Saudi-Arabien steuert auf den Abgrund zu

von Petra Wild.

Am 15. September 2017 war die Spannung in Saudi-Arabiens Städten förmlich mit den Händen zu greifen. Überall war Polizei. Die „Bewegung 15. September“ hatte zu landesweiten Protesten aufgerufen.

Die Bewegung fordert Arbeitsplätze, bezahlbaren Wohnraum, politische Freiheiten und die Beendigung der Unterdrückung der Frauen. In Videoclips, die von saudischen Bürger/inne/n im Vorfeld ins Netz gestellt worden waren, wurde außerdem die Korruption der saudischen Königsfamilie und ihres Staatsapparates sowie die obszöne Kluft zwischen Armen und Reichen angeprangert. Während die Mitglieder der Königsfamilie goldene Autos fahren und König Salman während seines letzten Urlaubs in Marokko 100 Millionen Dollar ausgab, müssen zahlreiche Saudis ihr Essen im Müll suchen und auf der Straße leben.

Die Herrschenden reagierten auf den Protestaufruf mit Verhaftungen bekannter Oppositioneller und dem massiven Einsatz von Polizei. Jede kleine Menschenansammlung wurde sofort auseinandergetrieben. Nur in einem Fall kam zumindest kurzzeitig an einem nicht bezeichneten Ort – wie ein Videoclip dokumentierte – eine kleine Demonstration zustande. Die Parole der Demonstranten war in Anlehnung an die Parole der arabischen Aufstände von 2011: „Das Volk fordert den Sturz der Sauds.“

Obwohl die angekündigten Proteste sonst nicht zustande kamen, war der 15. September doch ein Ausdruck des zunehmenden Brodelns im Königreich der Familie Saud. In den sozialen Medien war das Interesse an dem Prostest sehr groß, viele Saudis unterstützten sie in kurzen Videoclips, in denen ihre Gesichter meist nicht zu sehen waren. Sogar einzelne Polizisten taten das.

Saudi-Arabien befindet sich gegenwärtig in der wahrscheinlich heftigsten Krise seit seiner gewaltsamen Gründung 1932. Diese Krise ist umfassend, sie betrifft die Außen- und Innenpolitik, sie ist wirtschaftlich und politisch zugleich. Das meiste davon ist hausgemacht.

Die saudische Politik ist, seitdem Salman Abdul-Aziz Anfang 2015 König wurde, geprägt von einem gefährlichen Mangel an Weitsicht und strategischen Denken, das von einer äußerst aggressiven Politik  nach Innen und Außen begleitet wird. Damit hat sich das Königreich in eine katastrophale Lage manövriert.

Die Misserfolge der saudischen Außenpolitik

Unter dem neuen König Salman, der den Thron Anfang 2015 bestieg und seinem Sohn, Kronprinz Muhammad Bin Salman, hat das wahhabitische Königreich in dem Bestreben, unangefochtene regionale Führungsmacht zu werden, begonnen, eine ausgesprochen aggressive Außenpolitik zu betreiben. Alle außenpolitischen Initiativen der saudischen Herrscherfamilie in den letzten Jahren endeten jedoch im Misserfolg. Der Krieg in Syrien, für dessen Initiierung und Fortdauer Saudi-Arabien durch die Förderung bewaffneter wahhabitischer Gruppen maßgeblich verantwortlich war, nähert sich seinem Ende und die Gewinner sind das syrische Regime, der Iran, Hizbollah und Russland.

Auch der seit März 2015 gegen das arme Nachbarland Jemen geführte brutale Krieg hat nicht zu dem gewünschten Ergebnissen geführt.  Statt die Ende 2014 gestürzte pro-saudische Regierung wieder einzusetzen, führt die Aggression zu einem ökonomischen Ausbluten des ohnehin schon wirtschaftlich angeschlagenen Königreiches. Die Houthis und ihre Verbündeten intervenieren kontinuierlich auf saudisches Territorium an der Grenze und beschießen immer wieder strategische saudische Einrichtungen im Landesinneren mit Raketen. Der Krieg ist längst zu einer Last für Saudi-Arabien geworden, aber es hat noch keinen Weg gefunden, ihn zu beenden, ohne das Gesicht zu verlieren.

