Provoziert Israel mit Angriffen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem eine neue Intifada?
von Petra Wild.
„Das Volk will die al-Aqsa befreien.“ (Palästinensische Parole in Jerusalem)
Der „Tag des Zorns“ am Freitag, den 21. Juli im besetzten Palästina gegen die israelischen Übergriffe auf die al-Aqsa-Moschee, war wahrscheinlich die größte politische Mobilisierung seit der Zweiten Intifada. Den Fotos und arabischen Fernsehberichten nach zu urteilen, muss das halbe Palästina auf den Beinen gewesen sein. Nicht nur in der Westbank und im Gaza-Streifen demonstrierten die Palästinenser, sondern auch innerhalb der Grünen Linie (Kernstaat Israel). Israel versuchte, die Demonstrationen und Freitagsgebete mit Gewalt zu unterdrücken, aber ohne Erfolg. Drei junge Palästinenser wurden in Jerusalem erschossen, einer davon von einem Siedler. Etwa 400 Palästinenser wurden verletzt. In Ost-Jerusalem versammelten sich Abertausende zum öffentlichen Gebet. Sie trotzten der israelischen Polizei und Armee, die Wasserwerfer, Tränengas, Blendgranaten und scharfe Munition gegen sie einsetzte. Von Jericho ganz im Süden der Westbank bis Qalqilia im Norden brannten die Barrikaden und an den Checkpoints lieferten sich die Schabab (die Jugend) heftige Schlachten mit der israelischen Armee. Der „Tag des Zorns“ war der vorläufige Höhepunkt einer Kampagne des zivilen Ungehorsams, die eine Woche zuvor begonnen hatte.
Am Freitag, den 14. Juli schloss Israel zum ersten Mal seit 1969 den Haram al-Scharif in Jerusalem, das Gelände auf dem die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom liegen. Zuvor hatten Palästinenser an einem der Zugänge zu dem Gelände zwei israelische Polizisten erschossen. Zwei Tage später wurde der Zugang wieder freigegeben, verbunden jedoch mit einer Veränderung des bis dahin geltenden Status quo. Die Gläubigen müssen nun, um auf das Gelände zu gelangen, elektronische Tore bzw. Metalldetektoren passieren. Außerdem wurde mit der Installierung von Kameras zur Überwachung des Geländes begonnen. Die Palästinenser/innen lehnen das ab. Sie sehen darin einen weiteren Schritt Israels, sich nach und nach die Souveränität über das Gelände mit den muslimischen Heiligtümern anzueignen. Aus Protest beten sie vor den Zugangstoren des Haram al Scharif und sind beständig in den Gassen um das Gelände herum in der Altstadt von Jerusalem präsent. Einige schlafen sogar dort. Versorgt werden sie von den in der Umgebung lebenden Palästinenser/innen. Jeden Tag kommen mehr Menschen zur al-Aqsa-Moschee, um diese zu verteidigen. Die Proteste reißen seit der Aufstellung der elektronischen Tore nicht ab. Überall in den 1967 besetzten Gebieten und unter den Palästinenser/innen innerhalb der Grünen Linie brennt die Luft. Es ist eine deutliche Zunahme der Konfrontation mit der israelischen Armee und Polizei zu beobachten. Beinahe jeden Tag gibt es Angriffe mit Autos, Messern oder Schusswaffen auf israelische Soldaten oder Siedlerkolonialisten. Der letzte Angriff dieser Art ereignete sich am Abend des 21. Juli, als ein junger Palästinenser in die Siedlung „Halamisch“ bei Ramallah eindrang und drei Siedler mit einem Messer tötete. Die Erschießung eines Palästinensers durch einen zionistischen Siedler nur wenige Stunden zuvor zeigt, dass in einem siedlerkolonialistischen Kontext Siedler nur bedingt als Zivilisten gelten können.
