Schaut nicht auf die Uhr, sondern schaut euch um

von Dirk C. Fleck.

In keinem Land der Welt gibt es pro Einwohner mehr Uhren im öffentlichen Raum als in Deutschland. Was sagt uns das? Dass es zu unseren Grundbedürfnissen gehört, immer zu wissen, was die Stunde geschlagen hat? Wohl kaum. Dass wir ohne die permanente zeitliche Verortung unsere Orientierung verlieren? Ich weiß es nicht. Welche Orientierung gäbe es denn zu verlieren? Es würde ja bedeuten, dass wir ein Ziel hätten, dass wir wüssten wohin die Reise gehen soll.

Mal ehrlich, haben Sie den Eindruck, dass unsere zerrissene, dem Abgrund entgegen taumelnde Gesellschaft ein solches Ziel auch nur ansatzweise ins Auge gefasst hat? Gerechtigkeit zum Beispiel. Frieden mit sich und der Natur. Oder Toleranz und Mitgefühl, um etwas kleinere Brötchen zu backen. Angesichts einer Situation, in der unsere von Psychopathen manipulierte Mediengesellschaft das Wort Krieg wieder prüfend in ihren Händen wiegt wie einen Kohlrabi auf dem Gemüsemarkt, ist der Wille, einen gemeinsamen Weg aus dem Dilemma zu finden, beim besten Willen nicht zu erkennen.

Was also könnte der Grund dafür sein, dass wir Menschen die von unseren Sinnen ganz anders wahrgenommene Wirklichkeit unter einem Zeitraster von Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren ersticken, sie sozusagen in ein DIN-Format pressen, in eine Einheitsnorm, die dem wilden Treiben des Lebens nicht ansatzweise gerecht wird. Warum glauben wir so unerschütterlich daran, dass Zeit eine objektive, messbare Größe ist, während unter den Zifferblättern ein Ozean unterschiedlichster Ereignisse und Empfindungen brodelt, die uns in jedem Moment bestätigen, was der griechische Philosoph Heraklit (520 v. Chr. – 460 v. Chr.) in der populären Kurzformel panta rhei („Alles fließt“) zusammen fasste. „Man steigt niemals zweimal in denselben Fluss,“ lautete seine simple Erkenntnis.

Und tatsächlich ist das Zeitempfinden eines jeden Menschen einzigartig und in keiner Weise mit dem eines anderen Menschen vergleichbar. Für jemanden, der auf dem elektrischen Stuhl schmort, fühlt sich eine Minute anders an als für jemanden, der sich vor dem Fernseher einen Werbespot reinzieht.

Der Autofahrer, der selbst bei Regen eine extreme Bodenhaftung verspürt, nimmt die Sekunden eines Überholvorgangs anders wahr, als sein Hintermann, der in die mit Wasser gefüllten Spurrillen geraten ist und nun die Kontrolle über sein Fahrzeug zu verlieren droht. Wenn zwei nebeneinander sitzende Fußballfans das selbe Spiel sehen, wobei der eine den Abpfiff herbeisehnt, weil sein Team mit einem Tor in Front liegt, während dem anderen die Nachspielzeit nicht lang genug sein kann, ist das Zeitempfinden der beiden zwar aufregend, aber in keiner Weise miteinander vergleichbar. Das gilt für alles, das gilt für jeden, das gilt immer. Man kann neben seiner Freundin bei geschlossenen Augen auf einer Frühlingswiese liegen und im gleichen Rhythmus atmen, wirklich  beieinander ist man in der Außenwelt nie. Es braucht sich nur eine Wespe kreiselnd zu nähern, und schon ist es vorbei mit der meditativen Muße, die allein in der Lage wäre, uns in einen zeitlichen Gleichklang zu bringen. Das passiert aber nicht, selbst wenn die Bedingungen günstig sind. Der Liebsten beginnt nämlich der Magen zu knurren, was ihr peinlich ist. Man glaubt gar nicht, wieviel Aufmerksamkeit und Energie so ein Knurren absorbiert, wie es einen aus der Zeit tragen kann …

„Wie spät ist es, Schatz?“ – „Halb drei.“ – „Dann sollten wir zurück zum Haus, deine Mutter wartet sicher schon“. – „Was?“ wundert sich die Mutter, „ihr seid schon wieder da?! Der Kuchen ist noch im Ofen…“