Das letzte außenpolitische Abenteuer der Sauds – die Blockade gegen den Nachbarstaat Qatar unter dem Vorwand, dieser unterstütze den Terrorismus  – hat dem Königreich ebenfalls mehr geschadet als genutzt.

Die Blockade hat das Ziel, Qatar, das eine unabhängige und den saudischen Interessen teilweise widersprechende Außenpolitik betreibt, dazu zu zwingen, seine Souveränität aufzugeben und den saudischen Vorgaben zu folgen. Doch die Türkei und der Iran kamen Qatar zu Hilfe, auch die US-Administration unterstützte die Blockadepolitik wider saudisches Erwarten nicht.  Es gibt nach wie vor keine Anzeichen für eine Unterwerfung Qatars. Die Aggression gegen Qatar hat den Golfkooperationsrat (GCC), das regionale Bündnis unter Führung Saudi-Arabiens, gespalten und geschwächt. Auch die meisten anderen arabischen und muslimischen Staaten unterstützen die saudische Politik gegenüber Qatar nicht. Da der einst märchenhafte Reichtum Saudi-Arabiens rapide schwindet, hat das Königreich nicht mehr die Mittel, sich wie zuvor Loyalität und Gefolgschaft zu kaufen. Wie es aussieht, ist Saudi-Arabien schon dabei, die regionale Führungsmacht zu verlieren, noch ehe es sie ganz gewonnen hat.[1]

Von der Öl-Ökonomie zur neoliberalen Blasenökonomie 

Doch noch bedrohlicher für die Zukunft des saudischen Königshauses ist die innenpolitische Krise, die eine wirtschaftliche und politische zugleich ist.

Die Entscheidung Saudi-Arabiens im Herbst 2014, den Ölpreis  zu drücken, um dadurch internationale Konkurrenten, die mit kostenintensiveren Mitteln Öl fördern (USA, Kanada, Brasilien), auszuschalten und Staaten, die es als Gegner betrachtet wie der Iran, Venezuela und Russland zu schaden, hat sich als veritables Eigentor erwiesen. Auch hier zeigte sich die bemerkenswerte Kurzsichtigkeit der saudischen Planer. Statt von 115 Dollar auf 80 Dollar pro Barrel, wie von den Saudis kalkuliert, fiel der Ölpreis auf ungefähr 40 Dollar. Saudi-Arabien hatte die gleichzeitig statt findende Abschwächung der chinesischen Konjunktur übersehen, die den Ölpreis zusätzlich drückte. Der Ölreis hat sich sich zwar inzwischen etwas erholt, aber reicht nicht, um  die saudischen Ausgaben zu decken.

Saudi-Arabien benötigt dafür Einnahmen von mindestens 95 Dollar pro Barrel. So stieg sein Defizit rapide an. 2015 betrug es fast 100 Milliarden Dollar, das höchste Defizit in der Geschichte des Königreiches.

Das Königreich musste auf seine Währungsreserven zurückgreifen und auf den internationalen Finanzmärkten Geld leihen. Der Internationale Währungsfond (IWF) warnte im Herbst 2015, dass das Land seine finanziellen Reserven, die 2014 noch 740 Milliarden Dollar betragen hatten, in fünf Jahren aufgebraucht haben würde, wenn es seine Wirtschaftspolitik nicht ändere.[2]

So ließ Kronprinz Muhammad Bin Salman von der internationalen Consultingfirma McKinsey einen Plan für die neoliberale Umstrukturierung der saudischen Wirtschaft und Gesellschaft schreiben.

