STANDPUNKTE • Berliner Klöppelei

Ein Standpunkt von Dagmar Henn.

Klöppelspitze ist ein zartes Gewebe, das aus wenig Faden und viel Loch besteht. Das Ergebnis ist leicht zu durchschauen. Klöppelspitze scheint das Vorbild zu sein, wenn westliche Staatsorgane wieder einmal Geheimdienstgeschichten servieren, wie jüngst in Berlin.

Klar, die Skripal-Nummer war noch fragiler. Schließlich reicht es aus, einen einzelnen Moment der unterstellten Ereignisse zu visualisieren, um ein Loch zu finden, das das ganze Gewebe hinfällig macht. Zwei Personen sollen sich beim Verlassen eines Hauses am Türgriff vergiftet haben – eine erheiternde Szenerie; Person eins greift nach dem Griff, weil sie die Schlüssel in der Hand hält und das Haus verschliessen will, und Person zwei drängelt sie grob beiseite, weil sie ja auch noch unbedingt die Hand auf diesen alles entscheidenden Türgriff legen will? Jeder kann durch unmittelbare Beobachtung im eigenen Umfeld überprüfen, dass diese Szene äusserst unwahrscheinlich ist.

Man hat sich also ein klein bisschen mehr Mühe gegeben im Falle Changoschwili, allerdings bleibt das Drehbuch mangelhaft… auch wenn es sich erkennbar um das Vorspiel zum inzwischen erfolgten WADA-Beschluss handelt, der wohl das Ende der Tradition der olympischen Spiele einläuten wird (sind die US-amerikanischen Medikamente inzwischen so hintendran, dass nur noch die politische Selektion der Teilnehmer die erwarteten Siege sichert?) Die Ausweisung zweier russischer Diplomaten ist da nur undiplomatische Dekoration und dürfte vor allem dazu dienen, die Erzählung selbst zu stützen.

Aber schauen wir doch einmal auf die Details. Die Geheimdienstpressestelle Bellingcat behauptet, der Täter des Tiergartenmordes sei mit einem neuen Pass ohne biometrische Daten eingereist, und das sei ein Beleg dafür, dass der russische Militärgeheimdienst dahinter stecke. Die Leute beim SPIEGEL, die diese Behauptung verbreiten, dürften es selbst nicht glauben – warum sollte ausgerechnet ein staatlicher Dienst, der vollen Zugriff auf sämtliche Datenbanken und Papiere hat, Mitarbeiter mit provisorischen Dokumenten ausstatten?

Glaubt irgendjemand ernstlich, der BND schicke seine Leute mit provisorischen Pässen ohne Fingerabdrücke (die gibt es auch hier, mit sechs Monaten Gültigkeit) ins Ausland? Obwohl er Papiere ausfertigen kann, an denen alles, wirklich alles echt und perfekt ist, nur die Personendaten nicht? Selbstverständlich nicht.

So ein richtiger Geheimdienst kann sogar einen falschen echten Pass mit falschen oder echten Visaeinträgen liefern, der schon zwei Jahre in Gebrauch war… also warum sollte ein russischer Dienst ausgerechnet minderwertige Pässe, noch dazu mit bekannten Seriennummern, verwenden?

Ich kenne nur eine Geschichte, in der ähnlich idiotisch verfahren wurde. Das war in der BND-Zweigniederlassung in der Karlsstraße in München, in der alle möglichen Scheinfirmen angesiedelt waren; diese waren zwar jeweils mit eigenem Briefpapier ausgestattet, aber die Schreiben, die von dort verschickt wurden, trugen immer ein BND-Aktenzeichen. Nachvollziehbare bürokratische Trägheit, aber dumm wie Bolle, weil jeder, der schon einmal ausgiebiger mit Behörden zu tun hatte, weiß, dass sie sich im Aufbau ihrer Aktenzeichen unterscheiden und daran zu erkennen sind. Die russischen Dienste stehen aber nicht im Ruch besonderer Blödheit.

