Schießbefehl, Druckausgleich und Volksentscheid

Von Dirk Pohlmann.

Seit die AfD-Vorsitzende Frauke Petry und die stellvertretende Vorsitzende Beatrix von Storch ihre unsäglichen Äußerungen zum Schusswaffengebrauch gegen Flüchtlinge abgegeben haben, kocht die Öffentlichkeit über. Einerseits zu recht. Das Menschenbild, das hinter solchen Aussagen steht, ist furchterregend.

Andererseits: Was bei den derzeitigen Debatten außer acht bleibt, sind die wesentlichen Fragen.

1. Warum flüchten so viele Menschen?

2. Wie soll mit dem Problem kurzfristig umgegangen werden?

3. Kann man zukünftig solche Völkerwanderungen verhindern?

Sich über AfD-Schießbefehlphantasien an der deutschen Grenze aufzuregen, ist selektive Wahrnehmung und Heuchelei, wenn wir nicht darüber reden, dass fast alle Flüchtlinge realen Schießbefehlen und Bombenangriffen in ihrer Heimat entkommen wollen – tödlichen Bedrohungen, für die unsere gewählten Regierungen mitverantwortlich sind.

Unsere Regierung unterstützt die geopolitische Hegemonialstrategie der USA, die planmäßig „sieben Länder in fünf Jahren“ in das totale Chaos stürzen will – und das weitgehend geschafft hat.

Libyen, einst das Land mit dem höchsten Lebensstandard in Afrika, dessen kostenloses Gesundheitssystem von der WHO mit Bestnoten ausgezeichnet wurde, dessen kostenloses Erziehungssystem 30% der Bevölkerung studieren ließ, die Mehrheit davon Frauen, in denen es zinslose Kredite des Staates für jeden Bürger gab, wurde mit einer „humanitären Intervention“ ins Mittelalter zurückgebombt, in einen gescheiterten Staat verwandelt, eine Hölle auf Erden.

Hillary Clinton sagte anlässlich des Todes von Gaddafi, den ein Freischärler-Mob durch ein Bajonett in den Anus und Skalpieren tötete: „We came, we saw, he died“. („Wir kamen, wir sahen, er starb“, in Anlehnung an das Julius Caesar Zitat „Ich kam, ich sah, ich siegte.)

Diese Frau könnte Präsidentin der USA werden. Welches Menschenbild und Rechtsverständnis demaskiert sich mit solchen Äußerungen? Beatrix von Storch ist in den Augen unserer Medienelite der Untergang des Abendlandes, aber Hillary Clinton ist die europakompatible, fortschrittliche Alternative zu Donald Trump? Und was ist mit Donald Trump selbst, der über eine Gaza-Mauer nach Mexiko und ein Einreiseverbot für Muslime phantasiert und dabei so wirkt, als ob er unter Kokaineinfluss den Programmentwurf des Naziflügels der AfD ausplaudert?

Wie ehrlich ist der einstimmige Aufschrei unserer Medien über die AfD, wenn Heute, Süddeutsche und FAZ bei den mörderischen Angriffskriegen unserer Hegemonialmacht stets handzahm, transatlantisch und russophob bleiben?

Woher stammt dieser bizarre Welpenschutz für die mächtigsten Politiker der Welt?

Libyen war kein Einzelfall, sondern das Modell, das den anderen arabischen Staaten bevorsteht. In Ägypten hatte die Bevölkerung falsch gewählt, das musste „von oben“ korrigiert werden. Jetzt ist wieder das Militär am Ruder. Im Irak rennt die Bevölkerung sofort in Deckung, wenn jemand „Demokratie“ ruft, weil das erfahrungsgemäß mit Kampfjets, Drohnenangriffen oder anderen Feuerüberfällen endet. Annähernd eine Million Iraker haben ihre Befreiung durch die USA mit dem Leben bezahlt. Die Zustände in Afghanistan sind so übel, dass 50% der Asylanträge von Flüchtlingen aus diesem Land in Deutschland bewilligt werden, Zusätzlich dürfen 30% der Antragsteller ohne Anerkennung geduldet bei uns bleiben. Das ist das Ergebnis von mehr als einem Jahrzehnt Freiheitsverteidigung Deutschlands am Hindukusch?

