Schizophrenie der Widerstands-Apologeten

»Gutmenschen« und »braunes Pack«: Das Motto »Wir sind besser als ihr« dirigiert die Wut

Von Susan Bonath.

Habe ich morgen noch meinen Job? Wird mein Sohn in der Gosse landen, wenn er das Abi versaut? Kann ich mein Haus je abbezahlen? Und: Warum dreht sich mein Hamsterrad immer schneller? Wer hätte es vor 30 Jahren gedacht: Diese Fragen müssen sich heute Millionen Menschen im reichen Deutschland stellen. Zukunftsangst plagt den Fließbandarbeiter, die alleinerziehende Mutter, den Kleinunternehmer mit Familie, die 18jährige Schulabgängerin. Wenn der Großstädter zur Arbeit geht, bleibt ihm der Anblick kampierender Obdachloser kaum erspart. Kein Wunder: Auf den Straßen wächst der Frust. Mensch will nicht mehr Sklave irgendwelcher Bonzen, sondern souverän sein.

Alles andere als souverän erscheint jedoch der »Widerstand«. Die einen steigern sich bis zur Besessenheit in scheinheilige Moral und blenden soziale Realitäten völlig aus. Die anderen laufen selbsternannten Heilsbringern nach, die chauvinistische Parolen klopfen, möglichst einfach zu schlagende Feindbilder liefern und ausgerechnet aus dem Lager stammen, welches sie, zumindest lautstark verbal, verachten.

Vorab: Die Straßenschlachten erinnern mich an eine neunte Klasse, die unter Lehrern leidet, die von Pädagogik keine Ahnung haben. Lehrer, die Leistung und sonst nichts verlangen, rücksichtslos die sozialen Erfahrungen der Kinder ignorierend. Ruckzuck spaltet sich der Klassenverband. Hierarchische Gruppen beginnen im Kampf darum, stärker, besser, schneller als der Mitschüler zu sein, gegeneinander zu konkurrieren. Der Markt da draußen wird im Kleinen nachgespielt. Es gibt Gewinner und Verlierer, wie in der richtigen Welt. Vorbereitung auf das Hamsterrad. Der ewige Kampf um Macht, Beherrschen, mehr Haben und Anerkennung. Eine Erfahrungswelt, die gruppendynamisch früh beginnt. Reale Zustände, die erlebt, erlernt, verinnerlicht werden. Geschichte, die sich im Kleinen wie im Großen wiederholt. Profiteure und Bettler, Aufsteiger und Fallende, Gewalttäter und Schönredner.

CDU-CSU-AfD: Sozialdarwinistische Ideologen aus einem Guss

Heute stehen sich Gruppen feindlich gegenüber. Die einen schreien in die Welt hinaus, wie sehr sie Merkel hassen, die »etablieren Parteien« und die »Lügenpresse«. Auf dem Podium impfen Petry, Höcke, Gauland, Poggenburg und andere Hysterie vor »der Asylflut« in die Hirne ihrer Jünger. »Merkel muss weg«, skandieren sie. Und »Wir sind das Volk!« Offenbar ist diesem Volk entgangen, dass CDU, CSU und SPD die »deutschalternative« Asylpolitik, unabhängig vom gestrigen Geschwätz, längst still und leise umsetzen. Romamütter mit kleinen Kindern sitzen bereits in Flugzeugen, die sie zurück ins kalte Serbien bringen, wo sie nicht einmal in beheizten Zelten unterkommen. Länder, die das Auswärtige Amt als Gefahrenzone für deutsche Touristen einstuft, haben die »Etablierten« ganz im Sinn ihrer vermeintlichen »Gegner« als »sicher« erklärt. Kriegsflüchtlingen gewährt die Republik gerade noch subsidiären Schutz: Befindet die Regierung, der Krieg sei aus, müssen all die Menschen zurück in die Ruinenstädte.

