Sanktionen bis zum Tod

Die Sanktionen der EU gegen Syrien haben eine furchtbare humanitäre Lage nochmals verschärft.

Von Karin Leukefeld.

Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Der Europäische Rat (1) hat seine „einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen“ (Sanktionen) gegen Syrien um ein weiteres Jahr bis zum 1. Juni 2020 verlängert. Die Maßnahme richte sich „gegen das Regime“ und stehe „im Einklang“ mit der EU-Syrien-Strategie (2), hieß es in einer Presseerklärung. Die Gewalt des „syrischen Regimes“ gegen die Zivilbevölkerung dauere an, die EU dagegen setze sich für eine „dauerhafte und glaubwürdige politische Lösung des Konflikts in Syrien gemäß der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats und des Genfer Kommuniqués von 2012“ ein.

Die EU-Sanktionen, die erstmals 2011 verhängt und seitdem ständig verschärft und erweitert wurden, beinhalten ein Erdölembargo, Investitionsverbote und das Einfrieren der in der EU gehaltenen Vermögenswerte der syrischen Zentralbank. Sie umfassen Ausfuhrbeschränkungen für Ausrüstung und Technologie, „die zur internen Repression verwendet werden können, sowie für Ausrüstung und Technologie zur Überwachung oder zum Abhören des Internets und von Telefongesprächen.“

Tatsächlich ist nahezu jede Art von Technologie ist davon betroffen: Ersatzteile und Werkzeuge für Textil- oder Druckmaschinen, für Fahrzeuge, für Flugzeuge, für die Stromversorgung, für medizinische Geräte und Rohstoffe aller Art.

269 Personen und 69 Unternehmen seien aktuell von den Strafmaßnahmen betroffen, „weil sie für das gewaltsame Vorgehen gegen die syrische Zivilbevölkerung verantwortlich sind, vom Regime profitieren oder dieses unterstützen und/oder mit diesem in Verbindung stehen.“ Fünf Personen und ein Unternehmen seien von der Liste gestrichen worden. Grund dafür ist, dass die fünf Personen gestorben und das Unternehmen aufgelöst worden sei.

Ob die UN-Kritik an den Sanktionen gegen Syrien berücksichtigt wurde, ist unklar. Unklar ist auch, wer genau die Entscheidung wie getroffen hat: Gab es ein Treffen, bei dem beraten und unterschiedliche Meinungen gehört wurden? Wurde eine Wiedervorlage abgehakt? Wurde telefonisch entschieden?

Der UN-Sonderberichterstatter über die Auswirkungen von Sanktionen, Idriss Jazairy, hatte bereits im vergangenen Jahr (2018) nach einem Besuch in Syrien erklärt, jeder einzelne Syrer und auch die Arbeit der Hilfsorganisationen seien von den Strafmaßnahmen betroffen. (3)

Die durch den Krieg entstandene Lage in Syrien sei „schrecklich“, so Jazairy, „aber ich will betonen, dass die Strafmaßnahmen die Lage nur noch schlimmer machen.“

Besonders „erschreckend“ sei, dass “die übermäßige Befolgung der Sanktionen humanitäre und wirtschaftliche Akteure dazu zwingt, irreguläre Mechanismen für die Bezahlung zu finden.“ Das erhöhe die Kosten, verzögere Lieferungen, vermindere die Transparenz und mache es manchen Unternehmen unmöglich, ihre Arbeit fortzusetzen.“ Nur wenige Tage nach seiner Erklärung vom 17. Mai 2018 verlängerte der Europäische Rat die Sanktionen bis zum 1. Juni 2019.

