Staat und Nation an der Klippe der „Schöpferischen Zerstörung“? | Von Hermann Ploppa

Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Immer wieder hören wir in den Mainstream-Medien, dass wir uns hüten sollen vor „Nationalismus“. Nationalismus ist ein ganz böser pornographischer Begriff, bei dem wir sofort unsere Sensoren und Tentakel einzuziehen haben und nur murmeln dürfen: „Apage Satanas!“ Das zu tun verlangt von uns allerdings, alle geschichtlichen Grundkenntnisse sofort bedingungslos und ohne Überlegung über Bord zu werfen.

Zunächst einmal: Nation und Staat sind neutrale Bezeichnungen. Per se nicht bösartiger als Wasser: man kann selbstverständlich mit Wasser Durst löschen. Man kann aber auch darin ertrinken. Also: Zu Zeiten Martin Luthers gab es noch gar keinen Nationalstaat. Sein Regent Kaiser Karl der Fünfte musste das ganze Jahr über durch sein Riesenreich tingeln, um die Regionalfürsten mit Geschenken bei Laune zu halten. Erst Ludwig dem Vierzehnten von Frankreich ist es gelungen, die Fürsten zu unterwerfen und in einen festen Staatsapparat einzubinden, sodass Ludwig sagen konnte: Der Staat bin ich! Den nunmehr unterstellten Fürsten gereichte es zur Ehre, dem König morgens beim Anziehen die Socken und den Rock anzureichen. Aber schon Enkel Ludwig der Sechzehnte verlor auf der Guillotine der Französischen Revolution seinen Kopf. Denn mittlerweile waren die Bürger so stark geworden, dass sie den Staat übernahmen. Dass nun theoretisch alle Menschen zum Nationalstaat gehörten, motivierte ungemein. Und so konnte die revolutionäre Volksarmee den feudalen Söldnerheeren der anrückenden Nachbarländer eine empfindliche Niederlage zufügen. Napoleon drehte das Rad zwar zurück, indem er sich sogar zum Kaiser machte. Aber er schuf den Code Napoleon. Das erste bürgerliche Gesetzbuch. Damit war die feudale Willkür durch klar definierte Rechtsbeziehungen ersetzt worden. Als Napoleon die linksrheinischen deutschen Gebiete annektierte, wurde auch dort der Code Napoleon eingeführt. Als dann später Napoleon verjagt und der Feudalismus wieder eingeführt wurde, befanden sich die Deutschen links des Rheins in derselben Situation wie wir heute: sie wollten nicht in die Despotie zurück. Und so wie wir heute unsere Hygiene-Demos mit so viel Lust wie möglich verbinden, so artikulierten sich unsere Vorfahren 1830 beim Hambacher Fest. Sie wollten ihre Rechtsstaatlichkeit wiederhaben, ohne dabei gleichzeitig unter französische Fremdherrschaft zu geraten. Ihre Forderungen: Demokratie, Rede- und Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit. Und dazu nationale Unabhängigkeit. Das bedeutete aber absolut nicht, sich als kommende deutsche Nation über andere Völker und Nationen zu erheben. Ganz im Gegenteil. Gäste aus Polen, Frankreich und aus anderen Ländern nahmen Teil und verliehen ihrer Forderung nach Freiheit und Rechtsstaatlichkeit Ausdruck. Man war Inter-National. Aber genau wie wir heute mit unserer Demokratie- und Grundgesetzbewegung kassierten unsere Vorfahren für ihre Forderungen viel Ärger und Stress. Aber sie bekamen doch auf die Dauer Stück für Stück, was sie verlangten. Das stete Wasser höhlt den Stein.

