Hitlers Erben

Der Mythos besagt, dass wir unseren Wiederaufbau Ludwig Erhard verdanken, dem Wirtschaftsminister Adenauers und späteren Bundeskanzler. Doch die Realität ist eine andere. Danach verdanken wir unser Wirtschaftswunder einem ganz anderen Mann: dem Argentinier Jorge Antonio, rechte Hand des damaligen Präsidenten Perón und Wäscher “unseres” Nazigoldes. Unter Erhards Regie und mit ausdrücklicher Erlaubnis der USA wuschen er und Daimler-Benz ab 1949 im großen Stil das Kapital, das die deutsche Industrie während des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz versteckt hatte. Im Beipack wurden Nazis im Werk Mercedes-Benz Argentina untergebracht. Das Imperium Antonios war eine “monströse Organisation”, wie später Richter urteilten. Geldwäsche? Ach, iwo! “Es war für die Deutschen ein Geschenk des Himmels”, gab Antonio, zufrieden mit seinem Werk, zu Protokoll. Wie dieses System von Währungsmanipulationen, Steuerhinterziehung, Korruption und schwarzen Kassen funktionierte, besprach Jens Wernicke mit der Journalistin und Trägerin des Alternativen Medienpreises Gaby Weber, die soeben einen Film zum Thema veröffentlicht hat.

Wernicke: Frau Weber, „jedes Land hat seine Mythen“? So zumindest beginnt Ihr aktueller Film…

Gaby Weber: Ja, und er beginnt mit einem Trickfilm von 90 Sekunden zu eben diesen Mythen, die sich alle Völker zimmern, und bei denen es sich um Annahmen handelt, die wenig oder gar nichts mit der Realität zu tun haben.

Einer unserer Mythen ist unser Stolz auf „unseren Wiederaufbau“, auf die glorreichen Trümmerfrauen und das Wirtschaftswunder. Das heißt, aus dem Nichts auferstandene Arbeit und Leistungsfähigkeit und also den späten Beweis unserer völkischen Überlegenheit.

Und alles, was in diesen Glauben nicht hineinpasst – Fakten zum Beispiel – nehmen wir gar nicht erst zur Kenntnis.

W: Und solche Mythen mögen Sie nicht, weil?

GW: Diese Mythen verschleiern die Realität, und nur wer die Realität zur Kenntnis nimmt, kann politisch agieren. Alles andere ist Selbstbetrug, der bequem ist, aber eben in einer Luftblase stattfindet.

Ich sage auch bewusst „wir“, weil auch die kritischen Geister in Deutschland von der Nazigeldwäsche nach dem Zweiten Weltkrieg objektiv profitiert haben. Wäre etwa der Morgenthau-Plan in die Praxis umgesetzt worden, hätte auch meine Generation ein ganz anderes Standing gehabt.

W: Also, das Vorhaben des US-Finanzministers Henry Morgenthau, Nachkriegsdeutschland in einen Agrarstaat umzuwandeln, um langfristig zu verhindern, dass Deutschland je wieder einen Angriffskrieg führen könne…

GW: Genau. Stattdessen wurde die Bundesrepublik, wie es der von mir interviewte Historiker Karl Heinz Roth ausdrückt, „Juniorpartner der USA im Kalten Krieg“. Und diesem Partner erlaubte man dann logischerweise auch Geldwäsche, wo dies nützlich erschien.

W: Was genau stimmt denn am Mythos, „wir Deutschen“ hätten „unser Wirtschaftswunder“ erarbeitet, nicht?

GW: An jedem Mythos ist ein Körnchen Wahrheit und ein Haufen frei erfundener Fabeln. So auch hier. Denn natürlich wurde nach Gründung der BRD Mehrwert durch Arbeit geschaffen. Doch woher kam das Kapital, woher kamen die Rohstoffe, woher die Aufträge und vor allem, woher kamen die Kredite?

Das, was wir unter dem „Marshallplan“ verstehen, war nicht ausschlaggebend für das sogenannte Wirtschaftswunder und betraf im Übrigen auch die anderen europäischen Länder. Entscheidend war das Wieder-Flüssigmachen des in neutralen Ländern, vor allem der Schweiz, gebunkerten Kapitals.

