Kein deutscher Kniefall in Wolgograd

Russland gedachte am 2. Februar des Sieges in Stalingrad. Die deutsche Regierung ließ diesen 75. Jahrestag bewusst verstreichen.

Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

von Rudolf Hänsel.

Dabei wäre ein Kniefall des deutschen Bundespräsidenten oder der deutschen Bundeskanzlerin vor dem Mahnmal in Wolgograd eine Demuts-Geste gegenüber dem russischen Volk gewesen, die Schuldbewusstsein bekundet, um Vergebung bittet und den Weg zur Versöhnung ebnet. Zugleich wäre er ein Zeichen des Gedenkens an die unermesslichen Opfer der Schlacht um Stalingrad.

Die Schlacht um Stalingrad vom 17. Juli 1942 bis 2. Februar 1943

Diese Schlacht um Stalingrad war die größte und blutigste während des Zweiten Weltkrieges. 500.000 bis eine Million Opfer auf jeder Seite forderte diese Schlächterei zwischen Rotarmisten und deutschen Soldaten. Genaue Zahlen gibt es nicht.

Nahezu 100.000 Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten gerieten in Kriegsgefangenschaft. Da viele deutsche Soldaten in der Gefangenschaft in Folge von Krankheiten starben, kehrten nur 6.000 von ihnen von Stalingrad in die Heimat zurück.

Mein Vater hatte Glück und wurde wegen einer Schussverletzung mit dem letzten Flugzeug aus Stalingrad ausgeflogen. Die erlebten Gräuel belasteten ihn schwer – sprechen konnte er darüber nicht.

Die Inschrift im Betonquader des Mahn- und Denkmals von Pestschanka in Wolgograd lautet:

„Dieses Denkmal ist allen Opfern der Schlacht (1942/43) gewidmet. Es erinnert an die Leiden der hier gefallenen Soldaten und die der Zivilbevölkerung. Für die gefallenen Soldaten und die in Gefangenschaft Verstorbenen aus allen Ländern erbitten wir den ewigen Frieden in russischer Erde.“

Ich selbst wurde auf den Stalingrad-Jahrestag erst durch einen Artikel des Moskau-Korrespondenten Ulrich Heyden vom 24. Januar 2018 im Rubikon aufmerksam: „Angriff auf die Sowjetunion kein Verbrechen mehr?“. Ich kann ihn jedem Interessierten nur empfehlen.

Ebenso eine Artikelserie der „Süddeutschen Zeitung“ zum Zweiten Weltkrieg im Osten mit Themenschwerpunkten wie „Erinnerungen an einen bestialischen Krieg“ oder „Das furchtbare Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen“.

Die durchsichtige Rolle der deutschen Politik und ihrer „Kriegstrommler“

Die deutsche Regierung wird nicht müde, jedes Jahr von Neuem in Bundestags-Sondersitzungen der Verbrechen Hitler-Deutschlands an den Juden feierlich zu gedenken. Hingegen hat sie den 75. Stalingrad-Jahrestag bewusst verstreichen lassen, ohne ihn für eine umfassende Aufklärung vor allem der jüngeren deutschen Bevölkerung und für ein Zeichen des Mitgefühls mit den noch lebenden circa zwei Millionen russischen Kriegsveteranen sowie als Gedenken an die unzähligen Opfer zu nutzen. Das hat natürlich seinen Sinn.

Wie kann eine Regierung der Opfer eines über 75 Jahre zurückliegenden verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieges gegen die ehemalige Sowjetunion würdig gedenken und sich vielleicht noch schuldig bekennen – und gleichzeitig wieder deutsche Soldaten im Verbund mit der US-NATO-Kriegs-Allianz an der russischen Ostgrenze aufmarschieren lassen? Also verweigert man das Gedenken und lässt den Jahrestag möglichst geräuschlos verstreichen.

Dieses durchsichtige Gebaren der deutschen Politik registriert das russische Volk natürlich sehr genau. Der bereits zitierte Moskau-Korrespondent Ulrich Heyden schreibt in einem weiteren Rubikon-Artikel:

„Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, wie die Russen (auch die jüdischen Russen) es schmerzt, dass wir Deutsche viel Mitgefühl für die Juden und Israel haben, die Leiden der Russen und anderer Sowjetvölker im Zweiten Weltkrieg aber nicht kennen oder vergessen haben.“

Welche Rolle die regierungsnahen Konzern-Medien dabei spielen, dokumentieren die ausführlichen Berichte von RT Deutsch und Rubikon von der Tagung „Krieg und Frieden in den Medien“ Ende Januar in Kassel.

Als Beispiel ein Zitat aus dem Referat der freien Korrespondentin zum Mittleren Osten, Karin Leukefeld „Was unseren Blick auf den Syrien-Krieg trübt“ im Rubikon vom 1. Februar 2018:

„Wir leben in einer gefährlichen Zeit. Anstatt die politische Macht und ihren Apparat zu kontrollieren, anstatt Unrecht, Heuchelei und Lüge aufzuzeigen und alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, damit die Öffentlichkeit sich ein Bild machen und verstehen kann, begleiten die Medien wie die Kriegstrommler und Trompeter früherer Heere die neuen Beutezüge der westlichen Welt.“

Die bedenkliche Rolle deutscher Bildungspolitik

Wie haben es wohl die weiterführenden deutschen Schulen mit dem Stalingrad-Jahrestag gehalten? Mein Augenmerk richtet sich dabei nicht so sehr auf die Lehrer-Kollegen, sondern mehr auf die Bildungspolitik in den jeweiligen Bundesländern.

Seit Jahren betreiben sie eine Entwertung des Faches Geschichte. Es werden Stunden gekürzt oder das Fach wird mit Politik und Geografie verschmolzen, was zwangsläufig zum Verlust historischer Inhalte führt und fachfremdes Unterrichten fördert. Die Konsequenz: In Deutschland wissen Jugendliche laut Umfragen immer weniger über Geschichte und verwechseln Prozesse und Personen.

Geschichtsvergessenheit als Einfallstor für neue Kriege

Demnach ist die Geschichtsvergessenheit der jungen Generation wohl über Jahrzehnte hinweg gezielt herbeigeführt worden, weil man keine geschichtsbewusste Jugend will. Sie ist also nicht die Folge bedauerlicher Versäumnisse von Bildungspolitikern.

Denn nur wenn die junge Generation aus der Geschichte gelernt hat, dass Kriege allein deshalb geführt werden, weil sie ein gutes Geschäft sind, dass der potentielle Feind zuvor jahrelang dämonisiert werden muss, um die Bevölkerung für einen Waffengang zu gewinnen und dass jeder Krieg mit einer Lüge beginnt und unermessliches Leid mit sich bringt, nur dann lässt sie sich nicht mehr so leicht für ein Kriegsabenteuer gewinnen. Nur dann gelingt es auch Redaktionen von Konzern-Medien nicht mehr, jüngere Journalisten als Kriegstrommler einzuspannen.

Kann sich die junge Generation dieses geschichtliche Bewusstsein nicht erwerben, ist sie viel leichter zu manipulieren und eventuell bereit, sich in neue verheerende Kriege hineinlügen zu lassen.

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Dieser Beitrag erschien am 7.2.2018 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

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