Marokko: Vom Februar-Aufstand 2011 bis zu den Rif-Protesten 2017

Marokkaner/innen begehren auf gegen Diktatur und Neoliberalismus 

von Petra Wild.

„Seid ihr eine Regierung oder eine Gangsterbande ?“ (Parole der gegenwärtigen Unruhen in Marokko)

Die Bilder, die seit Wochen aus dem Norden Marokkos kommen sind vertraut: Menschenmassen auf den Straßen, die Parolen skandieren; Polizisten in voller Montur, die jugendlichen, leicht bekleideten Demonstranten drohend gegenüber stehen, das Stück Straße zwischen ihnen übersät mit Steinen.

Seit Ende Mai versammeln sich Nacht für Nacht Tausende von Menschen in den Dörfern und Städten der nordmarokkanischen Rif-Region. Auslöser war die Verhaftung von Nasser Zefzafi, einem Anführer der dortigen Protestbewegung am 29. Mai. Seither hat es etwa 200 weitere Verhaftungen gegeben, aber die Bewegung wächst weiter.

Mohsin Fikris grausamer Tod im Mülllaster

Die Proteste in der mehrheitlich von Amazigh (Berbern) bewohnten Rif-Region begannen im Oktober 2016, nach dem grausamen Tod des Fischhändlers Mohsin al-Fikri in al-Hoceima. In dem Versuch seinen Fisch zu retten, den Polizisten beschlagnahmt und in einen Müllwagen geworfen hatten, war er diesem hinterher gesprungen und wurde vom Müllzerkleinerungssystem des Wagens zermalmt. Augenzeugen berichteten, dass Polizisten den Müllfahrer angewiesen hatten, den Zermalmungsknopf zu drücken. Fotos von Mohsins grausamem Tod breiteten sich in Windeseile in den sozialen Netzwerken aus, landesweit gingen Tausende von Menschen aus Empörung auf die Straße. Mohsin Fikri wurde mit dem arbeitslosen tunesischen Akademiker und Straßenhändler Muhammad Bouazizi verglichen, der sich nach der Beschlagnahmung seiner Waren und Demütigung durch die Polizei in Tunis selbst in Brand gesteckt und damit Ende 2010 die arabischen Aufstände ausgelöst hatte.

Zum Zentrum der anhaltenden Proteste wurde Fikris Stadt al-Hoceima. Von hier aus breiteten sich die Proteste auf andere Städte und Dörfer in der Region aus. Es geht längst nicht mehr nur um Gerechtigkeit für Mohsin Fikri, sondern um politische und ökonomische Veränderungen. Aus den Protesten ist eine neue Bewegung hervorgegangen: al-Hirak al-Scha’bi –  die Volksbewegung (das Wort Volk hat hier keine nationalistische Konnotation sondern eine linke – Volk im Sinne von „die Unteren“).  Angeführt wurde sie von dem arbeitslosen Nasser Zefazafi und nach dessen Verhaftung von den beiden Frauen Nawal Ben Aissa und Silya Zilani. Letzte wurde mittlerweile ebenfalls verhaftet. Die Menschen wollen soziale Reformen, Arbeitsplätze, ein Krankenhaus und eine Universität und sie wollen, dass die seit 1959 bestehende starke Polizeipräsenz in ihrer Region aufgehoben wird. Die Parolen der Demonstrationen und die Reden der Anführer/innen richten sich auch gegen die Diktatur, die Korruption des Makhzen (die politisch-ökonomische Elite rund um das Königshaus) und dagegen, dass dieser die Ressourcen des Landes ausplündert.

Das Regime ignorierte die Proteste eine Weile in der Hoffnung, diese würden sich von selbst auslaufen. Aber als das nicht geschah und sich die Menschen auch nicht mit den leeren Versprechungen einer Delegation von Ministern abspeisen ließen, begann es Ende Mai mit Verhaftungen.