W: Wie funktionierte dieses „Flüssigmachen“ genau?

GW: Die Details werden in dem Film erklärt und, wie immer, mit zahlreichen Dokumenten belegt. Ich habe ja das Archiv der „Untersuchungskommission Jorge Antonio“ gefunden, in einem Verlies einer privatisierten Bank. Das Imperium von Mercedes-Benz war beschlagnahmt worden, samt aller Unterlagen und der Buchführung über schwarze Kassen, doppelte Buchführung und die Währungsmanipulationen.

Die Beschlagnahmung geschah ab 1955, als der argentinische Präsident von den Militärs aus dem Amt geputscht worden war, und sie stand in den Zeitungen. Es war eine Riesen-Geschichte. Doch die USA haben dieses gigantische Geldunternehmen, das das Recht der Siegermächte massiv verletzte, niemals öffentlich angeklagt.

Im viel gefeierten Eizenstat-Bericht, also dem Bericht des früheren US-Unterstaatssekretärs Stuart Eizenstat über Nazigeldwäsche, geht es einerseits um die bekannte Rolle der schweizer Banken, die Eizenstat ja dann auch zu einer Entschädigungszahlung zwingen konnte, und andererseits um kleine olle Kamellen, kein Wort von der riesigen argentinischen Geldwäsche-Industrie.

Dabei habe ich in US-Archiven zahlreiches Material der OSS und der Army über deren Befürchtungen gefunden, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Situation wiederholen könnte, die es nach dem Ersten Weltkrieg bereits gegeben hatte: nämlich eine Allianz zwischen rechtsradikalen politischen Verbänden und der deutschen Großindustrie.

Daher unterschied der Geheimdienst OSS zwischen dem „normalen“ Wunsch der Industrie, ihre „Reserven“ wieder flüssig zu machen, und dem Raubgold des Nazis-Staates. Eine völlig abwegige Unterscheidung, denn die Industrie war während des Nationalsozialismus eng verwoben mit dem Nazi-Regime und hat daher riesige Profite einfahren können, über die Beschäftigung von Zwangsarbeitern, die Einverleibung von Betrieben und Rohstoffen in den besetzten Ländern und die Aufrüstung der Wehrmacht. Einen Unterschied zwischen diesen und jenen Interessen oder diesem oder jenem Geld gab es da nicht.

(Filmhinweis: Gaby Weber: „Ein Geschenk des Himmels: Wie Daimler-Benz Nazigeld waschen durfte“)

W: Was war der Ursprung des Geldes, das da wieder „flüssig“ gemacht werden sollte? Und von welchen Summen reden wir hier genau?

GW: Es gibt mehrere Schätzungen, und es ist äußerst schwierig, diese mit heutigen Zahlen zu vergleichen. Jorge Antonio sprach selbst von 100 Millionen Dollar der damaligen Kaufkraft. Aber Fakt ist, dass er über ein wahres Imperium verfügte.

Also, wenn man das vergleichen will, dann entspräche das einem Machtzentrum von Deutscher Bank, Daimler, VW und BMW zusammen. Sein Imperium entstand innerhalb kürzester Zeit aus dem Nichts, und er und Daimler konnten keine einzige Banküberweisung vorlegen, die diese Kapitalströme nach Argentinien erklärt.

Am Ende besaßen Antonio und Daimler Dutzende Aktiengesellschaften, die im Bergbau, im Agrobusiness, in der Waffenindustrie und natürlich in der KFZ-Branche eine führende Rolle in Lateinamerika einnahmen.

Sie erbauten eine riesige Industrie in deutschem Besitz und unter deutscher Kontrolle. Und sie brachten führende Nazis in wichtigen Positionen im Ausland unter und betrieben durch all dieses Tun eine massive Reinwäsche von Opfer- und Raubgold, dank derer sich die deutsche Industrie wieder zu erholen und sogar zu wachsen begann.

W: Was ist der Unterschied zwischen „Opfergold“ und „Raubgold“? Und sprechen wir ausschließlich von diesen Kategorien von Geld?

