Selbstermächtigt siegen

von Susan Bonath.

Statt ihnen Kraft und Anleitung zu geben, erklärt die Linke die Unterprivilegierten zu unmündigen Pflegefällen und profiliert sich mit ihnen. Das war mal anders – und muss wieder anders werden.

Sommers wie winters: Der Reichstag ist gut klimatisiert. Mit Blick auf selbigen kampieren Obdachlose unter den Spreebrücken. Bettler bitten Unter den Linden um Kleingeld, Männer und Frauen greifen verstohlen in Mülltonnen, während die Prominenz ins Café Einstein spaziert und im hohen Haus debattiert.

Man müsse etwas für die Armen tun. Für die Abgehängten, die Ausgeschlossenen. Die Linken dramatisierten, zetern die Regierungsfraktionen, die sich christlich und sozialdemokratisch schimpfen. Peinlich relativieren sie: Die Armen in Deutschland seien nicht wirklich, sondern nur relativ arm. Man schaue nach Somalia oder Bangladesh. Und außerdem: Die Armen müssten sich doch nur mal anstrengen.

Unmoralisch sei das, kontert die Linke. Wohl wissend, wie eh und je nur Häme zu ernten, verlangt sie – keiner weiß mehr, zum wievielten Male – nach Umverteilung. Die Reichen seien stärker zu besteuern. Doch die Gemeinten können sich beruhigt zurücklehnen: Niemand ihrer Nutznießer im Bundestag wird ihnen an den Kragen gehen.

Reduziert auf Moral 

Die Obdachlosen unterdessen bekommen von alldem nichts mit. Man würde sie nicht mal reinlassen ins hohe Haus. Gefragt wurden sie ohnehin noch nie. Man geht an ihnen vorbei, naserümpfend oder entsetzt ob des Elends, aber nur schnell weiter. Man spricht über sie: Rechts haut drauf, verharmlost, verurteilt. Links mimt den moralisch entrüsteten Kümmerer, spricht sorgenvoll von »Globalisierungsverlierern«, von »den Schwächsten«.

Diesen »Schwächsten« müsse geholfen werden. Wer rechts, also auf der Seite des Kapitals steht, will sie trimmen, unter Druck setzen, erpressen, bestrafen, mit passiver Gewalt auch für lau in einen Arbeitsmarkt zwingen, der sie gar nicht braucht. Wer sich links auf ihrer Seite wähnt, will ihnen geben.

»Die Schwächsten«: Sie könnten sich nicht selber wehren, weil sie eben schwach seien. Physisch, psychisch. Die Linke plädiert für kostenlose Bildung. Denn Bildung sei alles. »Die Bildungsfernen«, die sich einrichteten, ruft es von rechts.

Der tiefere Blick offenbart: Für beide Seiten sind die nicht mehr wegzudiskutierenden Armen Objekte. Die einen missbrauchen sie als stets einsetzbares Heer für Arbeiten, die keiner bezahlen will. Und als Schuldfigur namens »Schmarotzer«, die der sogenannten Mittelschicht auf der Tasche liege. Den anderen dienen sie scheinbar zur Präsentation für moralische Überlegenheit. Seht nur, wie herzlos ihr seid. Ihr! lasst die Armen arm. Wir! wollen ihnen helfen, und ihr! hindert uns daran.

Reine Fürsorgeobjekte

Abgesehen davon, dass es der Linken schon daran mangelt, als Ursache für die sich überall immer weiter ausbreitende Armut das kapitalistische Wirtschaftssystem zu benennen und zu erklären, erwägt sie gar nicht mehr die Option auf die Selbstermächtigung der Abgehängten. Sie reduziert sie zu Objekten der Fürsorge, der Pflege, des Mitgefühls. Sie erklärt de facto arm sein zum Gegenteil von Eigenständigkeit. Souverän über sie befinden könnten einzig jene, die publikumswirksam für sie »leiden«.

Das war mal anders. Eine Zeitlang hatten linke Kräfte tatsächlich aufgehört, sie Arme zu nennen. Sie nannten sie Proletarier. »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«, hieß der Schlachtruf. Sie verbannten den schieren Tatbestand »arm«, der die ökonomischen Besitzverhältnisse als Ursache unterschlägt, aus ihrem Repertoire.    Proletarier steht für Klassenbewusstsein. Das Proletariat muss sich zusammentun, national, international, und dem Klassenkampf von oben einen Klassenkampf unten entgegensetzen.