Die rebellische Geschichte des Rif

Es ist kein Zufall, dass die Bewegung vom Rif ausgeht. Diese Gebirgsregion an der Mittelmeerküste im Norden Marokkos hat eine herausragende Geschichte von Widerstand, von Rebellion. 1921 erhob sich die Amazigh-Bevölkerung unter der Führung von Abdel.Krim al-Khattabi gegen den spanischen Kolonialismus und rief eine Republik aus. Diese Republik bestand fünf Jahre lang. 1926 ging Spanien mit der Unterstützung Frankreichs, das einen anderen Teil Marokkos kontrollierte, in die Offensive. Mehrere 10.000 Menschen wurde von den Kolonialtruppen getötet. Der damalige Einsatz von Chemiewaffen macht die Rif-Region auch heute noch zu der Region mit der höchsten Krebsdichte. Nach der 1956 mit der Kolonialmacht ausgehandelten Unabhängigkeit erhob sich die Rif-Bevölkerung erneut. Wieder gründete sie 1958 eine Republik und wieder wurde sie noch im selben Jahr brutal niedergeschlagen. Die Rif-Region wurde im post-kolonialen Marokko politisch und kulturell marginalisiert und ökonomisch vernachlässigt, so dass sie eine der ärmsten Regionen des Landes ist. Ein Teil der Dörfer hat keine Elektrizität oder fließendes Wasser. Die Beziehungen zur Zentralregierung sind seit der Unabhängigkeit gespannt. Aufgrund der Armut wandert ein Teil seiner Bewohner kontinuierlich in die Slums der Großstädte oder nach Europa ab. Die Mehrheit der Marokkaner/innen in Europa stammt aus dem Rif. Ein anderer Teil verdient seinen Lebensunterhalt durch den Anbau von Haschisch oder Schmuggel. Eine andere wichtige Erwerbsquelle war der Fischfang, doch dieser ist seit der Unterzeichnung eines Fischfangabkommens mit der EU 2014 für die einheimischen Fischer strengstens reglementiert.

An allen Kämpfen, die seit der Unabhängigkeit in Marokko stattfanden – seien es die Brotaufstände der 1980er Jahre gegen vom IWF verordnete Kürzungen oder der Aufstand von 2011 – war die Rif-Region immer beteiligt. König Hassan 2, der die Niederschlagung des Aufstandes von 1958 geleitet hatte, bezeichnete die Rif-Bevölkerung während der Brotunruhen  der 1980er Jahre in einer landesweit ausgestrahlten Rede als „Wilde und Diebe.“

Im Rif geht die Polizei immer besonders brutal vor. Während des Aufstandes von 2011 wurden dort fünf Demonstranten von der Polizei getötet und anschließend verbrannt, um die Spuren zu verwischen. Entgegen der offiziellen Versprechungen wurde dieses Verbrechen niemals aufgeklärt.[1] In den staatstragenden Medien werden die Demonstranten im Rif  als „Separatisten“ bezeichnet, die Geld von Algerien und der Polisario bekommen, um Marokko ins Chaos zu stürzen. Doch diese Versuche, die marokkanische Bevölkerung von der Solidarisierung mit dem Rif abzuhalten, sind gescheitert, wie die vielen Solidaritätsaktionen zeigen.

