Kampf um ein besseres Schulsystem: am Ende ist immer Resignation

Offener Brief von Stephanie Richter und Einleitung von Dirk C. Fleck.

Stephanie Richter (46) ist eine engagierte und couragierte Kämpferin für ein grundlegend anderes Schulsystem. Die Pädagogin und Mutter einer erwachsenen Tochter wunderte sich bereits während ihres Studiums darüber, dass sämtliche reformpädagogischen Erfolgsgeschichten wenig bis gar keinen Einfluss auf die staatlichen Schulen haben. Zum anderen war sie bestürzt darüber, dass die Kinder auf das Thema, welches ihre Zukunft entscheidend mitbestimmen wird, nur sehr unzureichend vorbereitet werden, nämlich auf die systematische Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, die das kapitalistische Gier-System weltweit in Szene gesetzt hat. Folgerichtig beschäftigte sie sich in ihrer Examensarbeit mit ihren negativen Erfahrungen in der Grundschule und deren Auswirkungen auf das Lernen. Die Arbeit zum 2. Staatsexamen hatte das Thema Anbahnen eines ökologischen Bewusstseins über die ästhetische Auseinandersetzung mit der Natur.Ein Praxisbericht mit wunderbaren Ergebnissen, wie sie sagt. Die staatlichen Schulen nahmen sie immer gern.

Für Stephanie Richter waren diese Anstellungen allerdings eine ernüchternde Erfahrung, da sie keine Möglichkeiten vorfand, mit Kindern so arbeiten zu können, wie es ihrer Vorstellung vom Lernen entsprach. Als Konsequenz wechselte sie die Seiten und arbeitete sechs Jahre in einer Freien Alternativschule, bis diese aus finanziellen Gründen geschlossen werden musste. Danach war sie Privatlehrerin der Kinder einer renommierten Artistin und reiste mit dem Zirkus durch Frankreich. Später arbeitete sie in einem Waldkindergarten. Schließlich machte sie sich mit Naturerlebnis-Workshops selbständig. Kurze Exkurse als Vertretungslehrerin in verschiedenen staatlichen Grundschulen dienten ihr hin und wieder zum Geld verdienen. Manch eine Klasse kam dabei in den Genuss, z.B. einen Bachlauf zu erkunden oder einen Schnitz-Workshop im Wald zu machen. Mit Lehrerkollegen fanden viele ehrliche und wunderbare Gespräche statt. Am Ende jedoch siegte immer die Resignation, nach dem Motto Man muss ja, was soll man denn machen?

Zur Zeit arbeitet Stephanie Richter an einer demokratischen Schule in Nordhessen mit einem sehr engagierten Team zusammen. Um das Projekt auf Kurs zu halten, schrieb sie jetzt einen offenen Brief an das Team und an die Eltern der von ihnen betreuten Kinder, den wir hier gerne veröffentlichen.

Dirk C. Fleck

Offener Brief an das Team und die Eltern der Freien Schule

Liebe Team-Kollegen, liebe Eltern,

seit 2003 bin ich auf der Suche nach einer Schule, an der Kinder die Freude am Begreifen behalten, sie ihre Gegenwart und Zukunft mitgestalten können, und an der sie vorbereitet werden auf ihre Zukunft in einer immer komplexer werdenden Welt voller Herausforderungen. Meine Hoffnung, dass wir das an einer der seltenen Demokratischen Schulen so umsetzen könnten, war groß.

Inzwischen bin ich zu folgender Erkenntnis gelangt: Das Konzept kann noch so wunderbar und frei sein, auch hier schaffen die Strukturen des Konstrukts Schuledie Rahmenbedingungen – sei es durch Vorschriften der Landesschulbehörde oder durch den allgegenwärtigen Einfluss der normalenSchulen, die wie selbstverständlich suggerieren, man müsse belehren und kontrollieren, damit Lernprozesse stattfinden. Diese Strukturen, inklusive der Schulpflicht / dem Schulanwesenheitszwang, behindern nach meiner Erfahrung freies, lebensnahes und gegenwartsbezogenes Lernen – nicht zuletzt, weil Eltern immer wieder verunsichert sind.

Die Corona-Schulfrei-Phase hat mir noch einmal besonders deutlich gemacht, wie viel, wie schnell, wie begeistert Kinder lernen, wenn sie aus eigener Motivation in ihrer individuellen Lebenssituation handeln dürfen und müssen, und dafür Wertschätzung – anstelle von Bewertung – erfahren.