Dieser Plan wurde im April 2016 mit großem Hallo von Kronprinz Muhammad bin Salman unter dem Titel „Vision 2030“ vorgestellt. Vision 2030 soll die auf dem Ölexport basierende Ökonomie, der 80% der saudischen Einnahmen ausmacht, in eine neoliberale „Produktivitäts-Ökonomie“ verwandeln. Die Mittel dazu sind wie überall Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung, Abbau des öffentlichen Sektors, Ausbau des Privatsektors, Kürzung der Sozialausgaben und die Anwerbung internationaler Investitionen. Mega-Projekte und die Verfünffachung des Tourismus sind ebenfalls Eckpfeiler der neoliberalen Umstrukturierung Saudi-Arabiens. Der bislang relativ schwache Privatsektor soll bis 2030 65% der BIP erwirtschaften, die im Land arbeitenden neun Millionen Ausländer  durch Saudis ersetzt werden. Es wurde bereits verboten, dass in den zahlreichen Shopping Malls Ausländer arbeiten. In einem Interview mit dem britischen „Economist“ erklärte der Kronprinz, dass sein Wirtschaftsprogramm dem von Margret Thatcher in den 1980er Jahren im UK gleiche.[3]

5% des staatlichen Ölkonzerns ARAMCO sollen privatisiert werden. Bis 2020 soll die saudische Fluggesellschaft komplett privatisiert sein. Goldman Sachs wurde kürzlich mit der Privatisierung des zweitgrößten saudischen Flughafens – der King Khaled-Flughafen in Jedda – beauftragt.

Während die öffentlicher Güter im Eiltempo verkauft werden, verschlechtert sich die sozio-ökonomische Lage der Bevölkerung. Das Finanzministerium 2015 kündigte die drastische Kürzung der Subventionen für Elektrizität, Wasser, Diesel und Kerosin, auf die insbesondere die 25% der saudischen Bevölkerung, die in Armut leben, angewiesen sind, über einen Zeitraum von fünf Jahren an. Ende 2015 wurden die Benzinpreise um 40%  erhöht. Weitere Preiserhöhungen für Brennstoffe sind für Ende des Jahres angekündigt.4 Auf Zigaretten und Energy drinks wurde im Juni diesen Jahres eine Sondersteuer erhoben. die zur Verdopplung des Preises führte. Im kommenden Jahr soll in allen GCC-Staaten ein Mehrwertsteuer von 5% eingeführt werden. Etwa einer halbe Million Saudis wurden unter verschiedenen Vorwänden im letzten Jahr die Sozialhilfe entzogen. Die Gehälter der Angestellten im öffentlichen Sektor, der etwa 2/3 der saudischen Arbeitskräfte beschäftigt, wurden gekürzt und Neueinstellungen eingefroren. Doch diese Maßnahme vom September 2016, wurde im April und Juni 2017 vor dem Hintergrund wachsenden Unmuts in der Bevölkerung, der sich in wiederholten Aufrufen zu Protesten äußerte sowie in Vorbereitung der den Regeln der saudischen Thronfolge widersprechenden  putschartigen Ernennung Muhammad bin Salmans zum Kronprinzen – vorerst – wieder rückgängig gemacht.

Mit dieser Politik kündigt die derzeitige saudische Führung den seit dem Beginn des Erdölzeitalters geltenden Gesellschaftsvertrag auf. Die Bevölkerung bekam in Gestalt von hochbezahlten Jobs im öffentlichen Sektor und Subventionen einen Teil des Ölreichtums ab, und dafür akzeptierte sie politische Entmündigung und Rechtlosigkeit. Ein Teil der Bevölkerung wurde allerdings immer benachteiligt oder diskriminiert. Ersteres gilt vor allem für die Jugend, letzteres für die im Osten des Landes lebende schiitische Minderheit. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 30 %. Das ist um so brisanter, als Saudi-Arabien ein sehr junges Land ist. Fast 2/3 der Bevölkerung sind unter 30 Jahren. Für die unzähligen jungen Menschen, die jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängen, gibt es keine Jobs und auch sonst keine Perspektiven.[5]