Stanislav Grosbic, Vorsitzender der tschechischen Parlamentariergruppe „Freundschaft mit Syrien“ erklärte gegenüber der Syrischen Nachrichtenagentur SANA in Prag am 14. Mai 2019, Ziel der Strafmaßnahmen sei es, den Wiederaufbau in Syrien und den Kampf gegen noch aktive Terroristen in Syrien zu behindern. Die EU stelle sich an die Seite der Terroristen in Syrien, wurde Grosbic von SANA zitiert. Die Strafmaßnahmen belasteten nicht nur Syrien sondern auch EU-Staaten. Syrien wende sich von der EU ab und nehme wirtschaftliche Beziehungen mit Russland, China, Indien und anderen Staaten auf.

Sanktionen und Hilfe — Zwei Seiten einer Medaille

Ein Blick auf die Webseite des Auswärtigen Amtes, Stichwort ‚Außenpolitik, Lage in Syrien‘ zeigt, dass die aktuelle Entscheidung in Brüssel dort keine Meldung wert ist. Stattdessen findet man ein ‚Factsheet Syrien“ in dem über „Hilfe für Syrien und seine Flüchtlinge“ aufgeklärt wird. Datum des ‚Factsheet‘ ist Februar 2018, das ist mehr als ein Jahr her (4).

Die humanitäre Hilfe hat sich demnach von 52 Millionen Euro im Jahr 2012 auf 720 Millionen Euro im Jahr 2017 erhöht. 44 Prozent dieses Geldes gingen 2018 nach Syrien, der Rest in die Nachbarländer und in die Region.

Zusätzlich zur humanitären Hilfe wird Geld für die „Stabilisierung“ zur Verfügung gestellt. Waren es im Jahr 2013 noch 59 Millionen Euro verringerte sich die jährliche Summe rapide in den Jahren 2014 und 2015 und lag 2017 wieder bei 41 Millionen Euro. Interessant ist die Erläuterung, die das Auswärtige Amt für die so genannte Stabilisierungshilfe gibt:

„STABILISIERUNG

Das Auswärtige Amt unterstützt politische Prozesse in Krisensituationen, um die Lösung von bewaffneten Konflikten zu fördern. Oft wird dabei eine Zentralregierung unterstützt wie im Irak, oder aber eine gemäßigte Opposition wie in Syrien. In Syrien wird beispielsweise mit den Mitteln für Stabilisierung der syrische Zivilschutz — die Weißhelme — mitfinanziert und es werden Verwaltungsstrukturen erhalten, damit in Abwesenheit des syrischen Staates kein völliges Vakuum entsteht. In Irak und Libyen wird etwa nach der Befreiung vom sogenannten Islamischen Staat möglichst rasch dafür gesorgt, dass unter anderem die Strom- und Wasserversorgung wieder funktioniert, damit Binnenvertriebene in ihre Heimatorte zurückkehren können und für die Menschen eine Friedensdividende spürbar ist.“

Große Summen flossen in die „Stabilisierung“ durch den Aufbau von Verwaltungsstrukturen in Idlib, heute wird das Gebiet überwiegend von Hayat Tahrir Al Sham (HTS), der Al Qaida-nahen „Allianz zur Eroberung von Syrien“, ehemals Nusra Front kontrolliert. Und nach der „Befreiung“ von Rakka versprach der damalige Außenminister Siegmar Gabriel der damals von den „Syrischen Demokratischen Kräften“ (SDF) kontrollierten Lokalverwaltung 10 Millionen Euro, um Strom- und Wasserversorgung wieder herzustellen und Minen zu entfernen.

Die USA schickte „Experten“, um der Zivilbevölkerung beim Aufbau von Verwaltungsstrukturen zu helfen. Vergleichbare Hilfe für den Teil des Landes, der von der syrischen Regierung kontrolliert und von der dort lebenden Bevölkerung als vom Krieg befreit angesehen wird, wurde — entsprechend der bereits oben erwähnten „EU-Strategie zu Syrien 2017“ — nicht angeboten.