Der Neoliberalismus und die Kämpfe dagegen

Trotz aller Eigenheiten der Region sind die Probleme des Rif die Probleme ganz Marokkos. Wie Tunesien und Ägypten betreibt Marokko seit den 1990er Jahren eine harte neoliberale Politik, die zur Verarmung der Bevölkerung und der Ausplünderung der Ressourcen durch internationale Konzerne geführt hat. Die Wirtschaftspolitik des Landes wird weitgehend vom Internationalen Währungsfond (IWF) bestimmt. Die staatlichen Unternehmen, die wie in den meisten post-kolonialen Staaten die Wirtschaft dominierten, wurden privatisiert und teilweise abgewickelt, so dass unzählige Arbeitsplätze vernichtet wurden. Die Wirtschaft Marokkos wurde auf Tourismus, Exporte und die Anziehung ausländischer Investitionen umgestellt. In Tanger befindet sich die größte und älteste steuerfreie internationale Produktionszone auf dem afrikanischen Kontinent. Während sich eine kleine dem Königshaus nahestehende Elite durch die Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik maßlos bereicherte, verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung. 20% der 34 Millionen Marokkaner/innen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze, ¾ davon auf dem Land. Die Jugendarbeitslosigkeit ist wie überall in der arabischen Welt sehr hoch, in den Städten beträgt sie bis zu 40%. Je besser ein junger Mensch ausgebildet ist, desto seltener findet er Arbeit. Unter jungen Akademikern ist die Arbeitslosigkeit am höchsten. Von denen, die in den Städten Arbeit haben, sind 2/3  im informellen Sektor beschäftigt.[2]

Diese Politik führte zum  Aufstand von 2011, dessen Hauptparole „Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit“ war. Die Erhebung konnte innerhalb weniger Monate durch Verfassungsreformen, Gehaltserhöhungen, Erhöhung von Nahrungsmittelsubventionen sowie 4000 neuen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst befriedet werden. Die dem Aufstand zugrundeliegende soziale Frage wurde nicht gelöst.

Im Gegenteil hat sich die sozio-ökonomische Lage der Bevölkerung seither verschlechtert.

2012, 2014 und 2016 unterzeichnete das Regime neue Kreditabkommen mit dem IWF, in denen es sich dazu verpflichtete, unter anderen die Brennstoffsubventionen abzuschaffen, keine neuen Einstellungen im öffentlichen Dienst vorzunehmen und eine Rentenreform durchzuführen, die die Erhöhung des Renteneintrittsalters und Kürzung der Rente bei gleichzeitiger Erhöhung der Beiträge vorsieht. Für Ende Juni 2017 ist die Freigabe des Wechselkurses des marokkanischen Dirham vorgesehen. In Ägypten führte dies im Vorjahr zu einer Halbierung des Wertes des ägyptischen Pfunds und 44 % Inflation. Die ursprünglich ebenfalls vorgesehene Kürzung der Grundnahrungsmittelsubventionen wurde vorerst zurückgestellt. Diese ist äußerst brisant, da Millionen von armen Marokkaner/innen darauf angewiesen sind, um überleben zu können.

Gegen diese neoliberale Politik gibt es kontinuierlich Kämpfe. Es gibt immer wieder Streiks und  Aktionen von Arbeitslosen, zu denen auch Selbstverbrennungen gehören. Lehramtsanwärter/innen wehren sich gegen die Privatisierung des Bildungswesens, Medizinstudenten gegen die Privatisierung des Gesundheitssystem. Auch gegen hohe Preise wird demonstriert, so gingen die Bewohner/innen der Stadt Tanger gegen die hohen Strompreise des französischen Infrastruktur-Konzerns Amendis (ein Tochterunternehmen von Veolia) auf die Straße.

Auch die Kämpfe im Rif sind eine Folge der neoliberalen Politik. Seit der Unterzeichnung des Fischfangabkommens mit der EU 2014 sind die einheimischen Fischer starken Beschränkungen beim Fischfang ausgesetzt. Während den EU-Fangflotten keine Grenze durch eine Schutzbestimmung gegen Überfischung gesetzt wurde und ihnen auch die Gewässer der seit 1975 von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara zur Verfügung stehen, gelten für marokkanische Fischer strenge Reglementierungen. Mohsin Fikris Fisch wurde von der Polizei beschlagnahmt, da er außerhalb der erlaubten Saison gefangen worden war. Somit war Mohsin nicht nur ein Opfer staatlicher Gewalt, sondern auch des Neoliberalismus und seiner größtenteils westlichen Profiteure.[3]

Die Kämpfe in Marokko werden von Basisorganisationen, fern der etablierten politischen Parteien geführt, denen die Menschen nicht mehr vertrauen. Ihre Schwäche ist, dass sie zersplittert und unkoordiniert sind.

