HIStory: Die Deutschen und der Antisemitismus (Podcast)

Der Buchautor und Publizist Hermann Ploppa erläutert in HIStory kurz und sachlich historische Daten und Jahrestage von herausragenden geschichtlichen Ereignissen. Dabei werden in diesem Format Begebenheiten der Gegenwart, die mit einem Blick in die Vergangenheit in ihrer Bedeutung besser einzuordnen sind, künftig alle 14 Tage montags in einen geschichtlichen Kontext gebracht.

Das Thema heute: Die Deutschen und der Antisemitismus

In der heutigen Folge von History befassen wir uns mit der Frage, wie der Antisemitismus in Deutschland Fuß fassen konnte. Wie er zu einem derart dominanten Faktor werden konnte. Ein empfindliches Thema, wir wissen es. Denn die grauenhafteste antisemitische Schandtat in der bisherigen Menschheitsgeschichte vollzog sich auf einem Territorium, das von der deutschen Wehrmacht besetzt gehalten wurde. Die Radikalität, mit der respektierte Mitbürger aus ganz Europa zunächst ihrer Menschenwürde und dann zum bitteren Schluss auch textil entkleidet wurden, ist ohne Beispiel. Die systematische und sadistische industriell geprägte Auslöschung von Menschenleben in den Vernichtungslagern von Auschwitz, Sobibor oder Belzec ist mit dem menschlichen Geist nur noch schwer zu fassen.

Die Frage, wie es dazu kommen konnte, muss immer in dezenter und respektvoller Weise gegenüber den Opfern geschehen. Die Frage ist also: welches könnte der Humus sein, auf dem solche Dinge wachsen können? Die älteste Bruchstelle für antijüdische Ressentiments gründet bereits im biblischen Übergang vom Alten zum Neuen Testament. Die friedfertige und andererseits sozialrevolutionäre Weltanschauung des Lehrers und Geistheilers Jesus von Nazareth wurde in den biblischen Schriften, überliefert Jahrzehnte nach dem Kreuzigungstod von gewieften Strategen wie dem Apostel Paulus, komplett umgedreht. Besonders die Offenbarung des Johannes und andere kanonische Bibeltexte strotzen vor Hass und Rachedurst. Ein Hass, der die nachvollziehbare Antwort auf den unvorstellbar grausamen Imperialismus des Römischen Reiches darstellte. Das Neue Testament enthält dabei allerdings auch jede Menge Hass-Botschaften gegen die Juden, die als „Christusmörder“ gebrandmarkt werden (1).

Und immer wieder ist genau diese Beschuldigung jene Blaupause, aufgrund der die Juden in der Spätantike und im Mittelalter immer wieder gebrandschatzt, ermordet oder vertrieben wurden. Da rief zum Beispiel Papst Urban der Zweite im Jahre 1095 zum Kreuzzug der Christen nach Jerusalem auf. Die dort lebenden Muslime und Juden sollten verjagt werden. Jerusalem sollte christlich werden. Und Papst Urban sagt ganz offen in seiner Predigt: die Bevölkerung in Europa hat dramatisch zugenommen.

Der Boden gibt nicht mehr genug her für so viele neue Erdenbewohner. Es gibt Grafen ohne Anspruch auf eigene Territorien. Unzählige Bauernsöhne können den väterlichen Betrieb nicht erben. Geht nach Osten und sucht Euch dort eine neue Bleibe! Tatsächlich hat eine starke Erderwärmung vom Neunten bis zum vierzehnten Jahrhundert nach Christus die Bevölkerung in Europa um den Faktor vier anwachsen lassen.