Nun, da der Lebensstandard der Bevölkerung massiv beschnitten wird, sie erstmals Steuern zahlen und die “niederen“ Arbeiten übernehmen soll, für deren Verrichtung in der Vergangenheit billige und rechtlose Arbeitskräfte aus der arabischen Welt und Asien importiert worden waren, fordert sie „No taxation without representation.“

Seit dem ersten saudischen König Abdul-Aziz ibn Saud hatte die traditionellen Politik des Landes sich auf drei Pfeiler gestützt: Öl, Tribalismus und Wahhabismus. Diese Pfeiler sind ins Wanken geraten. Muhammad bin Salman will die Religion zur Seite drängen und die saudische Gesellschaft in eine Arbeits-, Konsum- und Unterhaltungsgesellschaft nach westlichen Vorbild verwandeln. Eine Demokratisierung ist nicht vorgesehen.

Gesellschaftliche Transformationen dieser Tragweite verlaufen nicht ohne politische Erschütterungen. Welche Gestalt diese annehmen werden, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.[6]

Quellen

[1]: Al-Rasheed, Madawi, 2017: A Saudi existential Crisis, Middle East Eye, 3.1.2017; Deen, Ebrahim; Jeenah, Naeem, Behind the Saudi-Qatari Spat and the Fragmentation of the GCC, Open Democracy, 19.6.2017; Rabbani, Mouin, Qatar, Saudi Arabia and the Gulf Cooperation Council Crisis, Jadaliyya, 22.6.2017; Law, Bill, Qatar and the GCC Feud: The Climb Down begins, Middle East Eye, 10.7.2017

[2]: Hallinan, Conn, The Saudis are stumbling. They may take the Middle East with them, The Nation, 12.11.2015; Ali, Abid, Saudi Arabia running on empty in five Years, Aljazeera, October 2015

[3]: Whitaker, Brian, The Clown Prince, Al-Bab, 9.1.2016; Kinnimont, Jane, Saudi Arabia faces its Future in Vision 2030 Reform Plan, Chatham House, 21.4.2016; Elmeshad, Mohamed, A new social and political Order for Saudi Arabia?, Carnegie Endowment, 12.1.2017; Kashan, Hillal, Saudi Arabia’S flawed “Vision 2013”, Middle East Quarterly, Winter 2017; Dickison, Elizabeth, Can Saudi Arabia’s young Prince wean the Welfare State ?, Foreign Policy, 5.6.2017

[4]: Aljazeera, Saudi Arabia hikes Petrol Prices by 40% at the Pump, December 2015; Mahdi, Wael; Nereim, vivian, Saudis may raise domestic Gasoline Prices by 80%, Bloomberg, 18.9.2017

[5]: Glum, Julia, Saudi Arabia’s Youth Unemployment Problem among King Salman’s many new Challenges, International Business Times, 23.1.2015

[6]: vgl. Nafeez, Ahmed, The Collapse of Saudi Arabia is inevitable, Middle East Eye, 28.9.2015; Al-Rasheed, Madawi, Four Ways Mohamed Bin Salman will change Saudi Arabia, Middle East Eye, 21.6.2017; Springborg, Robert, Saudi Succession Reshuffle: A Threat to the House of Cards, The New Arab, 21.6.2017; Tharoor, Ishan, The Rise of Saudi Arabia’s young Prince casts Shaodow over the Middle East, Washington Post, 22.6.2017; Middle East Eye, Saudi Arabia: The coming Civil War, 27.7.2017

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Petra Wild ist Islamwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Palästina-Frage sowie Widerstand und Revolution in der arabischen Welt. Sie ist Autorin der Bücher „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“ (Wien, 2013) und „Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung. Zur Zukunft eines demokratischen Palästinas“ (Wien, 2015)

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