Ali Aznague von Attac Marokko warnte Mitte Mai diesen Jahres vor einer „sozialen Explosion in absehbarer Zukunft.“ Der unabhängige Journalist Aboubakr Jamai  bezeichnete die Stimmung im Land als „soziale und ökonomische Verzweiflung.“ [4]

Vor diesem Hintergrund findet die Bewegung im Rif auch in anderen Teilen Marokkos Widerhall.  Die Solidaritätsdemonstration in der Hauptstadt Rabat vom 11. Juni war mit mehreren 10.000 Menschen die größte seit dem Aufstand von 2011. Auch in anderen Städten gibt es kontinuierlich Demonstrationen und andere Solidaritätsaktionen, gegen die die Polizei meist gewaltsam vorgeht. Nach der Verhaftung Zefzafis stellten sich spontan landesweit 600 Rechtsanwälte zu dessen kostenloser Verteidigung zu Verfügung. Marokkanische Intellektuelle haben ein Unterstützungsmanifest für den Rif verfasst. Sie rufen zur Erfüllung der Forderungen und zur „Versöhnung“ mit der Region auf. Neuerdings beginnen sich auch im Süden Marokkos, inspiriert von der Rif-Region, Dörfer und Städte zu organisieren und zu demonstrieren. Den ländlichen Regionen Marokkos fehlt es an grundlegender Infrastruktur. Auslöser in einem der Dörfer war, einem marokkanischen Blogger zufolge, dass ein Kind an einem Skorpionstich starb, weil das nächste Krankenhaus 9 Stunden Autofahrt entfernt ist.

Es ist unklar, wie sich die Lage weiterentwickelt, aber das Potential für eine Ausweitung und Radikalisierung der Kämpfe ist gegeben.

Ein Aktivist schrieb im Oktober nach dem Beginn der Proteste im Rif: „Die Menschen haben darauf gewartet, dass eine Revolution in Marokko beginnt, aber die Unterdrückung und die Furcht waren immer ein Hindernis auf ihrem Weg zur Freiheit. Aber diesmal ist es anders. So etwas ist in Marokko noch nie passiert.“[5]

Quellen

[1]: Errazzouki, Samia, Morocco’s Rif: A History of Hidden Dissent, Al-Akhbar, 24.3.2012; Ahmed, Akbar; Akins, Harrison, The Plight of the Rif: Morocco’s Restive Northern Province, Aljazeera, 29.8.2012; Aouragh, Miriyam Fishy Neoliberalism in Morocco, Historical Materialism, o.D.

[2]: Looney, Robert, Morocco is running out of Time, Foreign Policiy, 9.7.2015; Jamai, Aboubakr, Letter from Rabat, Carnegie Europe, 25.5.2016; siehe auch: Kaiser, Susanne, The many Faces of Poverty, Qantara, 15.12.2014

[3]: Elmaslouhi, Mariam, Protests erupt in Morocco following Fish Vendor’s brutal Death in Garbage Compactor, Global Voices, 31.20.2016; Aouragh, Miriyam, Fishy Neoliberalism in Morocco, Historical Materialism, o.D.

[4]: Aznague, Ali, Protest Movements in Morocco and the Role of the Political Left in the Mobilization Against Neoliberal Policies, Rosa Luxemburg-Stiftung, North Africa Office, 16.5.2017; El-Malki, Fatin-Zahra, Morocco’s Hirak Movement: The People versus the Makhzen, Jadaliyya, 2.6.2017

[5]: Rifflan, “It could happen to any of us”: Why the Revolution in Morocco has started, Middle East Eye, 31.10.2016

Petra Wild ist Islamwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Palästina-Frage sowie Widerstand und Revolution in der arabischen Welt. Sie ist Autorin der Bücher „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“ (Wien, 2013) und „Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung. Zur Zukunft eines demokratischen Palästinas“ (Wien, 2015)

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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