Sie kümmern sich z.B. um Gemüsepflanzen, beobachten und versorgen Tiere, klettern auf Bäume und informieren sich über essbare Wildpflanzen und bedrohte Vogelarten. Sie drehen, schneiden und vertonen Filme, machen Musik, bauen Hütten und Regale, diskutieren über Politik und engagieren sich in regionalen und internationalen Naturschutzgruppen. Sogar die Lese- und Schreibkompetenz verbessert sich bei einigen plötzlich in ungewohnter Geschwindigkeit, weil (z.B. Briefe oder Tagebuch) schreiben in diesen Zeiten wieder Sinn ergibt.

Im Vergleich dazu erscheint mir das Meiste, was ich in meiner Zeit als Grundschullehrerin mit Kindern machen musste, als pure Zeitverschwendung. Mit stetigem Fokus auf die Hauptfächer ging es meistens darum, die Motivation im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen zu wecken und diesbezüglichen Defiziten mit großem Aufwand zu begegnen. Dabei ist es doch eigentlich kein Wunder, dass Kinder angesichts des alltäglichen Überangebots von Computern, Handys, Tablets und Sprachassistenten den Nutzen dieser Kulturtechniken immer weniger begreifen. Das kann uns dazu veranlassen, einmal hinzuschauen, ob es heute nicht Lernfelder gibt, die erst einmal wichtiger sind.

Warum ändert sich das Bildungssystem nicht genau so rasant und komplex, wie unsere Lebenswelt es tut? Mit dem bestehenden Bildungssystem binden wir die Kinder auf unsere Vergangenheit und bereiten sie nicht auf deren Zukunft vor, da kann ich dem Schulleiter und Familienvater Oliver Hauschke nur zustimmen.

Und auch Gerald Hüther spricht mir mit folgender Aussage aus der Seele: Die Schule im herkömmlichen Sinne hat als Vorbereitung auf das Leben ausgedient. Und genau deshalb wird es höchste Zeit, dass auch Eltern verstehen, dass die Bildung, die sie sich für ihr Kind wünschen, nicht in den Einrichtungen stattfindet, wo sie ihr Kind jeden Tag hinschicken.

Welche Fähigkeiten brauchen unsere Kinder denn, wenn sie erwachsen sind? Und: Was lernt man heute wirklich noch in der Schule? Früher war die Schule der Ort, an dem man Heranwachsenden Bücher / Informationen / Wissen zur Verfügung stellte – was zuhause nicht möglich war. Heute gibt es einen unerschöpflichen Informations- und Wissens-Pool an jedem Ort zu jeder Zeit. Die Weltbevölkerung wächst, und mit ihr potenziert sich die Entstehung und Verbreitung von immer mehr zeitgemäßen Inhalten (und großen Herausforderungen!).

Das Lernen findet im Menschen statt, nicht in der Schule. Ich möchte mit Kindern und Erwachsenen die Lust am Begreifen erleben und aktiv an der Gestaltung unseres Lebens und unserer Zukunft mitwirken! Wenn ich den Zustand unserer Lebensgrundlagen, unserer Tier- und Pflanzenwelt, unserer Gesellschaft im Blick habe, werde ich von der pflichterfüllenden Lehrkraft zur begeisterten Entdeckerin neuer Wege: Ich möchte vollen Einsatz geben, um Lösungen für die drängenden Herausforderungen unserer Zeit zu finden bzw. bereits vorhandene Lösungen umzusetzen. Wenn ihr mich fragt, müssen wir in diesen Zeiten hauptsächlich eins: uns zusammentun, um unsere Lebensgrundlagen zu bewahren!

r Mathe, Deutsch, Prüfungen, Abschlüsse und „Förder-Bürokratie bin ich nicht mehr verfügbar! Ich mache auch keine Lernstandserhebungenmehr mit Kindern. Mich interessiert der Lernstand der Erwachsenen bezüglich Konsumverhalten, Umgang mit Ressourcen, und nicht zuletzt bezüglich dem Umgang mit Gefühlen und Bedürfnissen, unserem Miteinander! Und mich interessiert der Lernstand derer, die in Politik und Wirtschaft das Sagen haben und offensichtlich immer noch nicht begreifen, dass eine Fortführung des turbo-kapitalistischen Systems das Fortbestehen der Menschheit auf dem Planeten Erde gerade an die Wand fährt!

Ich möchte endlich ehrlich sein zu euch Eltern, und euch mitteilen, wie absurd ich das finde, was man hier Bildungssystemnennt! Und ich möchte ehrlich zu den Kindern sein und ihnen sagen, was in dieser Gesellschaft, in die sie so selbstverständlich hineingewachsen sind, destruktiv ist und sich dringend verändern muss. Ich möchte ihnen nicht länger suggerieren, weiter sowäre ein möglicher Weg. Ich bedaure, dass man sie an Überfluss, Medienkonsum, Zucker, Fleisch und Wettbewerb gewöhnt, aber es versäumt hat, sie Stille, Empathie, Natur, Emotionen, natürliche Grenzen, Herausforderungen und Gemeinschaft erleben zu lassen. Ich möchte das mit ihnen nachholen!