Kriegswirtschaft — Wirtschaftskrieg

In Syrien sieht man den direkten Zusammenhang zwischen den Sanktionen und der „Hilfe“, die über UN- und internationale Organisationen im Land und in den Flüchtlingslagern um Syrien herum verteilt wird. „Warum hindert man uns daran, unser Land nach dem Krieg wieder aufzubauen?“, meinten Geschäftsleute, die die Autorin im April in Aleppo traf.

„Warum hindert man uns daran, Ersatzteile für unsere zerstörten Maschinen zu kaufen, Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe einzuführen?!“ Syrien habe erfahrene Ingenieure, die Häuser bauen könnten, Firmen, die Stromleitungen, Kabel herstellen könnten. „Man hat unsere Fabriken und Maschinen mutwillig zerstört und gestohlen“, fuhr ein Geschäftsmann fort und verwies auf die Plünderungen in den 17 Industriezonen in und um Aleppo durch die „Freie Syrische Armee“ 2012 und 2013.

„Anstatt dass man uns das Land wieder aufbauen lässt, schickt man Hilfsorganisationen, die dafür sorgen, dass die Menschen in den Notunterkünften und Zelten bleiben, dass sie von der Hand in den Mund leben“ und gerade genug hätten, um nicht zu sterben. „Wir können alles wieder aufbauen: Häuser, Fabriken, Krankenhäuser. Wir können den Menschen Arbeit geben. Aber Sie lassen das nicht zu!“

Zorn und Unverständnis über die EU-Strafmaßnahmen ist im ganzen Land zu hören. „Warum kommen keine Touristen nach Syrien?“, fragt ein junger Hotelinhaber, der während des Krieges zu den religiös geprägten Oppositionellen hielt. „Der Krieg ist fast vorbei, wir haben investiert, neue Lampen, Telefone montiert, Teppiche gelegt, gestrichen, neue Bettwäsche und Handtücher gekauft, aber aus Europa kommt niemand. Warum?“ Er ist erstaunt, zu hören, dass Fluggesellschaften aus Europa Syrien nicht anfliegen dürfen und Versicherungsfirmen Reisegruppen nicht versichern können, wegen der EU-Sanktionen. „Und warum machen sie das?“, fragt er ungläubig. „Weil sie den Präsidenten nicht mögen? Aber sie treffen uns damit, den Mittelstand, die einfachen Leute.“

In Aleppo stehen die Autos in langen Schlangen zwei- bis dreispurig vor den Tankstellen und warten auf Benzin. Die US-Administration hat das ohnehin bestehende Ölembargo im März 2019 weiter verschärft (5). Davon ist nicht nur Syrien, sondern auch der Iran betroffen, der seit Jahren Öl und Gas an Syrien liefert, weil der syrischen Regierung der Zugang zu den nationalen Energieressourcen östlich des Euphrat verweigert wird. Erst waren es die „moderaten Rebellen“ der „Freien Syrischen Armee“, die die Ölfelder besetzten. Die EU hob das 2011 über Syrien verhängte Ölembargo für diese Gruppen auf, so dass sie das syrische Öl sogar bis in die Türkei verkaufen konnten. Auf die „Freie Syrische Armee“ folgte der „Islamische Staat im Irak und in der Levante“, der schließlich von den syrischen Kurden mit Unterstützung der US-geführten „Anti-IS-Allianz“ vertrieben wurde.

Um den innersyrischen Bedarf mit Öl und Gas — das zum Kochen gebraucht wird — zu decken, ließ die Regierung in Damaskus sich auf einen Handel ein. Geschäftsleute kauften Öl von den jeweiligen Besatzern (Freie Syrische Armee, IS, Kurden), um es dann an die Regierung weiterzuverkaufen. Daraufhin warf die syrische Opposition im Ausland Damaskus vor, mit dem „IS“ zu kooperieren.