Siedlerkolonialismus in al-Quds/Jerusalem
Der Kampf um die al-Aqsa-Moschee findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Metalldetektoren sind nur der Gipfel der israelischen Judaisierungspolitik und der zunehmenden Angriffe auf den Haram al-Scharif. Seit der Besetzung der Stadt im Juni 1967 betreibt Israel dort eine intensive Politik des Bevölkerungsaustausches. Fortlaufend versucht es, durch eine Mischung aus administrativen Maßnahmen, wirtschaftlicher und geographischer Strangulierung sowie einer aktiven Vertreibungspolitik den Anteil der dort lebenden Palästinenser/innen zu reduzieren, und gleichzeitig die Zahl der zionistischen Siedler zu erhöhen. Obwohl Ost-Jerusalem 1980 annektiert wurde, sind die dort lebenden einheimischen Palästinenser/innen keine israelische Staatsbürger/innen. Sie haben lediglich den prekären Status von „Residenten,“ den sie regelmäßig erneuern müssen. Um diese Verlängerung des Aufenthaltsrechts zu bekommen, müssen sie nachweisen, dass sie alle Rechnungen bezahlt haben und dass Jerusalem ihr „Lebensmittelpunkt“ ist. Wenn jemand in einer anderen Stadt arbeitet, reicht das aus, um ihm das Aufenthaltsrecht zu entziehen. Das Aufenthaltsrecht wird auch nicht automatisch von den Eltern auf die Kinder übertragen. Wenn eine Hochschwangere überraschend im benachbarten Ramallah in die Wehen kommt und dort gebiert, bekommt ihr Kind kein Aufenthaltsrecht in Jerusalem. Wegen dieser israelischen Willkür werden nach Schätzungen der UNO etwa 20.000 Kinder in Jerusalem von Israel als „illegal“ angesehen. Diese Art von Einschränkungen und Willkür gilt selbstredend nicht für jüdische Israelis. Heute leben etwa 250.000 Siedler und 300.000 Palästinenser/innen in der Stadt, die für alle drei abrahamitischen Religionen eine besondere Bedeutung hat. Israel hat sich bereits 87% des Landes der Stadt angeeignet und einen Teil davon mit Siedlungen bebaut.
Palästinenser/innen hingegen erhalten kaum Genehmigungen für den Bau von Häusern, so dass sie ohne Genehmigung bauen müssen. Dadurch werden ihre Häuser illegal und können jederzeit zerstört werden. Ein Drittel aller Häuser in der Stadt ist von Zerstörung bedroht. Im Stadtviertel Silwan, wo 55.000 Palästinenser/innen leben, gibt es Zerstörungsbefehle für 65% aller Häuser. Aufgrund von Häuserzerstörungen in Jerusalem wurden seit 2000 15% der palästinensischen Bevölkerung Jerusalems vorübergehend obdachlos. Regelmäßig werden palästinensische Häuser von zionistischen Siedlern übernommen. Im Stadtviertel Scheikh Jarrah sind 25% der Palästinenser von Vertreibung bedroht, weil Siedler Anspruch auf ihr Land erheben. Der ehemalige Sonderberichterstatter der UNO für Menschenrechte in den 1967 besetzten Gebieten Richard Falk bezeichnete die israelische Politik in al-Quds als „schleichende ethnische Säuberung“. Fortlaufend werden bestehende zionistische Siedlungen ausgebaut. Je mehr zionistische Siedler in die Stadt kommen, desto größer wird die Gewalt, die diese gegen die einheimischen Palästinenser ausüben. Der grausame Höhepunkt der Siedlergewalt war die Entführung des 16jährigen Muhammad Abu Khdeir im Sommer 2014. Die Siedler flößten ihm gewaltsam Benzin ein und verbrannten ihn bei lebendigem Leibe. Hinzu kommen Angriffe auf die Kultur, Geschichte und arabische Identität der Stadt. Israel versucht diese alte vorwiegend muslimisch und christlich geprägte arabische Stadt in eine jüdisch-europäische Stadt zu verwandeln. Zu diesem Zweck werden nach und nach die Spuren der einheimischen palästinensischen Bevölkerung getilgt. Ihre Friedhöfe werden geschlossen oder zerstört, Straßenschilder hebräisiert, arabische Stadtviertel schleichend geräumt und durch jüdische ersetzt. Seit einigen Jahren unternimmt Israel Schritte, um sich nach und nach auch die Kontrolle über das Gelände des Haram al-Scharif anzueignen. [1]
Die Al-Aqsa-Moschee ist eine rote Linie