Der Begriff »Proletarier« ist selbst ermächtigend, er ist ein politisches Programm für Lohnabhängige: Wir sind das Proletariat, wir wollen nicht länger für den Profit wohlhabender Unternehmer, Privatbankiers, Manager produzieren, sondern für uns selbst. Nur wir können uns gemeinsam aus der Knechtschaft befreien. Niemand anders hat daran Interesse. Der Aufruf über allem stehend hieß: Nehmt das Schicksal und das eurer Klassenbrüder und -schwestern in der ganzen Welt in eure Hände.

Fehlende Analyse

Doch nach der großen Zerstörungswelle des zweiten Weltkrieges folgte der vor allem dem notwendigen Wiederaufbau zu verdankende wirtschaftliche Aufschwung. Jede Hand wurde gebraucht, die Profite sprudelten. Arbeitslose waren kein Thema mehr. Der amerikanische Traum »vom Tellerwäscher zum Millionär« flutete die alte BRD, schürte Hoffnung, festigte Weltbilder. Der deutsche Arbeiter sollte sich fühlen wie ein Teil der Maschine, dem es gut ging, wenn er sich anstrengte und der sozial abgesichert war, wenn er strauchelte. »Prolet« wurde zum verächtlich machenden Schimpfwort, als es den Proleten ökonomisch besser ging.

Doch für einen wachsenden Teil der Proletarier wurde der Traum schon bald zum erfolglosen Marathon im Hamsterrad. Als die Erwerbslosenquote in den 70er Jahren die Eine-Millionen-Marke überstieg, begannen die Faulheitsdebatten. Während die Politik öffentlich darüber sinnierte, wie man jene, die angeblich »null Bock aufs Arbeiten« hätten, in Jobs mit immer mieseren Konditionen prügeln könne und die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse mit auskömmlichen Einkommen stetig sank, verpassten Linke etwas Entscheidendes: Eine politische Analyse. Vermutlich selbst noch schwelgend im Erhardschen Traum der »sozialen Marktwirtschaft«, begannen sie, über Arbeitslosigkeit, Armut und damit einhergehenden Sozialabbau zu jammern.

Falsche Hoffnungen

Dabei hätten sie es vorher wissen können: Irgendwann sind Häuser und Straßen aufgebaut, irgendwann hat jeder Haushalt einen Kühlschrank. Die Kapitalbesitzer mussten sich daran machen, technologisch aufzurüsten, neue Märkte zu erobern, zu exportieren, was das Zeug hält. Wackelt zwischendurch der Profit, werden Arbeiter entlassen – und dank des technischen Fortschritts nie wieder eingestellt.

Es sind die bekannten zyklischen Krisen des Kapitalismus, die das Kapital zu imperialistischer Expansion zwingen. Die wachsende Erwerbslosigkeit mit Verarmung größerer Teile der Bevölkerung führt zu Absatzschwierigkeiten im Binnenmarkt. Der gleichzeitige Wachstumszwang sorgt für Überproduktion. Zugleich macht die Technologie tausende Arbeitsplätze entbehrlich. Dass die Kapitalverwertungskrisen wiederkommen, hätten Linke wissen können. Es war nur eine Frage der Zeit.

Doch statt sich auf den Kampf gegen die ursächlichen Widersprüche zwischen Kapitalbesitz auf der einen und abhängiger Lohnarbeit auf der anderen Seite zurückzubesinnen, klammerten sich Linke weiter an die lange von der SPD gehegte und gepflegte »Sozialpartnerschaft« zwischen Besitzenden und Unterdrückten. Diese jedoch haben die Herrschenden längst einseitig aufgekündigt. Heute taugt Sozialpartnerschaft nicht mehr dazu, die Profite am Sprudeln zu halten. Selbst wahrhaftige Linke verkommen zum Bettler.

Besitzlose zu Pflegefällen erklärt

Mit ihrem Wunschgebaren nach sozialen Wohltaten suggeriert die Linke, der Kapitalismus fernab einer Phase des Wiederaufbaus inmitten rollender Krisen könne per parlamentarischem Beschluss – für den sie ohnehin keine Mehrheiten findet – sozialer gestaltet werden. Wer das ernst meint, hat keine Ahnung von Ökonomie. Und wer ökonomische Kenntnisse besitzt, lügt.