Das führt zu sozialen Unruhen und zu massiven Verteilungskämpfen. Entwurzelte Menschen versuchen durch Raub und Mord eine Existenz aufzubauen. Unter dem Vorwand, gegen „Christusmörder“ vorzugehen, werden im Jahre 1096 im Bauernkreuzzug in Speyer, Worms und Mainz Juden vor die Wahl: „Taufe oder Tod“ gestellt. Noch räuberischer kommen die so genannten Rindfleischpogrome von 1298 oder die Armledererhebung in den Jahren 1348 bis 1353 daher. Als eine Pestepidemie ausbricht, sollen die Juden die Brunnen vergiftet haben. Zudem entlädt sich über die Jahrhunderte immer wieder der Zorn gegen jüdische Geldverleiher. Zunächst war es nämlich Christen untersagt, beim Geldverleihen Zinsen zu nehmen. Die Juden durften das aber. Die rätselhafte Geldvermehrung grenzte in der Wahrnehmung der Leute an Zauberei. Schwarze Magie. Erwähnen wir noch den Sternberger Hostienschänderprozess und die Judenvertreibungen in der Mark Brandenburg. Doch mit der allgemeinen Befriedung der Gesellschaft wurden solche offenen Gewaltausbrüche immer seltener.

Der Antisemitismus wurde subtiler. Viele Juden konnten aufsteigen und wurden so genannte „Hofjuden“, die den immer wieder verschwendungssüchtigen Fürsten mit Geld aushalfen, wenn‘s mal klemmte. Immer öfter traten nun auch jüdische Gelehrte wie Baruch Spinoza oder Moses Mendelssohn in der akademischen Welt auf. Als einmal Moses Mendelssohn seinen Freund Immanuel Kant während einer Vorlesung im Hörsaal besuchte, spotteten die Studenten zunächst über den jüdischen Gelehrten. Jedoch ging Kant auf Mendelssohn zu, umarmte ihn herzlich und stellte seinen Gast den Studenten vor. Woraufhin die Studenten Mendelssohn bejubelten. Was wieder einmal zeigt, wie „anpassungsfähig“ die geistige Elite schon immer gewesen ist.

Im Mittelalter wurden die Juden noch in einem speziellen Stadtteil, dem so genannten Ghetto, eingepfercht. Das war im Neunzehnten Jahrhundert indes nur noch im Vatikanstaat der Fall. Intellektuelle und Künstler gaben sich die Klinke in die Hand in jenen Salons, die von kultivierten jüdischen Gastgeberinnen geführt wurden und debattierten dort über die Besserung der Welt durch Erziehung und Bildung. Die Französische Revolution erkämpfte allen Menschen auf diesem Globus, zumindest auf dem Papier, die gleichen Rechte. Das färbte auf die meisten europäischen Länder ab. Im Jahre 1819 allerdings stänkerten deutsche Studenten gegen die Judenemanzipation und zettelten so genannte Hep-Hep-Krawalle gegen Juden an. Doch diese Ausbrüche endeten so schnell wie sie gekommen waren.

Im Neunzehnten Jahrhundert war also die Gleichberechtigung der Juden gut vorangekommen. Das Zusammenleben von christlichen und jüdischen Gemeinden verlief im Großen und Ganzen spannungsfrei. Viele Juden hatten längst vergessen, dass sie Juden waren, und fühlten sich in erster Linie als Deutsche. Die Hugenotten waren erfolgreich integriert. Auf ähnliche Weise hätte auch bald die Integration der jüdischen Mitbürger ihren erfolgreichen Abschluss finden können.

Da überzog ab 1880 eine antisemitische Welle das Deutsche Reich. Steine flogen durch Synagogenfenster. Es kam zu tätlichen Übergriffen auf Juden. Und schließlich brannte am 18. Februar 1881 in Neustettin die Synagoge. Am helllichten Tag. Allerdings ohne Volksauflauf. Die Neustettiner Bürger gingen ihrer Arbeit nach. Ein Gericht klagte fünf jüdische Bürger an, den Brand gelegt zu haben, um mit der Versicherungssumme eine neue Synagoge bauen zu können. Reichsweit entflammte eine hitzige Diskussion, wie dieser Fall einzuschätzen sei. In der zweiten Berufungsinstanz wurden die Angeklagten endlich freigesprochen. Innenminister von Puttkamer und Kaiser Wilhelm I. schickten Dienstanweisungen, schärfer gegen die antisemitische Hetzer vorzugehen.

