Kanzler der Enteignung

Nach dem Tod von Helmut Kohl überschlägt sich der Propaganda-Apparat der Herrschenden. Kein Wunder: Ihnen hat er den größten Ramschfeldzug der jüngeren Geschichte ermöglicht.

von Susan Bonath.

Man soll über Tote nicht schlecht reden, heißt es. Bei manchen Tätern vergisst der Mainstream diese Floskel gerne. Anders ticken die Uhren bei verstorbenen Tätern, die der herrschenden Klasse dienen. Dieser Tage überbieten sich die Medien, die selbige besitzt, den »Einheitskanzler« Helmut Kohl und »sein Vermächtnis« zu heroisieren und glorifizieren. Seinen Tod am Freitag nutzten sie dazu, einen Helden aus dem CDU-Mann zu stilisieren. Selbstverständlich war er das, wenngleich allein aus Sicht der Bourgeoisie. Man weiß es doch inzwischen: Die veröffentlichte Meinung ist immer die der Herrschenden.

Tote, wie Helmut Kohl sind nützlich. Die Herrschenden können die Flaggen in Brüssel und Berlin auf Halbmast hissen. Die Kanzlerin, Kohls »Ziehkind« Angela Merkel, in jungen Jahren auch als IM (informelle Mitarbeiterin der Stasi) Erika unterwegs, bekommt einen weiteren großen Auftritt. Sie darf tönen, welch ein »großer Europäer« und »Glücksfall für uns Deutsche« ihr Meister, der ihr zur Macht verhalf, doch war. Wer die deutschen Glückspilze sind, sagt sie nicht.

Moralistisch verklärtes Einheitsgedöns

Die Tagesschau lässt den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz in Mikrofon posaunen, welch große Leistung Kohl beim »Verankern von Deutschland in Europa« vollbracht habe. Und Cem Özdemir von den Grünen jubelt: »Sein Name wird immer in Verbindung stehen, mit einem der größten Projekte der deutschen Nachkriegsgeschichte.« Selbst Dietmar Bartsch von den Linken freut sich: Kohl sei so lebensnah gewesen. »Er konnte einem sogar die Hand auf die Schulter legen«, erklärte er voll moralischer Ergriffenheit, ganz so, als habe der verstorbene Altkanzler nie ein anderes Zeil als pures Gutsein verfolgt und als sei die deutsche Einheit so etwas wie eine glückselige Familienzusammenführung gewesen.

Doch was bedeutete dieses »größte Projekt der deutschen Nachkriegsgeschichte«, die deutsch-deutsche »Wiedervereinigung«, wie es die Herrschenden so harmlos und emotionsgeladen umschreiben, als hätten sich zwei lang Vermisste endlich wiedergefunden, für Otto-Normalarbeiter in Ost und West tatsächlich?

Kohl hatte wohl, wie es der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, am Freitag so treffend öffentlich formulierte, »zur richtigen Zeit das richtige getan« – selbstverständlich nur aus der Sicht seiner eigenen Klasse. Er ergriff die Chance beim Schopfe, als 1989 die Arbeiter in der DDR auf die Barrikaden gingen. Zu Recht hatten sie die Nase voll von ihrer privilegierten, diktatorischen Bestimmer-Kaste, die Marx, Engels und Lenin nie in dieser Art für einen Sozialismus vorgesehen hatten. Es war völlig legitim: Die Arbeiter und Bauern wollten mitbestimmen, statt sich aufoktroyierten stalinschen Strukturen zu unterwerfen.

Der Run auf den Rosinenkuchen DDR

Die Mehrheit der ersten Montagsdemonstranten war weit davon entfernt, den »Einmarsch« der Kapitalisten zu fordern. Die kamen von selbst. Mit Plakaten und Flyern, auf denen sie die deutsche Einheit und bald auch schon die D-Mark als Glückskonzept, als Himmelsreich der imaginären deutsch-deutschen »Brüderlichkeit« anpriesen. Rechte Parteien von der CDU bis hin zur NPD ließen nicht lange auf sich warten. Mit gut getarntem feistem Grinsen schüttelten sie die Hände aufgebrachter, aber unbedarfter DDR-Bürger.

Was die wenigsten kurz nach dem Mauerfall ahnten: Die Übernahme der DDR inklusive Ausverkaufs ihres volkseigenen Vermögens stand zu diesem Zeitpunkt längst auf Kohls Wunschagenda. Die Tinte auf dem größten Enteignungsvertrag der jüngeren Geschichte war noch nicht trocken, schon verramschte die Treuhand den Kuchen bis auf die letzte Rosine. Statt zuerst versprochener Entschädigung wartete auf ein Gros der DDR-Bürger die Entlassung. Der Run auf den »heiligen Markt«, der mit Begrüßungsgeld und Bananen zunächst so herrlich dekadent daherkam, mündete in Anbiederung an die neuen Besitzer einstmals volkseigener Betriebe. Zehntausende verließen ihre Heimat gen Westen, um dort ihre Arbeitskraft für den halben Lohn der angestammten Belegschaft zu verkaufen. Entbehrliche BRD-Bürokraten machten sich mit »Buschzulage« auf neu geschaffenen Führungsposten breit. Viele sitzen dort bis heute.