Dann kam allerdings ein massiver Missklang in die Geschichte. Denn Bismarck erzwang die nationale Einigung Deutschlands. Und zwar – mit Blut und Eisen! In seiner so genannten „kleindeutschen Lösung“ wurde Österreich rausgeschmissen. Im Deutsch-Französischen Krieg kamen auf beiden Seiten viele tausend Soldaten und Zivilisten zu Tode. Dann päppelte Bismarck die besiegten französischen Truppen auf, damit diese die Bevölkerung von Paris massakrieren konnten, weil die Bürger von Paris ihre kommunalen Angelegenheiten selber in die Hand nehmen wollten. Das war der Geburtsfehler der verspäteten Gründung des deutschen Nationalstaates: dass er nämlich auf einer willkürlichen Grenzziehung beruhte und durch einen verbrecherischen Krieg gegen Frankreich zu Stande kam. Bismarck etablierte eine Koalition aus großindustriellen  Unternehmern und ostelbischen Großgrundbesitzern, den so genannten „Krautjunkern“, die den Rest der Bevölkerung beherrschte. Doch eine Koalition aus Arbeiterbewegung, Bildungsbürgertum und christlicher Soziallehre wurde immer stärker. Als Bismarck einen brutalen Klassenkrieg von oben anzetteln wollte, hatte der junge Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1890 den Mut, die Ikone Bismarck fristlos zu entlassen. So behauptete sich ein deutsches Reich als konstitutionelle Monarchie. Die Rechten in Deutschland betrachteten ihr Staatswesen als Fortsetzung des ersten deutschen Kaiserreichs. Liberale und Sozialdemokraten betrachteten sich in der neueren Tradition des Hambacher Festes und der 1848er Revolution als Bürger einer Nation. Nation war der Begriff der politischen Linken in Deutschland.

Die politische Rechte in Deutschland bekämpfte den Begriff der Nation vehement und trat ein für den Begriff des Reiches. Adolf Hitler indes hatte den Auftrag, die Linke in Deutschland zu bekämpfen, indem er die beiden linken Begriffe „Sozialismus“ und „Nationalismus“ vereinnahmte, mitsamt der roten Fahne. So gerieten beide Begriffe auch massiv in Misskredit nach dem Zweiten Weltkrieg. In der so genannten Totalitarismustheorie zogen Schlaumeier die Tatsachen über das Streckbett, indem sie sagten: Sozialismus und Faschismus (oder Nationalsozialismus) sind das Gleiche. Zunächst war Sozialismus Igitt. Mit den Jahren, und in letzter Zeit zunehmend ist nun auch Nation sozusagen a priori Igitt. Mit diesem Unsinn wird eine perfide Strategie verfolgt.

Es fällt ja zunächst schon auf, dass alle Staaten dieser Welt ihren Status als Nation auf lange Sicht aufgeben sollen – bis auf eine Nation: nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika. Gerade diese Nation, die mehr oder minder erfolgreich versucht, die unterschiedlichsten Zuwanderer zusammenzuschweißen, beschwört ihren Patriotismus in einer Heftigkeit und Künstlichkeit, die uns befremdlich vorkommt. Schon die Schüler müssen auf die US-Fahne schwören. Während der gesellschaftliche Zusammenhalt in den USA mit jedem Tag mehr dahinschwindet, werden die patriotischen Bekundungen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten immer schriller.

Zur gleichen Zeit haben US-amerikanische Geheimdienste zusammen mit US-amerikanischen „philanthropischen“ Stiftungen den nationalen Zusammenhalt in anderen Ländern auf diesem Globus durch ihre Regime-Change-Manöver künstlich zerrüttet. Immer wieder wollen Länder wie Kuba, Nicaragua, Indonesien, Venezuela, Kongo, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, einen eigenen Entwicklungsweg gehen. Und immer wieder werden solche Versuche einer nationalen Artikulation von außen her blutig abgewürgt. Der Soziologe Josef Schumpeter hat einmal den Begriff der Schöpferischen Zerstörung (oder auch: Kreative Destruktion) für diesen Vorgang geprägt: intakte bestehende Systeme werden ohne innere Notwendigkeit mutwillig zerstört, um sie sodann einem anderen System einzuverleiben und unterzuordnen. Im globalen System des US-Kapitalismus sind die zerstörten Fragmente der Nationalstaaten nur noch enthauptete Teilorgane des großen imperialen Apparats. 