Nur das beharrliche Ausblenden ökonomischer und politischer Prozesse kann die Lüge aufrechterhalten. Wer Erwerbslose, Gestrauchelte, Bettler und Niedriglöhner zu »Pflegefällen« erklärt, untergräbt deren Potential, sich zu solidarisieren und gemeinsam den Kampf gegen oben anzutreten. Er stuft sie auf eine willenlose Verwaltungsmasse herab, die dankbar für jeden Euro, jedes Stück Brot sein soll.

Nicht nur, dass das Bitten um Wohltaten für jene größer werdende Gruppe, die keinen Zugang mehr zum gesellschaftlichen Reichtum hat, immer wieder nur aufs Neue auf Häme stoßen wird. Es ist kontraproduktiv. Mehr noch: Es scheint nicht mal ernst gemeint. Denn Kern und Anschub jeder Veränderung, jeder Befreiung, sind die Möglichkeiten des Handelns. Nur ein wiederhergestelltes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Proletariats könnte das Paradigma des unmündigen Opfers abermals umkehren in eine ernstzunehmende widerständige Kraft.

Politisches Konzept nötig

Die Bewegungen der jüngeren Vergangenheit sind ein Zeichen dafür, dass Menschen es leid sind, wie unmündige Opfer behandelt zu werden. Ihre Ansätze waren durchaus egalitär. In Frankreich lockte »Nuit debout« Tausende Menschen auf die Straßen. Der Gedanke von Gleichheit, Solidarität und Brüderlichkeit schallte durch die Mikrofone. Occupy-Aktivisten schlugen ihre Zelte auf öffentlichen Plätzen auf. Sie legten sich mit der Staatsgewalt an. In Windeseile schwappte die Bewegung um die Welt. Wir haben keinen Chef, keinen Sprecher, keinen Demoanmelder, hieß es. Und: Wir sind alle gleichwertig.

Das Problem dabei: Die Aktivsten hatten keine ernsthafte politische Agenda. Es mangelte an einer Analyse der tatsächlichen Bedingungen. Folglich gab es kein politisches Konzept zum konkreten Handeln für ein klar definiertes Ziel. Zu den Attacken der Medien und der Staatsgewalt gesellten sich die inneren Widersprüche. Die Vision der Egalität, die wahrscheinlich viele teilten, scheiterte an den realen Gegebenheiten. Planlos mussten die Bewegungen scheitern.

Eigentumsfrage muss oben stehen

Um das Problem der Besitzlosigkeit zu lösen, müssen Bewegungen an die Besitzverhältnisse ran. Aber nicht nur hierfür: Auch die global tobenden ökonomischen Kriege, ob mit oder ohne Waffen, ob blutig oder mit vielen stillen Hungertoden, sind Kämpfe um Kapitalbesitz, mit dem sich mehr Kapital machen lässt. So operiert die NATO, so operiert der IS.

Wer nichts besitzt, ist immer abhängig von denen, die die Fabriken, die Rohstoffe, die Agrarflächen, die Häuser besitzen. Der ist darauf angewiesen, dass sie ihm einen Job und Lohn dafür geben. Denn ihnen gehört das Geld, ihnen gehören die Waren, obwohl Arbeiter sie herstellen. Je mehr davon ausgeschlossen sind, desto härter werden die Verteilungskämpfe unter den Nichtbesitzenden. Eine Lösung ist das nicht.

Der einzige Aufruf, der sich zu propagieren lohnt, lautet darum: Niemand befreit uns, wenn wir es nicht selbst tun. Für den Aufruf braucht es laute Stimmen. Wenn es die Linke nicht tut, müssen andere ran. Doch wer ist »wir«? Es ist nie genau vorherzusehen, wie viele sich als »wir« erkennen und dem Aufruf  folgen werden. Und es steht fest, dass die Herrschenden und ihre Handlanger alles unternehmen werden, um den Aufruf ungehört verhallen zu lassen. Doch gewiss ist eins: Mit »wir Arme« wird keiner auf die Frage nach dem »Wir« antworten. Hat man nicht vielleicht darum wieder angefangen, die Leute so zu nennen?

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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