Die antisemitische Welle stand mit zwei Großereignissen im Zusammenhang: in Russland hatte das Attentat auf Zar Alexander II. zu Massenpogromen gegen Juden geführt. Dieses Ereignis fand seinen Nachhall durchaus auch in den preußischen Ostprovinzen. Obendrein hatte Bismarck mit seinen Sozialistengesetzen die politische Betätigung der Arbeiterbewegung verboten. Um dieses politische Vakuum auszufüllen, erfindet der Hofprediger Adolf Stöcker die Christlich-Soziale Arbeiterpartei.

Die CSA soll die Sozialdemokratie überflüssig machen. Es handelt sich also um eine synthetische „Bewegung“, die soziale Forderungen mit Judenhass kombinieren soll. Stöcker bedient sich der „Blitzableiter-Funktion“: an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der kleinen Leute sind angeblich „die Juden“ schuld. Die Arbeiter interessieren sich jedoch überhaupt nicht für diesen synthetischen Ersatz der Sozialdemokratie. Mehr Erfolg hat der gescheiterte Akademiker Otto Böckel. Seine Adressaten sind Kleinbauern. Als Messias zieht er auf einem Esel, Jesus Christus nachempfindend, durch Nordhessen. Man nennt ihn „den Bauernkönig“. Böckel sieht sich allerdings auch als Teil der Genossenschaftsbewegung und versucht, so genannte „judenfreie“ Viehmärkte aufzuziehen – allerdings erfolglos. Viele seiner Anhänger interessiert mehr der soziale Gesichtspunkt seiner Politik als Böckels Antisemitismus.

Der Volkshetzer Ernst Henrici, der in jenen Tagen durch die Lande zog, und dessen Auftritte von den örtlichen Industriellen und Gutsbesitzern finanziert wurden, veranlasste am Ende seiner Vorträge Solidaritätsschreiben an Bismarck. Darin wird vor allem Bismarcks neue Schutzzollpolitik gepriesen, die deutsche Landwirte vor billigen Einfuhren aus Russland schützte. Und der vielbeschäftigte Bismarck ließ es sich nicht nehmen, eigenhändig Dankschreiben für Henricis Episteln zu verfassen (2).

Als ihm allerdings seine außerparlamentarischen Helfer eine antisemitische Petition mit 250.000 Unterschriften zuschickten, zog Bismarck es dann doch vor, nicht zu reagieren. Die Petition forderte von der Regierung eine weitgehende Zurücknahme der Gleichstellung jüdischer Mitbürger. Bismarck kommt den Petenten dennoch 1884 entgegen. Er entlässt nämlich 10.000 Juden und 25.000 Polen zwangsweise aus der deutschen Staatsbürgerschaft.

In den Neunziger Jahren wurden sechzehn erklärte Antisemiten mit teilweise schwindelerregenden Mehrheiten von bis zu 70% in den Reichstag gewählt. Jedoch zerbrach die Phalanx der Antisemiten schnell wieder. Korruptionsaffären wurden den Demagogen zum Verhängnis. Das Wort vom „Geschäfts-Antisemitismus“ machte die Runde. Antisemitische Überzeugungstäter zogen sich angewidert zurück, weil sie in den Antisemitenblättchen Werbeanzeigen von jüdischen Unternehmen entdeckten. So schreibt der britische Historiker Richard Evans in seinem Grundlagenwerk über den Nationalsozialismus: „Die antisemitischen Parteien blieben eine marginale Protesterscheinung und verschwanden kurz nach der Jahrhundertwende großenteils wieder.“ (3)

Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts traten vereinzelt akademische Einzelkämpfer auf, die die Fahne des Judenhasses immer noch hochhielten. Da war zum Beispiel der preußische Großhistoriker Heinrich von Treitschke mit seinem berüchtigten Satz: „Die Juden sind unser Unglück.“ Oder der international angesehene Experte für antike Schriften, der Göttinger Ordinarius Paul de Lagarde. Lagarde hatte mit seinen „Deutschen Schriften“ einen Bestseller gelandet. Darin wettert er sogar gegen den Protestantismus und gegen Bismarck. Schließlich versteigt er sich in Vernichtungsphantasien gegen Juden (4).