Hier ein Beispiel für die Absurdität, die sich auch an unserer Schule ereignet:

rzlich habe ich mit dem 12-jährigen Adrian gearbeitet. Lernstandserhebung im Fach Deutsch und Vorbereitung auf den Schulwechsel. Schauen, ob er Nomen, Verben und Adjektive benennen kann, wie der Stand seiner Rechtschreibkompetenz ist, ob er die wörtliche Rede beherrscht und Fragen zu einem Text schriftlich beantworten kann, usw. usf. Immer wieder schweift der Junge ab, fängt an, von aktuell brisanten Inhalten zu sprechen, die ihn beschäftigen. Er weiß enorm viel! Sein themenübergreifendes Verständnis von den komplexen Vorgängen auf diesem Planeten hat er nicht aus der Schule. Seine Fragen und Ideen sind voller Lebendigkeit und Bedeutung in der heutigen Zeit. Energisch unterbreche ich ihn immer wieder, um ihn zum Bearbeiten der Aufgabenzu drängen. Es muss ja sein…

Muss es das wirklich??

Das, was ich Adrian eigentlich sagen möchte, ist Folgendes:

Mit welcher Arroganz wollen die für dieses System Verantwortlichen dir eigentlich vorschreiben, was du zu lernenhast? Und wer übernimmt überhaupt wirklich konsequent Verantwortung für deine Zukunft? Du hast doch schon längst viel mehr Durchblick als die meisten Erwachsenen da draußen. Sie können vielleicht Rechtschreibung und Kopfrechnen, aber was wollen sie dir denn von deiner Zukunft erzählen, wenn sie selbst nicht in der Lage sind, ihre Lebensgrundlagen zerstörende Verhaltensweisen zu ändern? Ich sehe meine Aufgabe darin, dich dabei zu unterstützen, deine (berechtigte!) Wut in Handlungsenergie zu verwandeln; mit dir und Anderen nach Alternativen und Lösungen für die drängenden Probleme unserer Gegenwart zu suchen. Lass uns jetzt anfangen. Der Schulzwang hindert uns doch nur daran!

Sind wir doch mal ehrlich, wer hat die Schule denn vermisst?

Den Kindern fehlt das Spielen mit ihren Freunden.

Es gibt ein paar Eltern, die sich die Wiederöffnung der Schule wünschen, weil sie arbeiten müssen und keine Betreuung für ihre Kinder haben.

Und Ihr Lehrer? Wünscht Ihr Euch eine Rückkehr in den Schulalltag, wie er vor Covid-19 war?

Natürlich gibt es Kinder, die aus dem sogenannten sozialen Brennpunkt stammen und nur noch Ballerspiele am PC spielen würden, wenn sie nicht zwischendurch in die Schule müssten. Oder welche, denen zuhause wohlwollende und interessante soziale Kontakte fehlen. Aber für diese Kinder müssen wir erst recht eine andere Lösung finden als eine Zwangsveranstaltung mit völlig antiquierten Inhalten und Methoden!

Stellt euch z.B. vor, es gäbe (anstelle von Schule) in jedem Bezirk einen Begegnungs- und Lernort, an dem man Musik-, Kunst-, Sport-, Natur-, Theater-, Film-, Buch-, Bau-, Garten-, …-Projekte machen, zusammen kochen, Freunde und interessante Menschen aus seinem nahen Umfeld treffen kann. Einen Ort, an dem man Vorbilder trifft. Menschen, die ihre Begeisterung und ihr Wissen weitergeben und für eigene Lernprozesse offen sind. Menschen, mit denen man Freude und Anstrengung, Sorgen und Erfolge teilen kann. Mit denen man gemeinsam etwas erreicht, was für die eigene Zukunft wirklich relevant ist. Und das freiwillig und kostenfrei, zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar.

Wir haben zwei Möglichkeiten:

Im Rahmen der bestehenden Schulzwangslage ein Konstrukt des so frei wie wir dürfenmöglichst sinnvoll zu füllen,

oder uns mit anderen zusammenzuschließen, für das Lernen unserer Kinder (und unser Leben generell) selbst Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam mutig nach neuen Wegen zu suchen.

Ich entscheide mich für den mutigen Weg, und ein erster Schritt ist, diesen Brief zu veröffentlichen.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Pressmaster / shutterstock

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