Die Pathologie des Kapitalismus

Von Susan Bonath.

Konsumieren und vermarkten: Wie das System uns zu eisenharten, empathielosen Darwinisten macht

Keine Brücke in Berlin ohne Obdachlose, kein Bahnhof ohne Bettler und Flaschensammler: Obwohl die Menschheit so viel produziert wie nie, wächst vor unseren Augen, mitten im »goldenen Westen«, eine abgehängte, verarmte Schicht zu einer Masse heran. Es liege an ihrer Faulheit, schieben Politik und Medien den Betroffenen selbst die Schuld in die Schuhe. In aller Öffentlichkeit und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, hetzen Politiker und Medien gegen Arme mit Beleidigungen wie »Hartz-IV-Schmarotzer«, »Faule Grippel« (CSU), »Parasiten« (Volkwirt und Professor Hans-Hermann Hoppe in »Eigentümlich frei«) und »Arbeitsverweigerer« (Wissenschaftlicher Beirat des Bundesfinanzministeriums 2008).

Möglich ist das, weil der größte Teil der Gesellschaft Abgehängte als neues Feindbild akzeptiert. In Kommentarspalten von Onlinemedien wird unzensiert verlangt, Betroffene verhungern zu lassen oder sie in Arbeitslager zu stecken. Bildkommentator Jan W. Schäfer drückt derlei Fantasien gegenüber seiner Millionenleserschaft zwar weniger drastisch aus, meint aber mit Sätzen wie »Wer sich weigert, verwirkt sein Recht auf Stütze« (15. November 2016) dasselbe.

»Pragmatisch-zynische Tauschmaschinen«

Der Aufschrei bleibt aus. Auch wer mit einem Bein selbst schon im Abgrund steht, tritt nach unten. Das Hauen und Stechen um den Erhalt der eigenen, unsicheren, kärglichen Position und die Abwehr des totalen Absturz wird immer brutaler. Buckeln und boxen, totale Selbstausbeutung und -vermarktung, vollständige Identifikation mit dem Markt bis zur Selbstaufgabe, stetes Heischen nach Anerkennung in einer seelenlosen Geldwirtschaft: Die permanente kapitalistische Konkurrenz hat die intimsten Lebensbereiche längst durchsetzt. Zwischen Glitzer und Marktgeschrei, obszönem Reichtum und Dumpinglohnprostitution, Hamsterrad, Kaufrausch und Selbstbefriedigung in sozialen Netzwerken gedeiht eine rabiate Gleichgültigkeit, ein pathologischer Sozialdarwinismus, der an dunkelste Zeiten erinnert.

Die Ideologie dahinter: Wertvoll sei nur, wer dem Markt am effektivsten dient. Wer nicht mithält, sei ein Nichtsnutz, der erzogen, drangsaliert, notfalls ausgemerzt gehöre. Menschlich wertvolle Eigenschaften, wie Empathie, Uneigennützigkeit, ziviler Ungehorsam gegen Ungerechtigkeit und Mitgefühl pflegen nur »Sozialromantiker von gestern«, wie es jüngst die Bild ausdrückte.

Es ist längst geschehen: Die Gesellschaft selbst ist zum reinen Markt verkommen. Individuen agieren als »pragmatisch-zynischen Tauschmaschinen, deren Verkehr untereinander von störenden Gefühlsbeimengungen bereinigt wird« (Götz Eisenberg). Schon Adorno erkannte eine systembedingte »bürgerliche Kälte«. Marx sah die Ursache in einer zunehmenden Dominanz des abstrakten Tauschwerts gegenüber dem Gebrauchswert. Der Unterschied zwischen handelnden Subjekten und getauschten Objekten verschwimmt selbst im Blick auf uns selbst. Marx wusste schon vor 150 Jahren: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das bedeutet: Die jeweils realen Lebensbedingungen bestimmen unser gesamtes Denken und Verhalten. Feste Glaubensmuster, entstanden durch eingeengte Handlungsoptionen, graben sich in unsere Psyche ein, beherrschen unser Weltbild und werden an die nächste Generation weitergegeben.

Wenn wir betrachten, wie Abgehängte, etwa Obdach- und Erwerbslose, die der vollautomatisierte, geldbeherrschte Markt erst produziert, als störende Parasiten empfunden werden und man Besitzlosen ungerührt beim Verhungern oder Erfrieren zuschaut, blicken wir in das Gesicht der Pathologie des Kapitalismus: Ein hegemonialer, psychopathisch abgestumpfter Sozialcharakter macht sich breit.