Viele Details schaffen nur weitere Verwirrung. Bellingcat behauptet, und die Presse wiederholt es , die bei dem Anschlag verwendete Glock 26 sei noch zu Sowjetzeiten in Estland erworben worden. Als die Glock 26 im Jahr 1995 auf den Markt kam (1), gab es die Sowjetunion aber längst nicht mehr. Der Festgenommene scheint eine andere Haartracht zu haben als der vermutlich auf Videos sichtbare Täter. Einer der ersten Artikel der SZ berichtet aber, es sei wider Erwarten keine Perücke gefunden worden, sondern nur ein Haarschneidegerät…(2) diese Information taucht seither nirgends mehr auf, überall wurde brav die erwartete Perücke gefunden. Anfangs war der Festgenommene ein russischer Tschetschene; inzwischen wird von einem Kasachen geschrieben. Und zwei Teenager, die beobachtet haben sollen, wie er das Fahrrad in die Spree warf, sollen sofort die Polizei verständigt und damit die schnelle Festnahme ermöglicht haben… nun, die Teenager, die ich so kenne, würden nicht ihr Handy zücken, weil jemand ein Fahrrad in ein Gewässer wirft…der Tatort des Mordes ist 300 Meter entfernt; den hätten sie nur gesehen haben können, wenn sie dem Mörder anschließend nachgefahren wären. Das allerdings wäre mit Sicherheit berichtet worden…

Der Tatverdächtige hatte, so die Meldung, eine größere Menge Geld (3) in seinem Hotelzimmer. Das ist der nächste verwirrende Punkt. Klar, heutige russische Dienste sind nicht mehr die der Sowjetunion, aber Sicherheitsorgane sind sehr konservativ, was grundlegende Verhaltensweisen angeht, und an diesem Punkt gibt es einen kulturellen Unterschied zwischen der russischen und z.B. der US-amerikanischen Variante.

Die Amerikaner trauen dem, den sie gekauft haben. Die Russen setzten eher auf Loyalität. Das mag damit zu tun haben, dass die US-Behörden davon überzeugt sind, die höchsten Preise zu bieten, und die russischen Mittel verglichen damit bescheiden sind; auf jeden Fall aber wäre es Unfug, jemanden mit einer doch etwas kritischen Handlung wie einem Mord zu beauftragen und diese Person dann außerhalb des eigenen Einflussbereiches herumlaufen zu lassen. Selbst wenn es einen solchen Auftrag gegeben hätte und er bezahlt würde, dann würde diese Bezahlung erst nach der Rückkehr fließen. Denn was bitte sollte den Täter davon abhalten, erst die Belohnung für die Tat einzustreichen und hinterher zusätzlich sein Wissen andernorts zu versilbern? Zudem weiß jeder, der mehr als zwei Krimis gesehen hat, dass die Bezahlung erst nach Vollzug erfolgt, der mutmassliche Täter aber vor Erreichen seiner Unterkunft festgenommen wurde (4). Wer also hat dem mutmaßlichen Täter das Geld wann übergeben? Stutzig macht hierbei auch, dass weder der Betrag noch die Währung erwähnt werden…

Gegen das Opfer gab es, so die Aussage des russischen Präsidenten Putin auf der Pressekonferenz in Paris, einen russischen Haftbefehl und ein Auslieferungsbegehren, auf das die Bundesrepublik allerdings nicht reagiert hat. Das war aber womöglich nicht der einzige Haftbefehl mit Auslieferungsbegehren, der gegen den georgischen Tschetschenen vorlag; angeblich hat auch Georgien im Jahr 2016 einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erlassen (5). Die georgische Botschaft hat sich zu dieser Frage nicht geäußert; aber die Tatsache, dass Changoschwili zum engeren Umfeld des ehemaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili gehörte und diesem in die Ukraine folgte, und dass für Saakaschwili selbst ebenfalls ein Haftbefehl existiert, macht dies nicht ganz unwahrscheinlich (6).

Georgien, das sind aber nach hiesiger Lesart die Guten; warum wurde dann ein solcher Haftbefehl ebenso ignoriert wie der russische? Obwohl der Asylantrag des Herrn Changoschwili bereits im März 2017 abgelehnt wurde?

Die heutige georgische Regierung ist jedenfalls nicht mehr so angetan von Dschihadisten. Während unter Saakaschwili allein aus der nur 7000 Personen starken Volksgruppe der Kisten, zu der Changoschwili gehörte, hundert nach Syrien zum IS aufbrachen (7), wird jetzt mit Bildungsprogrammen versucht, die Anhängerschaft zu verringern, und es sind nur noch einzelne, die ihr Heil im Terrorismus suchen.

