Walachei sogar jede trommelnde Kleinkultur, sich als geschichtsveredelt-elitärer als jedes andere Volk auf der Erdkugel zu betrachten. Die einzige Erklärungsmöglichkeit für ein englisches Nationalgefühl bleibt somit auch nach weiterer historischer Lage der Dinge (siehe unten) die ringsum angriffsoffene Insulaner-Situation: Ein soziologischer Prozess dann aber eigentlich wie das Stockholm-Syndrom. Oder der Zustand in einem ausgesetzten Boot mit 10 Mann, die sich eine Zahnbürste und eine halbe Flasche Schnaps teilen müssen: Verschieden und einander eigentlich spinnefeind, erleben sie “Schicksalsbrüderschaft” nur, solange rundherum Gefahren tosen und ein wellenhohes Nichts.

Schon schlimm genug, dass sich das “ur-englische” Stonehenge – nach Zahnabrieb-Proben der dort verscharrten Erbauer, was denn ihre heimische Nahrung gewesen sei – als prähistorisches bayrisches Bierzelt entpuppt hat. Noch schlimmer aber für jeden nationalen Brexitianer, dass selbst Queen Elisabeth II. Pfälzerin ist, weil nach dem act of settlement alle Könige Englands von der Tochter des Pfälzer Kurfürsten Friedrich aus seiner Ehe mit der Tochter Jakobs I. Stuart abzustammen haben. (Haus Hannover 1714 und seit 1905 dann Haus Sachsen-Coburg-Gotha – “Windsor” – kamen “dran”, weil es die Nachfahren dieser Tochter nach Norddeutschland verschlagen hatte). Barone namens “Esterhaze” kamen aus Ungarn, “Stewart” aus Schottland, und “Wallace” aus der gälischen Enklave Wales ins Land, alle M(a)c – Soundso aus Irland oder Schottland. Aber selbst englisches Adels-Urgestein wie das Geschlecht derer von “Mountbatten” – der Prominenteste wurde kürzlich auf seiner Segelyacht von feindlichen Iren in die angestammten Jagdgründe über diesen Berg geschickt – stammt aus Battenberg in Südwestdeutschland.

Allerdings sind die Engländer schon seit der Besiedelung ihrer nassen Insel ab anno 450 durch die schleswigschen Angeln und die norddeutschen Sachsen deutscher, als sie wissen wollen. (Drum nennt man sie ja auch “Angelsachsen”, und “Engl”and kommt von “angl”ia). Die keltischen “Briten” gibt´s in Wirklichkeit seit dieser Zeit schon überhaupt nicht mehr. Allenfalls wurden zuweilen noch welche im nordwestlichen Grenzgebiet zu Schottland geschossen.

Um die Spöttelei vom Kontinent über die nationalpatriotischen Brexitianer auf der Insel ein bißchen weiter zu treiben: Selbst das Mittelalter-Englisch ihres Nationalliteraten Geoffrey Chaucer klingt und liest sich verdammt deutsch (“he spand de oxen foor de plough”). Meistens bekamen sie ihre Könige von überall her – nur nicht aus England: Wohl aus der Erfahrung, dass sie ihre Könige nach kurzer Zeit wahlweise wegsperren oder meucheln.

Man musste wohl arglos aus dem Ausland kommen, um sich klaren Verstandes auf diesen Thron zu setzen. (Nirgendwo lebten Könige quer über die westeuropäische Geschichte kurzlebiger als in England. Die ihnen so lächerlich erscheinenden akribisch regel- und obrigkeitsfrommen Deutschen hingegen metzelten mit ihrem Albrecht I. nur einen einzigen): Wilhelm I. “der Eroberer” mit seiner Dynastie 1066-1154 kam bekanntlich aus der Normandie (sogar aus Skandinavien, genau genommen); die Plantagenets dann 300 Jahre lang kamen aus Anjou, die Tudors reisten aus Frankreich an. Und danach kamen (bis zu den deutschen Häusern ab 1714 bis heute) Schotten auf den Thron – die 6 Stuarts inclusive Mary und Anne – sowie ein Niederländer (Herr Oranjen).

Von einer gewissen Mordfreude gegen ihre Könige wurde schon gesprochen. Man grub sogar schon mit Wollzeug erstickte 11-13 -jährige Kronprinzen eingemauert unter Treppenabsätzen aus (die “ermordeten Prinzen vom Tower”). Wenn man den Engländern überm Teich dabei aber etwas lassen muss an positiverem Nationalprädikat – dann: Dass dem eigenen König als Antidemokraten den Kopf abzuschlagen (Charles I.,1649) nebst anschließender Diktaktur der Revolutionäre dann (Cromwell-Diktatur) in England – wie eine Vorlage zur 1789er Französischen Revolution – gut 150 Jahre vor der Enthauptung Ludwigs XVI. in Frankreich und der anschließenden Jakobiner-Diktatur von Robbespierre datiert.

Was man ihnen als nationale Besonderheit im Positiven zuerkennen muss, ist: Dass sie (neben dem Staat Polen-Litauen) als erste in Europa eine herrschaftskontrollative parlamentarische Verfassungsdemokratie wieder seit den alten Griechen entwickelt hatten: Seit der “Magna Charta” 1215, welche die Adligen damals König John abgepresst hatten, bis schließlich in der Vollendung des Parlamentarismus gegen Monarchengewalt 1689 durch die “Bill of Rights”. Und damit wiederum ein anderthalbes Jahrhundert vor Kontinentaleuropa inklusive Frankreich und Deutschland (dort erst ab 1848).

