Probleme vergesellschaften, Frust politisieren

von Susan Bonath.

Die NRW-Wahl zeigt es: Gefühlsentscheidungen ersetzen nicht politisches Bewusstsein. Wir müssen raus aus der Individualisierung. Viele kleine Einzelsorgen haben dieselbe Ursache: Das System. Für ein gemeinsames Ziel gilt es das zu erkennen.

Wer hätte das gedacht: In Nordrhein-Westfalen (NRW) rauschen Neoliberale und Rechtskonservative nach oben. Die CDU dominiert die nächsten Jahre am Fresstopf des politischen Personals der Oligarchen. Ihre kleine radikale Schwester AfD kriegt noch gute Brocken ab, der FDP gelang ein ungeahnter Höhenflug aus der Versenkung. Wie konnte das passieren in einem Landstrich, in dem historisch über einen langen Zeitraum das Arbeitermilieu – zum Beispiel im Kohlebergbau – weite Teile dominierte?

Im Land der Analysen und Statistiken geht kaum etwas unter, wenn man die wachsende Zahl an Obdachlosen außen vor lässt. Tagein, tagaus, zu jedem erdenklichen Ereignis erforschen Meinungsforscher den Bewusstseinsstand der Untertanen. Die herrschende Klasse und ihre politischen Propaganda-Abteilungen brauchen die Daten für ihre psychologische Kriegsführung zum Erhalt der Zustände.

Das Institut infratest dimap hat für die ARD analysiert, welche Schicht in NRW wie gewählt hat. Mal davon abgesehen, dass jede Wahl dem ohnehin praktizierten System einen demokratischen Anstrich verpasst, den es nicht verdient hat, geben die Ergebnisse zumindest Hinweise auf das allgemeine Bewusstsein.

Danach gewann die CDU am meisten Stimmen von Beamten, Selbständigen und Rentnern. 38 bis 43 Prozent dieser Gruppen stimmten jeweils für die »Schwarzesoteriker«. Bei den Angestellten hielten sich CDU und SPD mit je rund 30 Prozent die Waage.

Bei den Arbeitern und Erwerbslosen dominierte die SPD mit 35 bzw. 41 Prozent gegenüber der CDU (24 bzw. 22 Prozent). Dass diese Partei längst von der ursprünglichen Sozialdemokratie ins neoliberale Lager abgewandert ist, sei dahin gestellt. Vergessen werden darf hier nicht, dass sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Strukturen im Ruhrpott sich über lange Zeit verfestigt haben.

Die Linke punktete bei den Erwerbslosen am meisten, wenngleich das Ergebnis in Anbetracht ihrer postulierten Ziele mit neun Prozent noch immer kläglich ausfiel. Das dürfte nicht unwesentlich an ihren mangelndem Bezug zu dieser Schicht, die sie eigentlich vertreten sollte, liegen. In Thüringen, Brandenburg und Berlin gibt sie zudem ein Musterbeispiel einer systemkonformen Mitläuferin ab.

Wie zu erwarten war, verdankt die FDP ihren Erfolg vor allem den Selbständigen (21 Prozent), gefolgt von Rentnern, Angestellten und Beamten. Dass es eine Angstwahl war, beweist vor allem die AfD. Die meisten Stimmen holte sie laut infratest bei Arbeitern (17 Prozent). Das verwundert nicht: Es ist die Schicht, die am meisten (berechtigte) Angst vor dem Absturz hat. Natürlich ist es dennoch paradox, dann eine Partei zu wählen, die die Reichensteuern teils weiter senken, teils ganz abschaffen will.

Sind Arbeiter schon abgestürzt in die Erwerbslosigkeit, könnte man meinen, setzt ein partielles Denken bei manchem wieder ein. Doch immer noch kam die AfD in dieser Gruppe auf neun Prozent. Auch hier dürfte die Angst dominieren – vor dem geschürten Feindbild Flüchtlinge. Der Verteilungskampf ganz unten lässt noch immer viele Betroffene vergessen, dass die AfD Hartz IV inklusive Sanktionsregime erhalten und das wenige, was jetzt noch unten ankommt, noch rigoroser nach oben umverteilen will.

Individualisierte Probleme mit einer Ursache

Wahlentscheidungen folgen vor allem dem Gefühl. Der gefühlten Bedrohung, dem gefühlten Frust, der gefühlten Angst, der gefühlten Wut. Denn was die NRW-Wahl auch zeigt: Das politische Bewusstsein der Lohnabhängigen tendiert gen Null. In Scharen haben sie Vertretern des Kapitals Posten beschert. Nichts liegt ihren Interessen ferner.