Syrien ist mit Hilfe der USA, Saudi-Arabiens, der Golfstaaten und ihrer Halsabschneider-IS-Terroristen in ein mörderisches Desaster verwandelt worden. IS ist ein Frankenstein-Monster der US-Allianz. Eine selbstgeschaffene Katastrophe, die sich selbstständiger gemacht hat, als man geplant hat – wenn dahinter nicht noch finsterere Absichten stehen. Bin Laden reloaded.

Was hat das alles mit Freiheit, Demokratie und Menschenwürde zu tun? Noch 50 Jahre Weltherrschaft der USA, und alle Worte stinken.

Neben den Kriegsflüchtlingen gibt es auch noch Wirtschaftsflüchtlinge. Und da sind sich wieder alle einige: Wirtschaftsflüchtlinge sind Menschen, die bei uns nichts zu suchen haben.

Warum eigentlich? Die Globalisierung, die uns seit Jahren als Naturgesetz dargestellt wird, schwappt jetzt eben als Völkerwanderung zurück vor unsere Haustür. Wer ist überrascht? Der Kapitalismus hat schon immer seine Kinder gefressen. Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl gehört nicht zu seinen Kernaufgaben. Kapitalismus hat als Zweck den Profit. Ende. Die soziale Komponente der Marktwirtschaft ist seit Bismarcks Sozialistengesetzen nur ein Zugeständnis gewesen, um Revolutionen zu verhindern. Der Kapitalismus mit menschlichen Antlitz ist von Sozialisten erkämpft worden.

Dass Menschen bessere Lebensbedingungen für sich und ihre Angehörigen suchen, sollte niemanden überraschen. Schon gar nicht Eliten, die in die hintersten Winkel der Welt ziehen, um durch billigste Arbeitskräfte ihre Gewinnspannen zu erhöhen. Wieso darf nur das Kapital global beweglich sein? Warum ist Mobilität nur gut, wenn sie von Unternehmensleitungen eingefordert wird, ansonsten aber kriminell? Arbeitskräfte sollen also wie Schafe im Pferch darauf warten, dass sie aufgefordert werden, durch vorbereitete Kanäle zu wandern, um geschoren zu werden?

Warum wollen die Wirtschaftsflüchtlinge zu uns? Die moderne Telekommunikation sorgt dafür, dass Informationen über lohnende Wirtschaftszonen nicht nur an den Börsen ausgetauscht werden, sondern auch über die Handys von Armutsflüchtlingen.

Konzerne suchen Elendsgebiete, um höhere Einnahmen zu erzielen, Wirtschaftsflüchtlinge suchen die Gebiete höherer Einnahmen, um dem Elend zu entfliehen. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Das Fußvolk dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland, die Arbeitslosen- und Niedriglohnsklaven, kurz gesagt das Hartz-IV-Reserve-Heer, sollte nicht den Fehler begehen, sich einreden zu lassen, dass es die Asylanten sind, die für ihr wohl temperiertes Elend verantwortlich sind.

Womit sie aber sehr wohl rechnen müssen, ist, dass die Armen von außen dafür genutzt werden, um die Löhne der Armen im Inland noch weiter zu verringern. Das ist ein reales Problem, eine echte Konkurrenz. So hetzt man die Verlierer aufeinander, damit die Gewinner feiern können. Diese Menschen brauchen eine Lösung, die sie nicht das letzte Hemd kostet, keine Arroganz der Medien- und Politikelite.

Die Wirtschaftsflüchtlinge sind ein Ergebnis der extrem unterschiedlichen Lebensbedingungen in der globalisierten Welt, ein Druckausgleich. Ein Druckausgleich zwischen Extremwerten, so wie der Wind ein Druckausgleich zwischen Tiefdruck und Hochdruck ist. Wind verhindert man nicht, in dem man Schilder aufstellt, auf denen „Sturm verboten!“ steht.