Bananenpropaganda

Klappen konnte das nicht nur wegen einer korrumpierten Sippe im DDR-Staatsapparat. Die Masse der Bevölkerung im Osten fiel schlicht auf die »Bananenpropaganda« der Kohlschen Regierung herein. Denn eins darf man – trotz Stasi, Bautzen und Co. – nicht vergessen: Die verhassten SED-Bürokraten im Arbeiter- und Bauernstaat regierten zwar diktatorisch-repressiv. Doch das Volksvermögen gehörte ihnen nicht. Sie konnten weder Profit aus Produktionsmitteln schlagen, noch selbige vererben. Jeder Betriebsleiter konnte abgesetzt werden.

Man muss es konstatieren: Die Bourgeoisie war enteignet. Und nach dem Mauerfall ergriff sie die Gelegenheit, ihre Macht zurückzuerobern. Anstatt das zu verhindern, anstatt die bürokratische Kaste in der DDR zu stürzen und bestenfalls demokratische Arbeiterräte zu gründen, anstatt die sozialen Errungenschaften, die es unzweifelhaft gab, wie kostenlose Gesundheitsfürsorge und Bildung, das Recht auf Arbeit und Auskommen, auch für den Westteil zu erkämpfen, verfiel die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse in apolitische Trance – ein Zustand, der bis heute anhält.

Der Konterrevolution den Weg geebnet

Mit der sogenannten »Wende«, angestoßen durch Michail Gorbatschow, vollführt nach Verhandlungen zwischen ihm und Kohl höchstpersönlich, führte der Kapitalismus seinen globalen Siegeszug. Die große Lüge hieß: Die Planwirtschaft sei gescheitert, und mit ihr »der Kommunismus«.

Die Lüge steckt indes schon im Detail: Weder die Sowjetunion noch die DDR und andere Ostblockstaaten nannten sich je kommunistisch. Schon Marx und Engels wussten: Die schöne Utopie von einer Gesellschaft ohne Klassen, ohne Staatsapparat und Geld, dafür mit gewählten kommunalen Gremien, die die Produktion in vergesellschafteten Betrieben regeln, die Verteilung von Arbeit und Gütern managen, ist  inmitten eines globalen kapitalistischen Systems, das stets auf die Konterrevolution erpicht ist, nicht umsetzbar – schon gar nicht, solange wirtschaftliche Abhängigkeiten bestehen. Die Entwicklung musste also in einem System des starken Staats steckenbleiben, auch wenn man seine diktatorisch-repressiven Elemente verurteilen muss.

Mithin plant jeder heutige Konzern, wenngleich ausschließlich in seine eigene Tasche. Die Rendite muss stimmen, der Profit florieren. Damit muss er möglichst besser da stehen als seine Konkurrenten. Sonst ist er bald weg vom Fenster. Es geht darum, die Arbeiter so effektiv auszubeuten, dass sie es sich gerade noch gefallen lassen, damit die Kasse stimmt. Es geht nicht um moralische oder gar humane Ziele, wie etwa die Versorgung der Bevölkerung, wohl aber darum, sein Zeug auf Märkten gewinnbringend zu verkaufen.

Um jene Märkte fürs westliche Kapital zu erobern, zieht heute wieder die deutsche Armee los. Die NATO rückte bis an die russische Grenze vor. Aus dem »Kalten Krieg« ist ein »heißer« geworden. In beiden ging und geht es den Kapitalbesitzern und ihrem Exekutiv- und Propagandaapparat jedoch nur um eins: Kontrolle über Rohstoffe. Es geht um Wachstum, Macht, Profit, Herrschaft.

Diktatur des Kapitals mit Kollateralschäden

Die wachsende Zahl an Outgesoucten, an Bettlern, Erwerbs- und Obdachlosen auf deutschen Straßen, ist den führenden Kapitalbesitzern dabei herzlich egal. Sie sind die Kollateralschäden. Nur zu Aufständen sollen die Verwerfungen nicht führen. Wird das Volk unruhig und lässt die kapitalistische Verwertungskrise keine sozialen Beruhigungspillen mehr zu, rüstet ein Imperium auch innen auf. Mit Verboten, Repressionen, Spionage und Gängelei versucht die Bourgeoisie, die Ungehorsamen gewaltsam still zu halten.