Was mir immer wieder auffällt: Die meisten Menschen fühlen sich in einer Position, die absolut nichts mit der Realität zu tun hat. Ihr tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis innerhalb des Systems erfassen sie nicht. Hinzu kommt: Probleme werden individualisiert und völlig losgelöst von allen politischen Zusammenhängen betrachtet. Diese Art der Entpolitisierung des Lebens hilft dem System, die Verhältnisse zu verschleiern.

In meiner sachsen-anhaltischen Kleinstadt zum Beispiel haben viele Leute sehr unterschiedliche Sorgen. Es gibt Überlegungen, städtisches Gartenland als Bauland zu verkaufen. Die Pächter – manche Familien bewirtschaften den Garten schon seit einem halben Jahrhundert – bangen um ihre günstige Minioase.

Im ortsansässigen Logistikunternehmen Hermes – eine 100-prozentige Tochter des Versand-Imperiums des Multimilliardärs Michael Otto – gehen die Beschäftigten in der Produktion mit kaum 1.000 Euro nach Hause. Die Leiharbeiter bekommen für ihre Schichtarbeit noch weniger. Gefühlt die halbe Stadt arbeitet bei Hermes – vor allem Frauen. Eine sagte kürzlich, man werde sogar zur Rede gestellt, wenn man mal krank war.

Manche Eltern fühlen sich genervt von verdreckten Spielplätzen. Ausweichmöglichkeiten für die Kleinen gibt es nicht. Denn es gibt kaum Spielplätze. Sie klagen über Müll, kaputte Klettergerüste, Katzen- und Hundekot im Sand. Niemand kümmert sich darum. Die Stadtverwaltung hat andere Probleme.

Ob Kleingärtner, Eltern kleiner Kinder oder Hermes-Beschäftigte: Mögen die Sorgen auch noch so unterschiedlich wie kleinbürgerlich anmuten – sie alle haben einen Bezug zum Gesamtproblem, genauso wie die NATO-Kriege, die wachsende Zahl von Obdachlosen, die Hartz-IV-Repressionen und der sich ausweitende Niedriglohnsektor. Das Gesamtproblem heißt Kapitalismus.

Bleiben wir bei den Kleingärtnern: Warum will die Stadt die günstigen Parzellen an Investoren verkaufen, die darauf Häuser stellen, in die möglichst gut betuchte Mieter einziehen sollen? Ganz einfach: Die kommunale Kasse ist klamm. Die Stadt braucht Geld, um ihre Schulden samt Zinsen zugunsten wohlhabender Privatpersonen abtragen, ihre Pflichtausgaben finanzieren und die Jugendclubs am Leben halten zu können. Jeder braucht im Kapitalismus Geld, auch finanzschwache Kommunen. Wenn es sich allerdings bei wenigen zusehends sammelt, bleibt immer weniger für den Rest übrig – eine einfache Rechnung.

Am selben Finanzdesaster hängt die Stadtreinigung. Ihr fehlt das Personal, das regelmäßig die Spielplätze säubern kann. Mehr Leute einstellen kann sie nicht – obwohl rund ein Zehntel der Einwohner von Hartz IV lebt und einen Job gebrauchen könnte. Das würde ihr Budget sprengen. Ordentlicher Nachschub für die Kasse von Bund oder Land bleibt aus. Die Finanzen haben sich schon ein anderes, ein privates Zuhause gesucht, dank – klingt es angesichts der kommunalen Nöte auch paradox – der Mithilfe des Staates.

Darüber, dass Lohnabhängige im Niedriglohnland Sachsen-Anhalt, die nicht wie viele ihrer Leidensgenossen auf der Suche nach einem neuen Job durch das Deutschland pilgern wollen, selten eine andere Chance haben, als sich von Multimilliardär Michael Otto ausbeuten zu lassen, muss ich nicht mehr reden. Genauso klar ist mir, dass meine 82-jährige Nachbarin in ihrem Leben keine Aussicht mehr darauf haben wird, irgendwann merklich mehr Geld als ihre Minirente von 719,43 Euro im Portemonnaie zu haben, um nicht nur gerade so existieren, sondern noch einmal leben zu können.

Das Wirrwarr der Probleme ist breit gefächert. Worüber wir reden müssen, ist die Ursache. Warum kommt das Geld nicht unten an? Warum streiten wir uns um immer kleinere Brocken? Warum wird alles vermarktet, selbst das kleinste Stück Gartenland? Warum verdrecken unsere Städte, während die Reichen ihre Villen von Angestellten pflegen lassen? Warum treiben Milliardäre ihre Profitrate mit mies bezahlten Arbeitern, teils subventioniert durch staatliches Hartz IV, immer weiter in die Höhe? Warum zieht die Bundeswehr in immer neue Kriegseinsätze und probt schon für die Aufstandsbekämpfung im Inland?