Die Unternehmen der reichen Länder nutzen dieses Druckgefälle für ihre Profitinteressen, die Kosten des Druckausgleiches (Flüchtlinge) hat die Allgemeinheit zu tragen. Wer die Massenbewegungen verhindern will, muss für Druckausgleich auf andere Art sorgen und die Kosten den Verursachern in Rechnung stellen.

Durch eine Wirtschaftsordnung, die der Mehrheit der Menschen in allen Ländern ähnliche Bedingungen bietet. Die Ursache dieses Problems ist, dass der realexistierende Kapitalismus, der schon lange auf den Müllhaufen der Geschichte gehört, konstant von unten nach oben umverteilt. 62 Menschen besitzen so viel wie 3,7 Milliarden. Auch in Europa geht der Zukunftstrend zum Dritt-Welt-Staat, siehe Griechenland. Es ist ein Irrtum der deutschen 99%, zu glauben, dass sie vor solchen Verhältnissen sicher sind.

Die Menschen fliehen also vor Krieg und vor Armut. Der Verursacher beider Probleme ist im Wesentlichen die Supermacht, die alles steuert: Die USA. Sie ist allerdings durch riesige Ozeane von den Folgen ihrer Politik geschützt. Weder die USA, noch ihre Kriegs-Alliierten Saudi Arabien und die Emirate tragen die Last des Flüchtlingssturms mit. Auch dazu herrscht Stille bei Politik und Medien. Warum? Warum gilt das vielzitierte Verursacherprinzip nicht bei Kriegs- und Kriegsfolgekosten?

Die vielbeschworene Einigung Europas wird durch diese Entwicklungen verhindert. Zwietracht wird gesät, ein Zerfall der EU ist möglich geworden. Wem nützt das? Die Antworten auf diese Fragen sollte uns stutzig machen.

Aber was sollen wir kurzfristig tun? Die AfD-Sympathisanten, CSU-Wähler und die 90% der CDU-Wähler, die der Politik Merkels gemeinsam negativ gegenüber stehen, sollten sich fragen, wie ihre Optionen aussehen.

Glauben Sie wirklich, dass Zäune, Lager in der Türkei und Griechenland oder sogar Schusswaffen diese Völkerwanderung verhindern? Wenn die AfD oder CSU an der Regierung wäre, würde sich niemand mehr trauen, aus Syrien zu flüchten, um sein Leben zu retten? Das würde nur funktionieren, wenn Flüchtlinge mit Maschinengewehren an den Grenzen niederkartätscht würden, d.h. wenn die Perspektive eines potentiellen Flüchtlings der sichere Tod an der Grenze wäre, statt des wahrscheinlichen Todes in Syrien. Wer will das?

Was müssen wir kurzfristig tun? Was macht ein Mensch, wenn er einen anderen Menschen ertrinken sieht? Er rettet ihn. Was macht ein Mensch, der einem Flüchtling begegnet? Er hilft ihm. Sonst ist er kein Mensch, sondern eine minderwertige Realversion der Möglichkeit Homo sapiens sapiens.

Es gibt keine einfache Antwort auf das Problem der Massenflucht. Aber wie human und klug wir die dadurch entstehenden Schwierigkeiten meistern werden, wird die Messlatte unseres zukünftigen Selbstwertgefühls werden. Wie es sich noch Generationen später anfühlt, wenn die meisten angesichts so einer Schicksalsprüfung komplett versagen, sollten uns die Erfahrungen der Nazi-Zeit gelehrt haben. Allerdings sollte die Erinnerung an das Versagen der westlichen Welt, angesichts der jüdischen Flüchtlinge vor dem Nazi-Terror, auch andere Länder wie die USA und England dazu bewegen, ihre Flüchtlingspolitik zu ändern.