UND DOCH IST ES IMMER JETZT

Das Licht der Sonne braucht 8 Minuten, um die Erde zu erreichen. Wenn ich die Sonne ansehe, blicke ich also zurück in die Vergangenheit. Merkwüdig, alles braucht seine Zeit und doch ist es immer JETZT. Ich betrachte die Palme, die mir eine Freundin vor acht Jahren geschenkt hat. Damals war die Yucca fünfzig Zentimeter hoch, jetzt stößt sie mit den Spitzen an die Decke. Drei Meter ist sie gewachsen. Seltsam, der Wachstumsprozess war mir zu keiner Zeit bewusst geworden. Die Palme war immer so groß, wie ich sie gerade vorfand. Angenommen, man hätte sie über acht Jahre hinweg gefilmt, dann stünden jetzt 70 000 Stunden Material zur Verfügung. Aufschluss über ihr Wachstum aber gäbe der Film nicht. Eine Menge anderer Dinge würde man in der Wiederholung sehen. Mich zum Beispiel, ich wohne ja hier. Ich würde ständig durchs Bild laufen, man würde mich essen, arbeiten und lieben sehen, man würde Tage und Nächte vorbei streichen sehen, ganze Jahre, immer schön synchron, aber die Palme würde man nicht erblühen sehen. Dazu müsste man den Film durch den Zeitraffer jagen. Erst wenn man die acht Jahre auf eine Stunde verdichtete, könnte man die Yucca wachsen sehen. Das wäre dann immer noch ein bedächtiges Aufbäumen. Zentimeter für Zentimeter würde die Pflanze ihre Größe entfalten, während die reale Zeit zu einem nervösen Lichtgeflacker verkommen wäre. Von mir, die ich mit der Palme gelebt habe, fehlte gar jede Spur. Meine Bewegungen wären nicht registriert. Sie wären allenfalls ein dubioser Nebel, der sich kreisend über das Bild bewegte, ich  wäre ausgelöscht in der Welt des behutsamen Wachstums. Obwohl doch beide, die Pflanze und ich, zwei körperliche Wesen sind, obwohl wir beide in derselben Zeit am selben Ort existieren, wäre ich im Zeitraffer unsichtbar. Für die Yucca bin ich eine Ahnung, ein Hauch, mehr nicht. Sicher gibt es auch für uns Menschen handfeste Wesen, die wir auf Grund ihrer anders gearteten Geschwindigkeit nicht zu erkennen vermögen, während sie ihrerseits ganz praktisch mit uns umgehen. Wir nennen sie Geister…

Das Zeitraster, das wir unserer schillernden und nicht zu fassenden, weil im stetigen Wandel befindlichen Wirklichkeit übergeworfen haben, schafft seine eigene Realität. Das hilft uns, den Apfel vom Baum zu pflücken, den wir fürs überleben brauchen, wie der Quantenphysiker Walter Thurner sagt. Realität kommt vom lateinischen Res – das Ding. Der Mensch lebt in einer dinglichen Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit ist viel mehr als das.

Die Uhren hingegen lehren uns, dass das Leben linear verläuft. Daran glauben wir, daran halten wir fest, damit lässt sich alles berechnen und steuern, was unsere leistungsorientierte Konkurrenzgesellschaft an Willfährigkeit braucht, um weiter funktionieren zu können.

NICHTWISSEN – DER ZEMENT DER WAHRHEIT

Unsere Kultur (kann man überhaupt von einer solchen sprechen?) kennt keine Geheimnisse mehr. Der französische Dramatiker Antonin Artaud (1896 – 1948) unternahm 1936 eine Reise nach Mexiko, wo er einige Monate bei den Tarahumara-Indianern lebte. In seinem Buch „Revolutionäre Botschaften“  schreibt er: „Die Kultur ist ein raffinierter Erguss des Lebens im wachen Organismus des Menschen. Und das Leben – noch nie hat jemand sagen können, was das ist. Wenn man also versichert, im Menschen blühe ein ewiger Geist der Kultur, läuft das auf die Feststellung hinaus, der Mensch wisse nichts von den Quellen seines wahren Lebens. Gerade diese Demut bildet die Grundlage des Wissens. Mehr noch als Wissen stachelt Nichtwissen an, denn es legt eindringlicher als alles andere nahe, sich vor  Täuschungen in acht zu nehmen. Das Nichtwissen, aber ein erleuchtetes und bewusstes Nichtwissen, ist der Zement der Wahrheit“.

Wow! Dann lasst uns doch mal eine Kelle bewusstes Nichtwissen auf die Wahrheitsplastik klatschen. Die Zeit verläuft nicht linear, behaupte ich mal, sie ist kein Bindfaden, auf den wir die Daten unserer Geschichte aufreihen.

Die Zeit ist eine Kugel. Wenn eine Seele nach einem neuen Körper angelt, kann sie die Zeit betreten, wo sie will. Ich persönlich mag die Zeit nicht. Sie ist ein Parasit, sie braucht den materiellen Nachschub, damit sie überhaupt sichtbar wird.

Sie hängt den Körpern und Dingen wie eine Würgeschlange um den Hals. Im Meer der unendlichen Möglichkeiten, wie die Quantenphysik das allumfassende Ganze nennt, in dem alles gespeichert ist, was jemals von irgendeiner Kreatur gedacht oder gefühlt wurde oder noch gedacht oder gefühlt werden wird, spielt die Zeit keine Rolle, nicht die geringste.

„Das Leben zeichnet sich durch ständige Veränderung aus. Das gilt auch für unser Denken. Es ist häufig ebenso kurzlebig, ambivalent, kreativ und voller Möglichkeiten wie die Elementarteilchen,“ sagt Christine Mann, zweitjüngste Tochter des Physiknobelpreisträgers Werner Heisenberg, in ihrem Buch „Es werde Licht“. Das Buch, das sie zusammen mit Frido Mann, dem Enkel des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, geschrieben hat, will sie die Quantenphysik ins Zentrum einer neuen Gesellschaftsphilosophie rücken.

Ich formuliere da etwas schlichter. Der Tipp an meine Zeitgenossen lautet: Schaut nicht auf die Uhr, sondern schaut euch um. Schaut genau hin, denn bald gibt es euch nicht mehr. Nicht in dieser Form. Dann ist die Chance dahin, eure Seele mit purer irdischer Schönheit zu füttern und damit euch selbst. Denn eines ist klar: ihr lebt nicht in eurem Körper, euer Körper lebt und stirbt in euch. Und was er an Sinneseindrücken liefert, bestimmt die Leichtigkeit eures jetzigen und zukünftigen Seins.

EPILOG IN STICHWORTEN

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ALLES EINE FRAGE DER ZEIT …

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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