GW: Man muss das unterscheiden, allerdings geht es mir in dem Film vor allem um das Raubgold sowie um die Profite, die die Industrie mit Hilfe des NS-Staates einfahren konnte, etwa durch die Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Das Opfergold, also die Einnahmen der SS und aus der Judenvermögensabgabe, flossen in die Staatskasse und finanzierten den Krieg. Möglicherweise haben da einzelne Nazis etwas abgezwackt, aber das sind für meine Fragestellung zu vernachlässigende Größen.

Raubgold hingegen meint die Beute, die die Wehrmacht sich einverleibte, als sie die Zentralbanken der besetzten Länder ausräumte und diese Länder zu „Zwangskrediten“ zwang – so etwa Griechenland. Opfergold und Raubgold stehen im Verhältnis Eins zu Zehn.

W: Und die Nutznießer hiervon waren welche Kreise genau?

GW: Es war die gesamte Industrie, nicht nur Daimler. Daimler war insofern in Argentinien federführend, weil die anderen Firmen wie Siemens, Krupp und Hochtief schon vor dem Krieg in Argentinien Direktinvestitionen besaßen, die 1945 dann als „Feindeigentum“ beschlagnahmt wurden. Es musste also ein „unbelastetes“ Unternehmen her, und das kam aus Untertürkheim.

W: In den Papieren, die Sie im Film präsentieren, ist auch von „neuer deutscher Stärke“ die Rede, die man anstrebte. Und von der Unterstützung einer „Nazi-Partei, die in den Untergrund ging“. Von einem „Nach-Niederlage-Plan“ der deutschen Faschisten. Harter Tobak. Gibt es Belege hierfür?

GW: Das sind Dokumente aus dem US-Bundesarchiv. Im Übrigen hat mir auch Daimler Zugang zu seinem Archiv gewährt, ich habe also die Unterlagen aus verschiedenen Ländern zusammengetragen, aber entscheidend waren die beschlagnahmten und von mir wieder aufgespürten Dokumente der „Untersuchungskommission Jorge Antonio“. Dort lagen die Beweise und Zeugenaussagen.

Und, ja: Die deutschen Faschisten hatten einen sehr dezidierten „Nach-Niederlage-Plan“, wie sie mithilfe der deutschen Industrie wieder zu Macht und Einfluss gelangen wollten.

W: Welche Rolle hatte Ludwig Erhard bei alldem inne?

GW: Erhard war – entgegen dem Mythos – schon während des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Vertreter der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Er war von Anfang an bei der Nazigeldwäsche dabei und reiste auch nach Argentinien.

Jorge Antonio hat mir im Interview klar gesagt, dass er, bevor er das große Geldwäscheunternehmen anging, auf Nummer Sicher gehen wollte, und zusammen mit Erhard und dem Daimler-Chef Haspel beim US-Hochkommissar McCloy gewesen war, der dann sagte: Machen Sie mal, Sie haben meinen Segen!

Also, wenn sich die US-Behörden heute so darstellen, dass sie immer nach Nazigold gesucht haben, dann ist das blanker Unsinn. Das fand alles unter ihren Augen statt, und als das Imperium 1955 beschlagnahmt wurde und sich in Luft aufzulösen drohte, da waren es wieder die USA, die Daimlers Investitionen in Argentinien retteten. Kein Wort davon haben sie jemals öffentlich gemacht.

W: Und wieso haben die USA sich so verhalten? Ich meine: Die Siegermächte hatten doch hohe Reparationsansprüche nach dem Krieg?

GW: Das ging dann alles im Kalten Krieg unter, der ja spätestens 1947 begonnen hatte. Und Reparationen sind ja bis heute nicht gezahlt. Was die Entschädigungen angeht, empfehle ich sehr das in Bälde erscheinende Buch „Schuld und Schulden: Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa“ von Karl Heinz Roth, der das genau aufdröselt.

Roth schätzt, dass die Deutschen, also „wir Deutschen“, nach 1945 an Entschädigungen – also Renten etc. – über 300 Milliarden Euro an die Täter der NS-Verbrechen gezahlt haben und an ihre Opfer zwischen 50 und 60 Milliarden.