Und wenn man sich zudem die diversen Nationalstaaten mal genauer anschaut, sieht man, dass sie zum Teil recht unterschiedliche Philosophien verfolgen. Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika stellen die Freiheit des Individuums und das Streben nach Glück (pursuit of happiness) in den Vordergrund. Diese Nationen sehen die Frage, wie Leute mit unterschiedlichen Voraussetzungen allesamt diese Ziele erreichen können, als nebensächlich an. Das muss jeder selber sehen. Und wer unten bleibt und ausgeschlossen ist, der hat eben Pech gehabt. Der zeigt, dass er der Segnungen der Gesellschaft nicht würdig ist. Die Staatsphilosophie Deutschlands, der Schweiz, Österreichs oder der skandinavischen Länder sagt etwas deutlich anderes: damit alle Bürger einer Nation wenigstens einigermaßen die gleichen Möglichkeiten bekommen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, müssen die Schwachen durch die Gemeinschaft unterstützt werden. Deswegen darf die Wirtschaft die Schwachen nicht einfach niedermähen. Profitorientierte Wirtschaft, die Geld und Macht akkumuliert, darf sich nur dort austoben, wo ihre Bulldozer nicht allzu viel Schaden anrichten. Alle für die Gemeinschaft empfindlichen Wirtschaftstätigkeiten müssen zwingend von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen oder von Genossenschaften durchgeführt werden. Oder vom gewerblichen Mittelstand, der durch kommunale Sparkassen oder Landesbanken dabei massiv unterstützt wird. Wirtschaft von Menschen für Menschen. Das hat über lange Zeit wunderbar funktioniert und hat uns allen eine sorglose Kindheit und Jugend beschert.

Doch schon Ende der 1930er Jahre formierte sich in den USA die Strömung des Marktradikalismus, die fälschlicherweise auch „Neoliberalismus“ genannt wird. Deren Vordenker Friedrich von Hayek lehrte seinen Jüngern, dass Staat und Nation schlecht sind und abgeschafft gehören. Dass nur die entfesselte Privatwirtschaft der Konzerne und Kartelle Reichtum erschaffen können. Und er sagte voraus, dass es vier Generationen brauchen würde, um dem Marktradikalismus zur totalen Macht zu verhelfen. So wurden in geduldiger Wühlarbeit durch diskrete Netzwerke und Seilschaften die Solidargesellschaften Mitteleuropas mürbe gemacht.

In Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien sitzen mittlerweile Hayeks Jünger und sehen in der Zerstörung von Staat und Nation den einzigen Weg zum Heil. Supranationale Organisationen ohne jede demokratische Legitimation befehlen mittlerweile, was die Nationalstaaten zu tun und zu lassen haben. Die NATO entmachtet die grundgesetzlichen Gebote zur Friedfertigkeit. Die marktradikalen Vorgaben der Europäischen Union brechen Nationenrecht. Die EU befiehlt den Staaten, ihr Solidaritätsprinzip aufzugeben und öffentlich-rechtliche Einrichtungen als autarke Wirtschaftsunternehmen zu betreiben und sodann im gnadenlosen Konkurrenzkampf gegeneinander antreten zu lassen. Krankenhäuser gehen reihenweise zugrunde, weil die EU unfaire Spielregeln vorgibt, die auf Dauer nur privatisierten Großkrankenhäusern eine Überlebenschance lassen. Die Fallpauschale vereitelt eine angemessene Behandlung der Patienten, die am dringendsten Hilfe benötigen. Überschaubare kleine und mittelgroße Krankenhäuser gehen ein. Krankenhausversorgung verschwindet aus der Fläche. Das hat sich jetzt schon beim Corona-Regime buchstäblich tödlich ausgewirkt. 