Wir brauchen kurzfristig Mut und Entschlossenheit zur Ersten Hilfe, mittel- und langfristig weltweite Gerechtigkeit. Wir brauchen die weltweite Herrschaft des Rechts, statt einer weltweiten Herrschaft des „Recht des Stärkeren“ mit inszenierten „Regime Changes“. Wir brauchen eine multipolare Welt mit einer Wirtschaftsordnung, die allen eine Perspektive bietet. Wir brauchen eine echte Friedenspolitik statt der machiavellistischen Perfiditäten der Welt-Hegemonialmacht USA mit ihren Angriffskriegen und ihrem Casino-Kapitalismus.

Das ist keine Utopie, sondern die einzig realistische Methode, eine friedliche Zukunft zu ermöglichen. Es ist die einzige wirksame Kur gegen Völkerwanderungen mit all ihren Folgeproblemen.

Ohne diese fundamentalen Veränderungen kann man nur Staudämme bauen, Druckgefäße und Auffangbecken – Bankrotterklärungen des Humanismus, Monumente unseres Versagens. Und sichere Rezepte für Explosionen und Überschwemmungen.

Es ist wichtig, dass unsere Problemlösung nicht nur aus Gefahrenabwehr besteht, sondern aus einem Konzept für eine bessere, gerechtere und vernünftiger regierte Welt. Ist es nicht erschreckend, wie wenig wir darüber diskutieren, was wir wollen, weil wir keine Hoffnung haben, dass sich irgendetwas an den bestehenden Verhältnissen ändert? Was ist eine Demokratie wert, die sich selbst nicht zutraut, die Verhältnisse zu gestalten? Wieso akzeptieren wir das Gestaltungsmonopol des Finanzkapitalismus? Das führt dazu, dass der falsche Teil der Bevölkerung Angst vor der Zukunft hat.

Die vor uns liegende Aufgabe ist sehr groß. Sie kann nicht nur von der Kanzlerin „Per ordre de Mutti“ verordnet werden. Sie muss vom Parlament beschlossen werden. Aber auch das reicht nicht, ist nicht wirklich angemessen.

Das Thema Flüchtlingspolitik braucht eine offene, verantwortungsbewusste Debatte in den Medien, eine Diskussion, in der wirklich alle Aspekte zu Wort kommen – und das nicht nur im Internet, sondern von Angesicht zu Angesicht, in Schul-Turnhallen, Uni-Auditorien, Bürgerhäusern und auf Marktplätzen.

Eine Schicksalsfrage dieser Bedeutung ist Stoff für einen Volksentscheid. Selbst wenn die Politik letztlich darüber entscheidet, wie unsere Flüchtlingspolitik aussieht: Sie braucht dafür einen breiten Bevölkerungs-Konsens als Legitimation. Von den Bürgern ist zu fordern: Nörgeln, wohlfeiles Schimpfen auf „Die da oben“ und der leichtfertige Ruf nach drakonischen Maßnahmen passen nicht zum Ernst der Lage!

Die Bürger müssen zeigen, dass sie wirklich Bürger sind, nicht nur Untertanen. Sie müssen zeigen, dass sie der vernunftbegabte Souverän ihres eigenen Staates sind. Keine leichte Aufgabe ohne Einarbeitungsfrist – aber: Wir schaffen das. Yes, we can. Nicht, wenn es von oben verordnet wird, aber es kann klappen, wenn es rundherum gemeinsam beschlossen wird.

Und wenn wir das schaffen – wer oder was hindert uns, das Prinzip der direkten Demokratie allgemeingültig einzuführen? Der Souverän sollte sich die Krone selbst aufsetzen. Er allein hat das Recht dazu.

Also: Wie wollen wir mit diesem Problem umgehen? Wie sieht unsere gemeinsame Strategie aus? Was ist unser gemeinsames Ziel? Wir haben ein Recht auf einen Volksentscheid, weil wir alle gemeinsam mit den  Konsequenzen und dem Urteil unserer Kinder über unsere Handlungen werden leben müssen – oder dürfen.

Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.
KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


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