Diese Extremisten konnten allerdings von noch renommierteren deutschen Kapazitäten wie Rudolf Virchow, Theodor Mommsen oder Johann Gustav Droysen wieder zurückgedrängt werden. Noch einmal der britische Historiker Evans: „Solche Reaktionen erinnern daran, dass trotz des rasch zunehmenden Einflusses antisemitischer Autoren die überwiegende Mehrheit der öffentlichen Meinung Deutschlands, links wie rechts, im Bürgertum wie in der Arbeiterklasse, gegen einen derartigen Rassismus immun blieb.“(5)

Und es führt auch kein „logischer Weg“ von den deutschen Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts zur Ideologie der NSDAP. Vielmehr haben sich die Nazis im Nachhinein aus der Bibliothek großer deutscher Geister herausgepickt, was ihre eigenen Handlungen rechtfertigen könnte. Der Marburger Historiker Ulrich Sieg: „… es waren nur wenige Ideologeme, die aus den Werken Arndts, Fichtes, Treitschkes oder Lagardes zitiert wurden und zumeist der Unterstützung aktueller Interessen dienten.“(6)

Man möge sich einmal vergegenwärtigen, was sich zur gleichen Zeit in anderen Ländern ereignete. In Russland kam es zu judenfeindlichen Pogromen mit tausenden Todesopfern und abertausenden von Vertriebenen und Enteigneten. Keine Staatsautorität gebot dem Treiben Einhalt. In Frankreich tobte die antijüdische Hysterie der Dreyfus-Affäre. In den USA kam es Ende des Jahrhunderts zu äußerst handfesten antisemitischen Ausschreitungen. Im südlichen Mississippi zündete ein christlicher Mob Häuser von Juden an. Kaum dem Horror russischer Pogrome entkommen, sind Juden in den USA schon wieder massiver Gewalt ausgesetzt, wie der amerikanische Historiker John Higham zu berichten weiß: „Russisch-Polnische Juden waren bereits in den frühen Achtzigern mit Steinen beworfen worden, und im nächsten Jahrzehnt wurde diese erbärmliche Form der Judenhetze (jew-baiting) immer beliebter.“(7)

Eine riesige Massenschlägerei bricht aus, als 1893 in New Jersey 500 raue Handwerksburschen einer Glasfabrik sich 14 neu eingestellte russischstämmige Juden rannehmen: „Drei Tage gewalttätiger Demonstrationen veranlassten / die meisten jüdischen Einwohner, aus der Gegend zu fliehen.“ (8)

Währenddessen macht eine deutschvölkische Schickeria Druck auf Hoteliers an den Seebädern, ihre Kurorte „judenrein“ zu halten. Der so genannte „Bäder-Antisemitismus“. Die ostfriesische Insel Borkum erlangt traurige Berühmtheit als „judenfreier“ Ort und macht damit sogar Werbung. Andere Inseln wie Föhr oder Sylt heißen jüdische Gäste dagegen herzlich willkommen.(9)

Nach dem Ersten Weltkrieg ereignet sich in Deutschland ein einziger Vorfall, den man als Pogrom bezeichnen könnte, der tatsächlich jedoch von langer Hand inszeniert ist. Am 4. November 1923 vormittags wartet in Berlin eine große Masse Arbeitsloser vor dem Sozialamt auf die Ausgabe von Unterstützungsgeld. In die bereits genervte Menge verteilen sich Vierminuten-Redner der NSDAP und verbreiten das Gerücht, das Geld hätten sich Juden unter den Nagel gerissen. Gegen Mittag wird den Wartenden amtlich mitgeteilt, es gäbe heute kein Geld. Die Nazi-Rädelsführer schubsen die zornigen und enttäuschten Arbeitslosen in die angrenzenden Wohnviertel, in denen viele Juden leben. Die Nazis beginnen, Scheiben von „jüdischen“ Geschäften einzuschmeißen und zu plündern. Es ist keine Kunst, die hungernden Arbeitslosen dazu zu bringen, sich kostenlos Würste und Brote einzupacken, oder auch eine Ladenkasse mitgehen zu lassen. Der Terror des Mobs dauert zwei Tage, und die Polizei glänzt durch Untätigkeit.