Die narzisstische Gesellschaft 

Der eher konservative Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz sieht die Gesellschaft auf dem Weg in die »Narzismussfalle«. Narzissmus als Persönlichkeitsstörung breite sich in der Gesellschaft aus. Ursache seien durch Fehlidentifikation des »Ichs« erworbene Selbstwertstörungen. Der narzisstische Mensch sei »im Kern ein um Anerkennung ringender, stark verunsichertes Wesen«. »So tut er alles, um die Bestätigung, der er zum Leben braucht, zu erhalten«, schreibt Maaz. Um sein gestörtes Ich-Gefühl zu kompensieren, benötige er ständig erweiterte Ablenkung durch Konsum, Besitz, Animation und Aktion. Gier nach Geld oder anderen Lebensvorteilen sei keine spezifische Charaktereigenschaft, glaubt Maaz. Vielmehr sei sie ein »zentrales Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit der meisten Bürger in Industriegesellschaften«, wenngleich sie an den Schaltstellen der Macht noch geballter vorkomme.

So wird schon das Kind darauf getrimmt, mitzuhalten in einer Ökonomie, die immer höhere Leistungen abverlangt und Menschen immer rabiater nach Effizienz sortiert. Konkurrenzkampf gegen jeden wird antrainiert. Eltern geben so ihre eigenen Absturzängste und narzisstischen Defizite an das Kind weiter. Mit Höchstleistungen in allen Bereichen soll es möglichst oben bleiben. Zugleich benutzen Eltern ein Kind nicht selten – meist unbewusst – als Objekt der Selbstbestätigung und -aufwertung. Leistungsversagen wird mit Liebesentzug bestraft. Jedes Scheitern wird zur Katastrophe, die den sozialen Status massiv gefährdet. Minderwertigkeitskomplexe summieren sich. Daraus erwächst eine narzisstische Wut, die den Blick auf andere nicht zulässt. Nur so können Betroffene Versagensgefühle und -ängste kompensieren. Mithalten in einer immer schnelleren, flexiblieren, durchökonomisierten Gesellschaft wird zum einzigen Wertmaßstab.

Schon der 1980 verstorbene Psychoanalytiker Erich Fromm warnte vor pathologischen Folgen durch zunehmendes Abdriften der Individuen in den einen Konsumismus. Je stärker sich der Mensch über das Haben statt das Sein definiere, desto weniger sei er zur Empathie fähig. Er vereinzele, werde zum Konkurrent aller anderen und seiner selbst. Die Härte, mit der er sich selbst be- und abwerte, münde in Härte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Am Ende verliere er sein Ich und werde psychisch krank. Denn die vom System geschürte Egomanie widerstrebe der eigentlich sozialen Natur des Menschen.

Die Soziologin Nathalie Grimm bezeichnet die von »individuellen und sozialen Folgen erwerbsbiographischer Unsicherheiten« gebeutelte wachsende Masse an prekär beschäftigten Menschen in einer aktuellen Studie als »Statusakrobaten«. Drangsalierung und Arbeitszwang unter Hartz IV setze Betroffene, darunter viele Studierte, enorm unter Druck, immer neue, auch schlecht bezahlte Praktika, Projekte, Jobs anzunehmen, dafür hin und her zu reisen und auf Familie und Freundeskreis zu verzichten. »Statusakrobatik«, um nicht in die unterste Unterschicht abzurutschen, werde zum Hauptlebenszweck, der alles überschatte, so Grimm.

Leistungswahn, Ausgrenzung, Entmenschlichung

Kurzum: Der kapitalistische Mensch hat eine »Pflicht zur Leistungseffizienz«, also zur völligen Hingabe an den Markt verinnerlicht. Die Unterteilung in unwerte, zu ächtende »Leistungsversager« und wertvolle »Leistungsträger« dominiert nicht nur politisch aufoktroyierte Leitlinien, sondern das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein. Beispiel: Ein Leiharbeiter, der für Mindestlohn malochen geht, ist verständlicherweise sauer. Nie kann er sich was leisten. Trotzdem gleicht sein Leben einem Hamsterrad. Seinen Selbstwert schöpft er nun, politisch konform, aus seinem Fleiß bis hin zur Selbstaufgabe, ungeachtet der Tatsache, dass er mit seiner Selbstvermarktung zu Dumpinglöhnen das gesamte Lohngefüge weiter nach unten drückt. Um sich gegen die ständige Missachtung und Abwertung seines Daseins zu wehren, tritt er auf Erwerbslose.