Vielleicht ist diesem Volk auch gar nicht klar, dass jemand ohne Perspektive alles auf eine Karte setzen wird. Er hat nichts zu verlieren als das nackte Leben oder seine Ketten. Nach dem Gesetz des vollautomatisierten »freien Marktes« folgt er den Strömen des Kapitals. Wer den Markt propagiert, darf den Produktionsfaktor Mensch nicht ausblenden. Die schwarz-rosa-blauen Forderungen nach »Obergrenzen« für Flüchtlinge und nationalen Abschottungsmauern widersprechen somit der eigenen Theorie der Propagandisten. Dass sie die Globalisierung des allgegenwärtigen Marktes verpasst haben, ist unwahrscheinlich. Dass wir vom Ex- und Import leben, lernt man sogar in der neoliberalen Schule. In logischer Konsequenz heißt das nun mal: Wer Öl, billige Klamotten, Kaffee und Bananen will, kriegt irgendwann die Menschen dazu. Sie wandern mit ihren Rohstoffen. Auf Dauer wird sie niemand aufhalten.

Besonders verwundert Volkes Bekenntnis zu den neuen Gurus, die sich als »Alternative« verkaufen, bedenkt man, dass die AfD nicht mehr als eine radikalere Abspaltung der (Merkel)-CDU ist. Fast alle Gründer begannen dort ihre Karriere, ob Lucke, Höcke, Gauland oder Ex-»Lügenpresse«-Schreiberling Konrad Adam. Auch Petry und von Storch, die adlige Enkeltochter von Hitlers Finanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk, tummelten sich vor AfD-Zeiten in CDU-nahen und Industriellennetzwerken. Ihnen ging die Politik der Union lediglich nicht weit genug. Sie krochen aus jener Partei, die Arbeiter zwar reichlich, aber leistungslos gelagerte Vermögen gar nicht besteuert; die Renten kürzt und Diäten erhöht; die ungehorsame Hartz-IV-Bezieher hart und härter sanktioniert und auch dadurch produzierte Obdachlose aus Desinteresse nicht erfassen will; die Zwangsarbeit, Rüstungsexporte, Kriegseinsätze und TTIP befürwortet, mit allgemeinen Menschenrechten noch nie viel am Hut hatte und schon nach dem Zweiten Weltkrieg zum Sammelbecken verschont gebliebener NSDAP-Verbrecher geworden war.

Mit Polizei, Militär, »Eisen und Blut« zum »freien Markt«?

Die AfD will dasselbe wie die radikalen »Christen« – nur schneller. Und fordert es direkt. Würde Merkel es ihr gleichtun, vergraulte sie ganz sicher den Teil ihrer Wähler, der noch immer glaubt, das »C« im Namen hätte irgendetwas mit der gleichnamigen Religion zu tun. Was die »Alternative« der angeblichen »Alternative« ist, offenbart sie in diversen Pressemitteilungen und Positionspapieren. Da heißt es etwa: Freihandelabkommen seien »prinzipiell erwünscht«. So viel zu TTIP. Oder: Mindestlohn sei ein Auswuchs »sozialromantischer Ideologie« und schädige die Wirtschaft. Mehr Arbeit mit weniger Urlaub nutze dem entgegen selbiger.

Konrad Adam verteufelte schon zu Zeiten seiner CDU-Karriere sämtliche Errungenschaften der Arbeiter. In Springers »Welt« befand er Arbeitslosengeld, Rente und Pflegekosten als unnütze Haushaltsposten. Auch Frieden ist von seiner Partei nicht zu erwarten: So glorifizierte etwa Alexander Gauland Krieg zum Durchsetzen ökonomischer Interessen. Nur »Eisen und Blut« hätten bislang die großen Fragen der Zeit entschieden, sagte er 2012 dem Tagesspiegel. Doch etwas führt die Plädoyers der beteuernden Verfechter »freier Märkte«, die Menschen angeblich nicht mehr knechten würden, ad absurdum: Ihre Forderungen nach mehr Polizei, mehr »rechtsstaatlicher Ordnung«. Der Knecht soll offenbar, bewacht von bewaffneten Einheiten, der Habenichts bleiben, während der Besitzende tun und lassen darf, was ihm gefällt.