Höchst erheiternd ist in diesem Zusammenhang ein Artikel des Daily Beast (8), einer US-Boulevardwebseite, vom September. Er bezeichnet Changoschwili als Agenten, der für die CIA wie für den BND tätig gewesen sei – bis wohin man ihm folgen kann – tut dann aber so, als wäre das inkompatibel mit einer Tätigkeit als islamistischer Terrorist… ein gewisser Herr Bin Laden stand bekanntlich auch länger in Diensten der CIA, und der saudische Kronprinz Mohamed Bin Salman hat in einem Interview mit ‘The Atlantic’ sogar erklärt, die ganze saudische Missionstätigkeit, die der Welt solche Schönheiten wie Boko Haram erst bescherte, sei auf Bitten der USA begonnen worden (9).

Changoschwili jedenfalls wohnte diesem Artikel zu Folge in einem Hotel gegenüber der monströsen neuen BND-Zentrale; ein Detail, das, wenn es stimmt, gleich die Frage hinterher beschert, wovon er diese nicht ganz günstige Form der Behausung finanziert hat. Eine von vielen offenen Fragen, neben der, warum er durch das LKA Berlin von der Liste der Gefährder gestrichen wurde, was er in der Ukraine getrieben hat, und warum ein angeblich nicht-islamistischer Tschetschene ausgerechnet auf dem Weg in eine Moschee erschossen wird, die er angeblich nicht aufsucht und schon gar nicht so regelmäßig, dass der Weg dorthin sich für einen Anschlag anbietet…Die russische Journalistin Marina Perewoskina schreibt jedenfalls, Einwohner des Pankisi-Tals in Georgien hätten ihn 2012 das ‘Oberhaupt der Wahabiten’ genannt (10).

Es mag ja sein, dass Russland ein Interesse an dieser Person hatte, aber die Russen sind seltsam im Umgang mit Terroristen und stellen sie doch gern mal vor Gericht, weil es durchaus interessant ist, wer sonst noch damit zu tun hatte (wir erinnern uns, im Westen ist in den letzten Jahren nie jemand übrig geblieben, der vor Gericht gestellt werden konnte, so dass die Wahrheit über die Vorgänge nie aufgeklärt wird… ). Die nicht gestellte Frage in dieser Geschichte lautet: wer könnte noch ein Motiv für diesen Mord gehabt haben?

Dabei hilft ein Blick zurück ins Jahr 2012, auf einen Ort (genaugenommen einen See) namens Lopota (11). Beim sogenannten Lopota-Zwischenfall hatten islamistische Terroristen eine Gruppe Ortsansässiger als Geiseln genommen; es gab Verhandlungsversuche, letztlich aber doch eine große Schießerei, die elf der Terroristen das Leben kostete. Über die Hintergründe dieses Vorfalls gibt es unterschiedliche Versionen. Der georgische Menschenrechtsanwalt Nanuaschwili jedenfalls hat in einem 800 Seiten starken Dokument behauptet, durch die Antiterrorabteilung des Georgischen Innenministeriums seien 120 Kisten, Tschetschenen und andere Nordkaukasier versammelt worden, die dann durch tschetschenische Veteranen und Georgier ausgebildet werden und anschließend ins benachbarte Dagestan geschickt werden sollten; mit Sicherheit nicht, um dort Blumen zu pflücken.

Irgend etwas muss schiefgelaufen sein, so dass ein Teil dieser Truppe sich selbständig auf den Weg nach Dagestan zu machen suchte. Changoschwili taucht in dieser Geschichte als Mitarbeiter besagter Antiterrorabteilung auf; seine Taten im zweiten Tschetschenienkrieg lassen es allerdings durchaus als möglich erscheinen, dass er einer der Ausbilder dieses Terrortrupps war.