Und auch von den geringen Entschädigungszahlungen wie etwa jenen aus dem sogenannten Wiedergutmachungsabkommen sind die Hälfte der Gelder vertragswidrig im Kalten Krieg verwendet worden, nämlich zum Freikauf von Juden aus der Sowjetunion. Daran hatte die CIA großes Interesse.

W: Mittels des Kontrollratsgesetzes Nummer 5 vom 30. Oktober 1945 wurde aber doch die Beschlagnahmung alles deutschen Geldes verfügt.

GW: Aber eben in der Bundesrepublik nicht durchgesetzt. Die Westalliierten hatten zwar im Rahmen ihrer „Operation Safehaven“ die Konten der deutschen Firmen in der Schweiz aufgespürt – ich habe diese Listen –, aber die Operation schlief von selbst ein, weil man die Deutschen wieder als Juniorpartner brauchte und ein Juniorpartner natürlich Geld haben muss.

Und wenn das schmutziges Geld ist, ist das in dieser Logik auch egal. Ich sagte das Antonio, dass das schmutziges Geld war. Er antwortete sehr knapp, dass ihm das egal war, er wollte eine Lastwagenfabrik und hat sie bekommen.

W: Warum ist all das bis heute nicht oder nur in Ansätzen bekannt?

GW: Weil wir alle so gerne an diese Mythen glauben: die Deutschen als die fleißigen Wiederaufbauer, die Amis als Anti-Faschisten aus tiefstem Herzen, die Israelis als die Nazi-Sucher und die Argentinier mit ihren als „Experten“ eingewanderten Nazis, die ihnen vor allem beim Aufbau ihrer nationalen Industrie geholfen haben.

Alles sehr hübsch, aber eben falsch. Journalisten könnten hier die Fakten auf den Tisch legen, aber die Suche nach Dokumenten ist mühsam und ist von den Redaktionen oft gar nicht gewünscht. Wir wollen doch die „Guten“ sein und die Schreiber wollen das auch.

W: Der Hitlerfaschismus ist in Deutschland also … nach wie vor alles andere als aufgearbeitet?

GW: Eigentlich sind diese zwölf Jahre extrem intensiv aufgearbeitet. Es gibt kaum einen Zeitraum, über den so viel geschrieben wurde. Auch die Filmindustrie war ja immer eine dankbare Abnehmerin.

Aber es fehlt eine kritische Betrachtung und das Erschließen neuer Archive, zum Beispiel von Archiven der Industrie, auch die von US-Unternehmen wie der US-Erdölindustrie. Mich hat Daimler einen Teil davon einsehen lassen, aber ich bezweifle, dass es eine komplette Einsicht war.

W: Welche Konsequenzen haben Ihre Recherchen nun?

GW: Juristisch gar keine. Roth und der langjährige Daimler-Betriebsrat Tom Adler meinen aber, dass – nachdem uns die Welt nach den Naziverbrechen nochmal eine zweite Chance gegeben hat – wir auch den anderen eine zweite Chance geben sollten, Griechenland zum Beispiel, und dass hier noch Zahlungen ausstehen.

Das letzte Wort in dem Film hat aber ein argentinischer Betriebsrat von Mercedes-Benz, der darauf hinweist, dass Argentinien und die Länder der südlichen Halbkugel diese zweite Chance, die Deutschland erhielt, nicht bekommen: Das Problem mit der Auslandsschuld ist nicht gelöst und wird sich in naher Zukunft noch verschärfen. Die internationalen Organisationen haben es immer noch nicht geschafft, ein Abkommen zu schaffen, wie ein Land aus einem Staatsbankrott herauskommt. Klar, die internationale Finanzwelt will das verhindern, denn diese Verhinderung verspricht ihr satte Profite – die mit Hunger bezahlt werden.

W: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Gaby Weber, 1954 in Stuttgart geboren, Magister und Promotion an der FU Berlin, ist seit 1978 hauptberufliche Journalistin, arbeitete zuerst für den stern und ab 1981 für die ARD. Seit 1985 ist sie freiberuflich als Südamerika-Korrespondentin tätig. Ihre Homepage ist gabyweber.com.

Das Interview erschien in den NachDenkSeiten am 24.10.2016.

Hier der Link zum Text: nachdenkseiten.de/?p=35526

Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jensewernicke.wordpress.com.

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