Die al-Aqsa-Moschee ist für Palästinenser, Araber und Muslime eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf. Die al-Aqsa ist nach Mekka und Medina das drittwichtigste Heiligtum des Islams. Für die Palästinenser/innen ist sie überdies eines der wichtigsten Symbole ihres Kampfes um Befreiung und Selbstbestimmung. Nach der Besetzung der Stadt im Juni 1967 traf Israel mit Jordanien die Vereinbarung, dass die Heiligtümer auf dem Haram al-Scharif von der jordanischen Waqf-Behörde, die für heilige Stätten zuständig ist, verwaltet und von Muslimen kontrolliert werden soll, sowie dass nur Muslime dort beten, aber Angehörige anderer Religionsgemeinschaften das Gelände besuchen dürfen. In den letzten Jahren untergräbt Israel diese Vereinbarung jedoch in zunehmendem Maße. [2] Ohne Absprache mit der muslimischen Verwaltung des Haram al-Scharif dringen jedes Jahr mehr Siedler unter massivem Polizeischutz auf das Gelände ein. 2012 gab es durchschnittlich alle zwei Wochen ein organisiertes Eindringen von zionistischen Siedlern unter dem Schutz der israelischen Polizei. 2013 fand dieses organisierte Eindringen alle 4 Tage statt, 2014 alle 2-3 Tage und seit 2015 täglich. [3] Daran beteiligen sich auch israelische Abgeordnete und Minister. Manchmal führen die Siedler auch religiöse Handlungen auf dem Gelände durch. Gleichzeitig wird der Zutritt zu den Heiligtümern für Musliminnen und Muslime immer weiter eingeschränkt. Hinzu kommen Grabungen unterhalb der al-Aqsa-Moschee, die deren Statik gefährden.
Viele der Siedler, die sich unter dem Schutz der israelischen Polizei Zutritt zum Haram al-Scharif verschaffen, gehören zu der sehr starken, staatlich unterstützten national-religiösen „3. Tempel-Bewegung“, die fordert, dass Israel seine Souveränität auf den Haram al-Scharif, der von Juden „Tempelberg“ genannt wird, ausdehnt und den Juden dort das Beten erlaubt. Einige dieser Gruppen fordern offensiv die Zerstörung der al-Aqsa-Moschee und des Felsendoms und die Errichtung des „3. Tempels“ an ihrer Stelle. 2015 erklärte die damalige Außenministerium Tzipi Hotovely in einem Fernsehinterview, dass sie davon träume, die israelische Flagge über dem „Tempelberg“ wehen zu sehen. Sie nannte diesen sogar den Mittelpunkt der israelischen Souveränität. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestages der Besetzung Ost-Jerusalems, erklärte Ministerpräsident Netanjahu im Juni diesen Jahres, dass der Haram al-Scharif „für alle Zeiten unter israelischer Souveränität bleiben“ würde. [4]
Angriffe auf den 1967 ausgehandelten Status Quo führten auch in der Vergangenheit zu Unruhen. Die Öffnung der unterhalb der al-Aqsa gegrabenen Tunnel für Besucher führte 1996 zu einer kurzen, aber heftigen Erhebung, bei der mehrere Palästinenser getötet wurden. Das Eindringen des Oppositionspolitikers Ariel Scharons unter massivem Polizeischutz auf dem Haram al-Scharif im Herbst 2000 war der Auslöser für die 2. Intifada. Israelische Übergriffe auf das Gelände waren im Oktober 2015 neben der stark angestiegenen Siedlergewalt der Hauptgrund für den Ausbruch der „Jerusalem-Intifada,“ deren intensivste Phase bis Frühjahr 2016 dauerte, die aber seitdem mit niedriger Intensität anhält. [5]
Am 21. Juli beschloss die israelische Regierung entgegen der Empfehlung des israelischen Inlandsgeheimdienstes, die elektronischen Tore stehenzulassen. Der Inlandsgeheimdienst hatte geraten, sie abzubauen, da die Gefahr einer Eskalation zu groß sei. Die israelische Regierung nimmt eine solche offensichtlich billigend in Kauf. Aber wie sie oft, könnte sie sich verschätzen, was die mögliche Dimension dieser Eskalation angeht. Die bewaffneten Widerstandsorganisationen im Gaza-Streifen haben bereits angekündigt, dass sie nicht untätig bleiben werden, wenn Israel die Lage weiter zuspitzt. Der zivile Ungehorsam in Jerusalem geht weiter, die täglichen Konfrontationen mit der israelischen Armee in der Westbank gehen ebenfalls weiter. Seit der Mini-Intifada im Oktober 2015 lässt sich auch eine wachsende Beteiligung der Palästinenser/innen innerhalb der Grünen Linie an den Kämpfen beobachten.