Saakaschwili war jener georgische Präsident, der den Krieg 2008 vom Zaun gebrochen hatte. Die FAZ sah darin damals eine „Schützenhilfe aus Georgien“ für den republikanischen Kandidaten John McCain (12). Bei so großer Nähe ist kaum anzunehmen, dass der Aufbau einer derart starken Terrortruppe ohne Wissen aller möglicher Dienste ablief. Denkbar, dass die russische Seite von diesen Vorbereitungen Wind bekommen hatte und Saakaschwili knapp, aber deutlich zu verstehen gab, wenn er diesen Plan weiter verfolge, würden die russischen Panzer das nächste Mal nicht mehr umkehren, sondern bis Tiflis durchfahren; Saakaschwili daraufhin den Plan abgebrochen hatte, aber nicht alle Beteiligten damit einverstanden waren. In dieser Variante lösen sich einige der Widersprüche um den Lopota-Vorfall, unklar bleibt allerdings, für welchen seiner beiden im Daily Beast benannten Auftraggeber Changoschwili zu jener Zeit tätig war.

Nun die Frage des Motivs. Man soll sich da durch das US-Gebaren mit den Drohnenangriffen nicht beeinflussen lassen, in Wirklichkeit bringen sich Agenten sehr selten gegenseitig um. Die ganze Spioniererei ist die Halbschwester der Diplomatie, und wenn überhaupt zu Waffen gegriffen wird, dann hat vorher jemand etwas falsch gemacht. Also welchen halbwegs rationalen Grund gäbe es, Changoschwili aus dem Verkehr zu ziehen?

Lopota liefert einen solchen Grund. Welcher der beiden Dienste es auch war, die bei der Ausbildung dieser Truppe die Finger im Spiel hatte, Changoschwili wusste Details, die unangenehm werden könnten. Einer der beiden Kandidaten steht im eigenen Land unter Druck, weil die frühere Linie, großzügig zu wahabitischen Terroristen zu greifen, um geopolitische Ziele zu verfolgen, von Teilen der Regierung nicht mehr getragen wird. Noch dazu war Changoschwili im Tross von Saakaschwili auch noch in der Ukraine tätig, die den Hintergrund des in den USA gerade laufenden Impeachment-Dramas liefert. Wie auch immer sich die Fakten kombinieren, ob er nun mehr für die CIA oder mehr für den BND gearbeitet hat, er war ein loses Ende, das gekappt werden musste.

Wie das in solchen Fällen zu sein pflegt, wird die Wahrheit frühestens dann sichtbar werden, wenn die zugehörigen Dokumente freigegeben sind; das kann noch gute 25 Jahre dauern. Bis dahin sollte eine funktionsfähige Presse eigentlich den Blick auf die Löcher im Gewebe lenken und berücksichtigen, dass sich jede dieser Geschichten auch völlig anders erzählen lässt.

Man ziert sich lieber mit Klöppelspitze; gleich, ob aus Washington, aus London oder aus Berlin.

Quellen:

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Glock-Pistole
  2. https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-berlin-mord-kalter-krieg-1.4576536
  3. https://www.tagesspiegel.de/politik/in-berlin-moabit-erschossener-georgier-der-raetselhafte-zelimkhan-k-und-die-verwicklung-russischer-geheimdienste/24942718.html
  4. https://www.heise.de/tp/features/Blutrache-unter-Tschetschenen-oder-noch-ein-Geheimdienstattentat-4506337.html
  5. https://aif.ru/politics/world/polevoy_komandir_podruchnyy_basaeva_kto_takoy_zelimhan_hangoshvili
  6. https://www.bpb.de/265379/analyse-saakaschwili-aerger-ist-sein-geschaeft
  7. https://www.researchgate.net/publication/322165352_ISLAMIC_FUNDAMENTALISM_AND_ITS_INFLUENCE_ON_YOUTH_IN_GEORGIA
  8. https://www.thedailybeast.com/zelimkhan-khangoshvilis-murder-in-berlin-the-untold-story-of-a-chechen-jihadist-turned-secret-agent
  9. https://www.theatlantic.com/international/archive/2018/04/mohammed-bin-salman-iran-israel/557036/
  10. https://www.mk.ru/incident/2019/12/05/ubityy-v-berline-chechenec-vozglavlyal-pankisskiy-dzhamaat.html
  11. https://en.wikipedia.org/wiki/Lopota_incident
  12. https://www.faz.net/aktuell/politik/machtwechsel-in-amerika/mccain-holt-auf-schuetzenhilfe-aus-georgien-1680365.html

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung.

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Bildhinweis:  Werner Spremberg/ Shutterstock

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