Und so geht es in allen Bereichen, wo früher eine geradezu vorbildliche Versorgung garantiert war. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hat mit ihrem Regelwerk Basel III dafür gesorgt, dass nicht nur Privatbanken einer peinlichen Dokumentationspflicht unterliegen. Was angesichts der unseriösen Praktiken mancher Privatbanken durchaus angemessen ist, wird auch auf Genossenschaftsbanken angewandt, die sich nie etwas haben zuschulden kommen lassen. Folge: die Genossenschaftsbanken müssen viele Filialen wegen der bürokratischen Überforderung schließen. Aber das war doch gerade der Charme der Raiffeisen- und Volksbanken: dass sie mindestens in jeder Mittelpunktgemeinde durch eine Filiale vertreten sind und ihre Mitarbeiter für die Menschen vor Ort da sind. Ein Verlust an Lebensqualität für die Menschen draußen im Lande, wenn das wegfällt.

Verstehen Sie nun, warum gerade die Marktradikalen nationale Eigenheiten gerne in Bausch und Bogen verurteilen? Uns wird von außen eine vollkommen fremde Philosophie der unsolidarischen Profitmaximierung aufgenötigt, über deren Einführung wir weder informiert noch jemals um unsere Zustimmung gefragt wurden. Scheibchenweise wird uns hier eine Enteignung und Entmündigung aufoktroyiert, der wir massiv widersprechen müssen. Es geht um unser aller Wohl. Die uns zugefügten Leiden durch diesen stillen Putsch der Marktradikalen müssen ein Ende haben. Wir bestehen auf unserer Solidarphilosophie und es ist uns auch egal, ob irgendwelche bezahlten Claqueure uns deswegen als „nationalistisch“ brandmarken. Wir werden unseren Way of Life rehabilitieren. Und wenn die undemokratische EU-Krake uns weiterhin Vorschriften zur Zerstörung unserer Solidarstrukturen machen will, müssen wir ernstlich über einen Austritt Deutschlands aus der EU, einen Dexit, nachdenken.

Eine Welt, die so befriedet und sozial gerecht ist, dass wir Einhegungen durch Nationalstaaten und Grenzen gar nicht mehr benötigen, ist gewiss erstrebenswert. Das muss aber in freier Abstimmung aller Menschen vollzogen werden. Aber im Augenblick sind wir von solchen Optionen leider sehr, sehr weit entfernt. Wir müssen erst einmal unsere Selbstbestimmung einfordern und die „schöpferische Zerstörung“ des Turbokapitalismus beenden, der sich hinter ebenso nebulösen wie wirklichkeitsfernen Phrasen wie „No Border, No Nation“ getarnt hat. 

Der Globalismus der Superreichen will in Wirklichkeit das Schlechte am nationalen Erbe für seine Zwecke ausschlachten: die Konkurrenz der Staaten gegeneinander, um optimale Investitionsbedingungen herauszuholen. Und in letzter Konsequenz den Militarismus, als bleischwere Hypothek von Bismarck. Die guten Elemente des nationalen Erbes dagegen sollen vernichtet werden: unser System der sozialen Sicherung und der Rücksichtnahme auf die Schwachen. Demokratie und Toleranz. Ja, Demokratie und Toleranz. Das immer übergriffigere Corona-Regime zerschreddert gerade vor unseren Augen die Selbstbestimmung der Bürger. Wieder einmal sollen wir für einen unheimlichen unsichtbaren Feind unsere Grundrechte mal eben preisgeben. In einem Akt schöpferischer Zerstörung werden die Regeln unseres zivilen Zusammenlebens auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Wir mutieren zu einem enthaupteten Teilorgan einer extrem synthetischen globalisierten Lebenswelt.

Wir müssen schon ganz schön dicke Bretter bohren, um unser Recht auf ein selbstbestimmtes Leben gegen eine Clique extrem durchgeknallter Machtmenschen zu behaupten. 

Doch, es gibt ein Leben vor dem Tod. Wir müssen es nur wollen.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Shutterstock / shuttersv

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