Dass die Widersprüche im Kapitalismus zwischen besitzenden Profiteuren und lohnabhängigen Profitbeschaffern zu zyklischen Krisen führt, wusste man schon vor 150 Jahren.1933 führte eine solche Verwertungskrise zum Faschismus, die brutalste, chauvenistischste und diktatorischste Form der Diktatur des Kapitals. Wohin die aktuelle Krise führt, ist noch offen. Was aber heute längst schon zu erkennen ist: Ihre Folgen werden die Arbeiter tragen. Schon jetzt wirft die BRD-Regierung einst von ihnen lang und hart erkämpfte Rechte beinahe monatlich über den Jordan.

Einheit zu Lasten der Arbeiter in Ost und West

Dass dies so kommen musste, war für ernst zu nehmende Ökonomen 1990 nicht nur vage zu vermuten. Es war unausweichliche Folge der kapitalistischen Expansion. Schon beim Antritt Kohls als Kanzler in den 80ern steckte die alte BRD in einer immensen Wirtschaftskrise. Das Wachstum stockte, die Arbeitslosigkeit hatte längst die Millionen-Marke überschritten.

Schon Kohls Vorgänger, Helmut Schmidt (SPD) hatte begonnen, Arbeiterrechte einzustampfen und die Sozialhilfe zu kürzen. Kohl führte das Werk fort. Wenn er eins wissen konnte zur Zeit des Mauerfalls: Millionen Arbeiter in Ost und West werden für die Einheit bluten. Und das taten sie – mit Steuern, mit Arbeitslosigkeit, mit zerrütteten Lebensläufen, mit Niedriglöhnen, mit steigenden Gebühren für alles, mit dem Abrutschen in die Altersarmut, dem Verlust von Haus oder Wohnung, mit Angst, Unsicherheit und Unterwerfung. Kohls versprochene »blühende Landschaften« waren keine Fehlkalkulation, sondern eine eiskalte Lüge.

Vorkämpfer für soziale Verwerfungen

Wenn ich also an Helmut Kohl denke, denke ich an erster Linie an den Kanzler und seine Partei namens CDU als Vorkämpfer der westdeutschen Bourgeoisie. Ich denke an einen Mann, der dieser mit scheinheiligen Lügen die Enteignung der DDR-Bürger plante und vollzog. Ich denke an die gebrochenen Biographien der vielen Millionen Menschen, die im Osten ihre Arbeitsplätze verloren hatten und um ihre Existenz kämpfen mussten, konfrontiert mit einer unbekannten Konkurrenzwelt.

Ich denke an die verzweifelt hungerstreikenden Kali-Kumpel im thüringischen Bischofferode, als ihre Gruben 1993 von Kali und Salz Aktiengesellschaft platt gemacht wurden, um Konkurrenz auszuschalten. Ich denke an die Arbeitsämter, die wie Pilze in ostdeutschen Städten aus dem Boden schossen und an die Schlangen, die sich davor bildeten. Ich sehe sie noch vor mir, die verzweifelten Menschen, Mütter mit Kindern an der Hand, Großväter, die der plötzliche Abschied von 35 Jahre Arbeitsleben in tiefe Depressionen stürzte. Ich denke an Väter, die ihre Familien zurückließen, um im Westen ihr teuer erkauftes Arbeitsglück zu finden und an die Jugendlichen, für die eine ganze Welt zusammenbrach.

Ein guter Toter für das deutsche Kapital

Ich blicke auf eine Epoche der Aufrüstung, des Booms der Waffenindustrie, des Vorrückens der NATO, der Angriffskriege, der Zerrüttung der kapitalistischen Peripherie, des Erstarkens des Neofaschismus, der Verarmung von Millionen Menschen in Deutschland. Ich sehe Bettler in ostdeutschen Straßen und immer mehr Obdachlose, die in Schlafsäcke oder Decken gewickelt unter Brücken liegen. Ich sehe Flaschensammler und Tafeln mit langen Schlangen davor. Ich spüre, wie der Konkurrenzkampf Familien und Freundschaften zerstört. Verelendete bevölkern die Straßen in Süd-, Ost-, Nord- und Mitteleuropa. Und ich sehe die Gefahr eines dritten Weltkrieges. Für all das steht auch Helmut Kohl als Vorkämpfer da. Sein Verdienst ist vor allem der Aufstieg europäischer Großkapitalisten – zum Nachteil letztendlich aller Arbeiter.

Ja, für das deutsche Kapital ist der ein guter Toter, mit dem sich bestens Propaganda machen lässt, Geschichte verdreht und Wirklichkeit verfälscht werden kann. Man kann viel gelobtes kumpelhaftes Schulterklopfen derart emotional aufbauschen, bis der Zuhörer oder Leser den Blick auf realpolitische Hinterlassenschaften verliert und verklärt zurückschaut, wie auf eine alte Liebesgeschichte. Unzweifelhaft: Helmut Kohl ist ein guter Toter für das deutsche Kapital.

Fotohinweis: wikimedia.commons.org, Urheber: Engelbert Reineke, Quelle: Deutsches Bundesarchiv, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE
(Bundesarchiv, B 145 Bild-F074398-0021 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0)

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

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