Doppelgesichtiger wird es wieder mit ihrer – puritanischen – Freiheitsbewegung: Dingen wie dem Freihandelssystem, dem Ende des Sklavenhandels auf ihr biblisches Betreiben oder der sehr unchristlichen Witwenverbrennung in Britisch-Indien, stehen in der fürchterlichen puritanisch-viktorianischen “Abolistenbewegung” die sozialdarwinistsche Kolonialtheorie, die weltweite Jagd auf Heiden mit ihren einheimischen Kulten durch ihre protestantischen Missionare gegenüber, und auf bspw. sich prostitutierende Frauen oder “Sodomiten” wie z.B. Homosexuelle in ihren Kolonien – bis nach China und Neuseeland.

Samt ihrer Kriminalisierung weltweit in den englischen Kolonie-Staaten – selbst nach deren Unabhängigkeit seither, und inzwischen dort nicht einmal mehr bekannt als noch immer konserviertes Kolonialerbe in diesen Ländern: Englisch implantiertes Viktorianer-Recht in den Rechtssystemen.

Beispiel Arabische Welt: Dem Islam wie seinen “Fundamentalisten” gab die englische Besatzung zum Schaden der Welt erst ihr heutiges puritanisches – altestamentarisch-mörderisches – Gesicht: Intoleranter Sittenstrenge damals als dem“Erfolgsrezept” der bibelfesten Europäer für ihre Überlegenheit nachzueifern. (Der europäische Begriff “Fundamentalismus” war ursprünglich – 1910 – denn auch die Selbstbezeichnung der britannischen Presbyterianer!). Die sittenlosen Muselmannen galt es damit zu “zivilisieren”. So verschwindet punktuell ab 1850 plötzlich z.B. jede erotische Literatur aus dem arabischen Volks- und religiösen Schrifttum bis dahin. Erst seit der “englischen” Zeit hängt man in der islamischen Welt überhaupt erst “Homosexuelle” nach der Scharia an Baukränen auf (Todesstrafe dafür in England!): Vom sunnitischen Saudi-Arabien heute bis zum schiitischen Iran. (Zuvor in der islamischen Geschichte sind gegen solche Menschen zu meiner großen Überraschung nur ganze drei Prozesse bekannt – und nicht wegen “Homosexualität”, sondern wegen Ehebruchs verheirateter Männer mit einem Mann).

Oder: Englische Ladies, die damals durch muslimische Lande reisten, schrieben ihrerzeit noch neidisch nach Hause, wieviel mehr Freiheiten die islamische Frau in ihrer Ehe wie auch öffentlich genoß, im Vergleich zu ihren Genossinen zuhause im England der Queen Victoria. Ihre “Industrielle Revolution” im selben 19. Jahrhundert scheint der Welt, wie sie heute aussieht, auch nur mindestens soviel Arbeiter-Elend, motorisierte Kriege, Uniformität und Hässlichkeit beschert zu haben wie Vorteile, für die man sie in Kauf nahm.

Nun wieder weniger erdenschwer, noch etwas weiter in der Ironie, wo sie 1916 doch sogar des Deutschen liebste Ausstaffage – den deutschen Schäferhund – von “German Shepard” in “Alsatian” umgetauft haben: Als hätten wir ihnen dunnemals nicht ihren liebsten König Richard Löwenherz aus der Pfalz gegen vergünstigten Aufpreis rückexportiert (12. Jahrhundert). Als hätten wir nicht in schönster Eintracht ihren Hundertjährigen Krieg gegen Frankreich mitgeschlagen (15. Jahrhundert). Als hätte Prinz Eugen nicht gemeinsam mit Marlborough Türken und Franzosen in ihr Land zurückverwiesen (Ende 17. Jahrhundert).

Oder Blücher nicht mit Wellington in Waterloo Napoleon auf St. Helena entsorgt (1815). Als hätten nicht Händel, Marx und Heinrich Heine ebenso produktive Aufnahme bei ihnen gefunden, wie ihre Philosophen Ockham und John Duns “Scotus” dunnemals bei uns. Da wirft man u n s weltweit vor, wir hätten die “Reformation” ausgeheckt (“Hus”, “Luther”) – während der Anstifter der beiden (Pater Wyclif – 50 Jahre vor Jan Hus bereits) in England hockte. Undank ist Europas Lohn, und kurz nur das historische Gedächtnis! Über drei Generationen bis maximal zum jeweils vorletzten Krieg reicht es selten zurück.

Wahrscheinlich machen die Angelsachsen den “Brexit” heute bloß, um der Rück-Evakuierung nach Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu entgehen, nachdem sie ihr Empire los sind, ihre Flotte rostet, und selbst ihre Lords keinen polnischen Taxifahrer mehr bezahlen können. Am meisten scheinen sie wohl die Klimaerwärmung zu fürchten: Weil – wenn die Insel dann unter Wasser steht – man leichter in die norddeutsche Heimat zurückwaten müsste als schwimmend nach den USA zu flüchten. Und die Dänen bzw. Skandinavier nach Norden zu – das weiß der Historiker ihrer Inselgeschichte vor 1066 – würden aus leidvollen geschichtlichen Erfahrungen mit ihnen den Teufel tun, sie nochmals in ihr Reich aufzunehmen.

Sie würden die untreuen Erben Knuts des Großen – noch dazu nach dem “Brexit” jetzt – schon bei der ersten Sichtung auf dem Nordatlantik kurzerhand und prophylaktisch versenken.

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Dieser Artikel erschien am 15.02.2019 bei: Das Milieu

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