Die Antwort ist nicht schwer: Weil die kleine reiche Klasse Interesse am Profit aus allem hat. Und weil ihre Propaganda- und Exekutivabteilung, das Gros des »demokratisch gewählten« bezahlten Politpersonals, ihre Interessen auf Biegen und Brechen durchsetzt. Dazu ist sie da. Die pseudohumane Gefühlsduselei letzterer kann getrost als dümmliche Propaganda verbucht werden. Die Masse ist in den Handelsbilanzen ein Kostenfaktor; Humankapital – nicht mehr, nicht weniger. Es geht darum, zugunsten weniger die globalste und gefährlichste Religion am Kochen zu halten: Den »allmächtigen Markt«, den großen Gott des Kapitalismus.

Den Frust politisieren

Die Menschen müssen raus aus dem pausenlos von oben postulierten Ammenmärchen von einem unpolitischen Leben. Unsere Lohntüten, unsere Kneipenbesuche, die armen Schlucker, denen wir auf der Straße begegnen, unser cholerischer Chef, das vermüllte Wohnviertel, die verscherbelten Kleingärten: Alles ist Politik. Der Kapitalismus ist Politik, denn die Politik setzt ihn gegen die Interessen der Mehrheit durch. Der Kapitalismus begegnet uns überall. Das Leben jedes Einzelnen hängt an seiner Privatwirtschaft, daran, wem sie gehört, wem sie dient, wer mit ihr Profit macht. Wir stehen alle auf der Bühne, als »Marktteilnehmer«; die einen herrschen, die meisten gehorchen.

Wir brauchen Zirkel. In jedem kleinen Kaff. Wir müssen den Frust politisieren. Auf rein moralische Erklärungen kann es keine politisch relevante Antwort geben. Wenn jemand nur Mitleid mit dem Bettler hat, wird er ihm zu essen geben, aber kein Ziel daraus ableiten. Wer den Krieg nicht will, aber das System nicht als Ursache begreift, wird in moralischen Bekundungen stecken bleiben. Der schlecht bezahlte Lohnarbeiter wird sich in seinem Ärger verkriechen, vielleicht nach einer neuen Stelle Ausschau halten. Aber den Kampf gegen die Verhältnisse, die ihm zu schaffen machen, wird er anderen überlassen.

Doch würde die frustrierte Kleingärtnerin ihren Verlust als politische Enteignung zugunsten der irren Kapitalakkumulation begreifen, kann sie Friedensaktivisten, Kapitalismusgegner, Niedriglöhner und Erwerbslose als Partner im Kampf gegen denselben Feind erkennen – und umgekehrt. Kann der kleine selbständige Handwerker die zerstörerische Konkurrenz, der er sich ausgesetzt sieht, als Systemproblem verorten, kann er zum selben Ziel kommen, wie die Anti-Hartz-Aktivistin. Aus dem Kampf gegen verdreckte Spielplätze kann ein Kampf für gesellschaftlich verwaltetes Gemeineigentum werden – und gegen eine überschaubare, profitierende Elite.

Politische Erkenntnis holt Probleme und Menschen aus der Vereinzelung. Sie verortet Ängste und schafft dauerhafte Solidarität dort, wo heute Spaltung herrscht. Spontane Gefühle und Ängste kommen und gehen, sind leicht zu manipulieren und zu steuern. Politische Erkenntnis hingegen kann größere Teile einer Gesellschaft zum Klassenkampf befähigen.

Wer will es heute noch bestreiten?: Die von Sozialdemokraten gepredigte »Sozialpartnerschaft« zwischen Bonzen und Malochern ist gründlich gescheitert. Es herrscht Klassenkampf von oben. Dagegen gilt es sich zu stemmen. Doch ohne fortschreitenden Erkenntnisprozess über die realen Verhältnisse wird es keine revolutionäre Situation geben, die dies ermöglicht.

Die Parole muss letztendlich heißen: Enteignet die Reichen, gründet Gremien, um Produktion, Arbeitsteilung und Verteilung gemeinschaftlich zu verwalten. Wirtschaft kann nur allen dienen, wenn sie allen gehört. Andernfalls wird der Kapitalismus auf seinem zerstörerischen globalen Siegeszug weiter triumphieren und Opfer ohne Ende produzieren.

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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