Die Zeichen stehen auf Sturm
Wenn Israel nicht von seiner harten Haltung abgeht und weiter auf den Metalldetektoren besteht, könnte sich eine dritte palästinensische Intifada entwickeln. Die Palästinenser/innen werden an diesem Punkt nicht zurückweichen: Die militanten Proteste und bewaffneten Angriffe auf Soldaten und Siedler werden zunehmen. Möglicherweise wird auch der bewaffnete Widerstand im Gaza-Streifen an einem bestimmten Punkt eingreifen. Die Lage wird wahrscheinlich eskalieren. Und wenn die dritte Intifada kommt, wird sie ganz anderes sein als ihre beiden Vorläufer. Aufgrund der Kollaboration der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Israel wird sich nicht nicht nur gegen den zionistischen Siedlerkolonialismus richten, sondern auch gegen die Palästinensische Autonomiebehörde und die Oslo-Abkommen. Dann wird eine neue Generation von Palästinenser/innen die Führung übernimmt.
Die ansatzweise Reorganisierung des palästinensischen Befreiungskampfes durch die palästinensische Jugend hat bereits mit der Mini-Intifada vom Oktober 2015 begonnen. Diese Reorganisierung findet nicht nur in der Westbank und im Gaza-Streifen statt, sondern umfasst auch die Palästinenser/innen innerhalb der Grünen Linie. Zum ersten Mal seit der ethnischen Säuberung 1948 versuchen alle Teile der palästinensischen Bevölkerung auf dem Territorium ihres historischen Landes gemeinsam einen Weg zu finden, der sie vom zionistischen Siedlerkolonialismus befreien und die Rückkehr der Flüchtlinge vorbereiten kann.
Quellen
[1] Wild, Petra, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Wien 2013, Kapitel: Ethnische Säuberung und Zerstörung der historischen Stadt in al-Quds/Jerusalem, S. 159-182
[2] Hawwash, Kamel, Al-Aqsa Attack: Palestinians all but abandoned, Middle East Eye, 17.7.2017; Ir Amin, All you need to know about Tensions at Jerusalem’s holiest Site, 972 Magazine, 20.7.2017
[3] UN OCHA OPT, Humanitarian Bulletin, Monthly Report, October 2014
[4] Philip Weiss, Video: Two prominent Israelis envision replacing Dome of the Rock with Jewish Temple, Mondo Weiss, 27.10.2015; Baroud, Ramzy, How Trump and Natanyahu pushed the Palestinians into a Corner, Middle East Monitor, 17.7.2017
[5] Wild, Petra, Ein Jahr nach dem Mini-Aufstand – Habba Scha’biyya im besetzten Palästina, Inamo 88, JAhrgang 22, Winter 2016, S.27-30
Petra Wild ist Islamwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Palästina-Frage sowie Widerstand und Revolution in der arabischen Welt. Sie ist Autorin der Bücher „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“ (Wien, 2013) und „Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung. Zur Zukunft eines demokratischen Palästinas“ (Wien, 2015)
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