Moralisierer und Hysteriker

Nüchtern betrachtet, wirkt die Kehrseite der Medaille nicht weniger schizophren. Präsentiert wird sie von jenen, die, meist vom hohen Ross herab, das Gutsein predigen, ohne die soziale Realität anzutasten. Wenn ein sich links nennender Politiker verlangt, Flüchtlinge »angemessen« unterzubringen – womit keineswegs normaler Standard gemeint ist, sondern eine Massenunterkunft, was gerne verschwiegen wird – kommt das beim Obdachlosen kaum gut an. Schließlich hat sich um sein Schicksal noch nie jemand gekümmert. Wann wurden zuletzt Zustände in öffentlichen Notschlafstätten untersucht? Auch der Hartz-IV-Beziehende, der festsitzt in einer schimmeligen Wohnung, wird sich verraten fühlen, wenn die Politik verkündet, Flüchtlinge für das Vierfache der ihm selbst zugebilligten Miete unterzubringen. Auch die härter werdende Konkurrenz um Arbeitsplätze wird oft ausgeblendet: Geflüchtete Lohnabhängige kommen, einheimische Leiharbeiter und Putzfrauen bangen: Schnappt der mir den Job weg? Wird es mir morgen noch dreckiger gehen?

Das beschwichtigende »Nein« von Arbeitsministerin Andrea Nahles kann niemand, dem Konkurrenz und drohendes Hartz IV im Nacken sitzen, ernst nehmen. Noch scheinheiliger wird es, wenn Nahles´ Fraktion der Sozialdemokraten zugleich mit der Union fast ganz geschlossen den Arm hebt: Für mehr Waffenexporte, mehr Aufrüstung, für Beteiligung der Bundeswehr an weiteren NATO-Bombardements.

Krieg gegen »Leberwurstdiebe«

So toben die Kämpfe auf der Straße. Die einen schreien »Asylanten raus«, die anderen halten, ansonsten planlos, mit »Nazis raus« dagegen. Beide Fronten haben ein Problem: Sie erkennen nicht den Unterschied zwischen Vor- und Nachplapperern. Erstere tragen gute Anzüge und fahren teure Autos. Und sie erklären das Unmögliche zur Wahrheit. Die Gurus aus CDUCSUAFD behaupten, den Flüchtlingsstrom ganz einfach durch schießeisenbewachte Grenzen zu verringern. Die anderen erklären – ersteren ganz offenbar tatsächlich fehlende – Moral und Empathie zum Hauptgrund allen Übels. Teils scheinen einseitig moralisch Philosophierende fast ebenso bedürftig wie all die Rassentrenner. Das gruppenbezogende Motto »Wir sind besser als ihr« gilt jedenfalls hier wie da. Ganz so, als reiche es aus, empathischer zu werden, um das System grundlegend zu verändern. Als könne man das Mitgefühl durch Schreien in die Hirne jener Mitläufer implantieren, die von christlich-sozialdemokratisch-alternativ(los) propagierter Rassenpanik übermannt sind.

Sowohl die einen als die anderen bekämpfen nur Symptome. Symptome des Kapitalismus, der dafür sorgt, dass »der Teufel« von ganz alleine »auf den größten Haufen scheißt«. Dass die Masse derer, die durchs Raster fällt, mit Monopolisierung und Automatisierung wachsen muss. Die Symptome hier sind Menschen. Die einen flüchten, um ein besseres, angstfreies Leben zu finden, die anderen ergehen sich in Futterneid, Hysterie und Hass auf sie. Die Symptome haben so wenig mit offenen oder geschlossenen Grenzen zu tun, wie Frieden und Moral mit CDU, SPD, Grünen und AfD. Sie sind Auswüchse globaler Verwerfungen.

Pläne für Veränderungen gab es viele. Bisher scheiterten sie vor allem an der Realität der Besitz- und Machtverhältnisse sowie internationalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Vielleicht auch am Bewusstsein der Massen. Fest steht jedoch: Zwei Dinge haben noch niemals einen Funken Besserung bewirkt: Die Jagd auf den kleinen »Leberwurstdieb« und Kreuze auf Wahlzetteln.

 

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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