Weil ausländische Journalisten in Syrien an den Tankstellen bevorzugt behandelt werden, konnte die Autorin selber zu später Stunde den Andrang beobachten. Um Korruption und Auseinandersetzungen zu verhindern, wird die Verteilung der Benzinrationen — pro Auto 20 Liter alle 5 Tage, pro Taxi 20 Liter alle 2 Tage zum staatlich subventionierten Literpreis von 0,50 US-Dollar-Cent — von Vertretern des Stadtrates von Aleppo überwacht. „Sehen Sie genau hin und berichten Sie darüber“, meinte Vize-Gouverneur Mohammad Hamoush, der persönlich an diesem Abend die Tankstelle kontrollierte. „Das haben wir den Sanktionen der USA und der Regierungen in Europa zu verdanken.“

Zerstörung der Gesellschaft

Sanktionen befördern den Schwarzmarkt und so findet man außerhalb der Städte entlang der großen Verbindungsstraßen Jungen, die neben Kanistern sitzen und Benzin zu einem schwindelerregenden Preis von fast 1,50 US-Dollar verkaufen. In Damaskus wurde erstmals offiziell der Verkauf von Benzin zu diesem hohen Preis von der Regierung genehmigt, eine „Ausnahmemaßnahme in einer Ausnahmesituation“. Geschäftsleute erhalten die Genehmigung, Öl und Gas zu kaufen und in Syrien zu verkaufen, wie immer sie es ermöglichen können.

Ziel der Sanktionen und Ölembargos ist die Schwächung und Teilung Syriens durch den Westen. Um das Leid abzufedern — weil sonst noch mehr Flüchtlinge nach Europa kommen könnten — wird Hilfe an die Bedürftigen verteilt. In Syrien und in den Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien und Libanon. Unterstützung für die Rückkehr ist — obwohl die Bundesregierung sie vereinzelt fördert — politisch nicht vorgesehen.

„Sie holen die Menschen aus ihren Häusern und setzen sie in Zelte“, fasst ein Kritiker das humanitäre Engagement von UNO und privaten internationalen Akteuren zusammen.

„Sie machen die Menschen zu Bittstellern“, kritisierte schon 2012 die Oppositionspolitikerin Mouna Ghanem die Unterbringung in Flüchtlingslagern. „Die Menschen haben keine Arbeit, sie gewöhnen sich daran, mit Hilfsgütern versorgt zu werden.“

In den ländlichen Gebieten, in abgelegenen Dörfern habe es immer Ordnungsstrukturen gegeben, sagt eine Geschäftsfrau in Damaskus, die Frauen in ländlichen Gebieten von Idlib, Rakka und dem Umland von Aleppo jahrzehntelang für Textilarbeiten beschäftigt hatte. „Gab es Streit unter den Bewohnern, wurde der Mukhtar (Bürgermeister) eingeschaltet, der von allen gewählt und daher respektiert wurde.“ Die Menschen seien arm gewesen, aber sie hätten Würde gehabt, erinnert sie sich. Die Arbeit habe den Frauen Selbstbewusstsein gegeben. „Nun sitzen die Menschen in Lagern, in Notunterkünften und verwahrlosen.“ Traditionelle Strukturen würden zerstört, an die Stelle des Mukhtars seien diejenigen getreten, die Arbeit bei den internationalen Organisationen gefunden hätten.


Karin Leukefeld im Interview mit Sabine Kebir: Die Sanktionen bremsen den Wiederaufbau


Quellen und Anmerkungen:

  1. Der Europäische Rat ist das Organ der EU, das die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der Europäischen Union festlegt. Er setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission.
  2. https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/04/03/fac-conclusions-syria/
  3. https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=23096&LangID=E
  4. https://www.auswaertiges-amt.de/blob/2104518/fd5e53e4e9825c822a49ee3703ee1d2c/factsheet-syrien-data.pdf
  5. https://www.treasury.gov/resource-center/sanctions/Programs/Documents/syria_shipping_advisory_03252019.pdf

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Dieser Beitrag erschien am 25.05.2019 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

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Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Kommentare (3)

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