Ein typisches Argument des geknechteten Niedriglöhners: Er müsse das »faule Pack« mitfinanzieren. Meistens stimmt das nicht einmal, da viele Geringverdiener gar keine Lohnsteuer bezahlen. Zweitens entbehrt dies jeder Rationalität: Die Wirtschaft produziert so viel wie nie zuvor – mit immer weniger Arbeitern. Automaten, Maschinen und Computer als neue »Null-Euro-Jobber« machen es möglich. Sie brauchen keinen Lohn, kein Essen, keine Wohnung. Sie sorgen für Profitmehrung ohne Lohnkosten. Drittens wird der Reichtum zunehmend auf einem von der Produktion abgekoppelten Kapitalmarkt generiert und akkumuliert.

Das heißt: Reichtum ist immer weniger von der Produktion und dem Konsum abhängig. Immer mehr Menschen werden lohnerwerbslos. Zugleich wird diese Gruppe für die Kapitalakkumulation unbrauchbarer. Sie werden als wertlos deklariert, als Plage, als Schmarotzer. Eine moralische Eigenschaft namens »Faulheit« wird zum Massenphänomen erklärt, das Schuld sei am Untergang einer (unmoralischen) Wirtschaftsordnung. Das ist unwissenschaftlicher Bullshit, denn niemals sind Imperien an »Faulheit« ihrer Individuen gescheitert. Wohl aber an der Dekadenz ihrer jeweils herrschenden Klasse und an enormen sozialen Verwerfungen. Diese Zuschreibung dient nur einem: Derart entmenschlichte, für den Markt überflüssig gewordene Wesen wird, wer sich stets narzisstisch aufwerten muss, getrost verhungern lassen.

Individueller »Ausstieg« ist keine Lösung

Natürlich gibt es Lichtblicke, die zeigen, dass Menschen diese Ökonomisierung leid sind. Es finden sich Gemeinschaften zusammen, die Ökohöfe bewirtschaften. Erwerbslose schließen sich zu Vereinen zusammen. Tausende arbeiten ehrenamtlich im sozialen Bereich. Eine Umkehr zeichnet sich dennoch nicht ab. Die ökonomischen Zwänge sind zu stark. Alleine die Tatsache, dass wir Geld benötigen, um leben zu können, um irgendetwas zu erwerben, macht uns abhängig. Wer nicht genügend besitzt, um andere für sich arbeiten zu lassen, hat kaum die Möglichkeit, innovativ und erfinderisch zu sein. »Selbstversorgung« ist ein großes Wort. Möglich ist sie nur sehr begrenzt. Die Kosten für Miete, Grundsteuern, Heizkosten, Autoversicherung, Benzingeld, Strom, Wasser und Abwasser werden trotzdem fällig.

Letztlich wird deutlich: Solange wir nicht umkehren vom Kapitalismus hin zu einer Form der gemeinschaftlichen Produktion ohne Profitzwang, die eine Verteilung nach Bedarf und Beteiligung nach Fähigkeiten erst ermöglicht, verbunden mit wirklich moralischen Wertmaßstäben, wird sich der pathologische Darwinismus weiter in unsere Hirne und Herzen fressen.

Wenn Maschinenmenschen (Charlie Chaplin) weiterhin die Ausrottung der eigenen Spezies und die Vernichtung der Lebensgrundlage vorantreiben, sind wir verloren. Technisch und verstandesmäßig hätten wir alle Voraussetzungen, solidarisch und kooperativ zu leben und uns endlich von der Angst vor dem »zu kurz Kommen« zu befreien. Nur, wenn wir teilen und uns ob unseres Seins wertschätzen lernen, wird es eine Zukunft für den Menschen geben. Sonst ist der Kollaps, der unweigerlich mit dem Ende der ausgeplünderten Ressourcen bevorsteht und einhergehen wird mit brutalen imperialistischen Kriegen, nicht mehr aufzuhalten. Wir müssen über eine Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft nachdenken und über eine Abkehr vom heutigen Geldsystem, das wesentlicher Motor für die Umverteilung von unten nach oben ist. Die Eigentumsfrage ist die wesentliche Frage der Gegenwart. Sie muss oberste Priorität bekommen und erfordert eine schnelle Lösung.

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

Fotohinweis: wikimedia.commons.org, Urheber: LepoRello (Wikipedia), Lizenz CC BY-SA 3.0

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