Beachten wir einmal den Zeitpunkt dieses manipulierten „spontanen Volkszorns“. In diesen Tagen pfeifen schon die Spatzen von den Dächern, dass ein Herr Hitler demnächst in Bayern die Macht ergreifen will und nach dem Vorbild von Mussolinis „Marsch auf Rom“(10) dann entsprechend auf Berlin marschieren will. Das gesteuerte Pogrom sollte den psychologischen Boden bereiten für den neuen Herrscher. Der blieb allerdings am 9. November bereits im Münchner Stadtzentrum stecken, und musste seine Machtergreifung um zehn Jahre verschieben.

Es wollten sich in Deutschland einfach keine spontanen Pogrome, wie sie in Osteuropa an der Tagesordnung waren, entfachen lassen. Auch der so genannte „Judenboykott“ von 1933 war nach einhelliger Meinung aller Experten kein Erfolg. Die „normale Bevölkerung“ blieb dem Terror der paramilitärischen Einheiten angeekelt fern. Als die SA-Schläger abgezogen waren, kaufte man wieder in den „jüdischen Geschäften“ ein. Wenig bekannt in der Öffentlichkeit: bei den Aktionen zum „Judenboykott“ umlagerten die bezahlten Nazi-Söldner gleichzeitig auch die Geschäfte der Konsumgenossenschaften, um den großen Warenhauskonzernen die lästige basisdemokratische Konkurrenz vom Hals zu schaffen (11).

Und nun fand im Jahre 1938 doch noch ein Pogrom in Wien statt, das tatsächlich die Kriterien eines echten Pogroms erfüllt: ein Pogrom entsteht aufgrund einer ganz realen Empörung in der Bevölkerung, die sich dann gegen schwache ungeschützte Minderheiten entlädt. Diese Minderheiten werden verantwortlich gemacht für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Der Pestausbruch im ausgehenden Mittelalter wurde auf diese Weise den Juden zugeschoben. Als nun im März 1938 Hitler sein Heimatland Österreich kurzerhand annektiert, kommt es bereits vor dieser Annexion zu einem Pogrom gegen die Juden, die in der Wiener Josefstadt lebten. Tatsächlich stürmt ein enthemmter Mob durch die Straßen und Häuser der Josefstadt und lyncht jüdische Mitbürger. Der Kulturanthropologe Egon Friedell stürzt sich aus Angst vor dem Lynchmob aus dem Fenster und kommt dabei ums Leben. Der Dramatiker Carl Zuckmayer hat den Horror in Wien hautnah miterlebt. Er erinnert sich mit Schaudern (12):

„An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen. Die Luft war von einem unablässig gellenden, wüsten, hysterischen Gekreische erfüllt, aus Männer- und Weiberkehlen, das tage- und nächtelang weiterschrillte. Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen in Angst, die andren in Lüge, die andren in wildem, hasserfülltem Triumph … Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“

Tausende jüdische Mitbürger fliehen in die Schweiz oder gleich nach Marseille. Auch die Familie des später sehr bekannt gewordenen Kabarettisten Georg Kreisler emigriert mit einem Liniendampfer nach Los Angeles. Wieder einmal werden die „Christusmörder“ verantwortlich gemacht für alle möglichen Fehlentwicklungen.

Die „Reichskristallnacht“, die im November 1938 im ganzen Reich ausbrach, war demgegenüber kein Pogrom. Die Blutnacht am 9. auf den 10. November 1938 wurde ausschließlich von Hitlers und Himmlers paramilitärischen Verbänden geplant und durchgeführt. Die Bevölkerung ging lieber in einer Mischung aus nackter Angst und Ekel in Deckung (13). Beteiligt waren bei diesem Verbrechen ausschließlich die paramilitärischen Truppen der SA, der SS sowie des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK).

Die Judenvernichtung schließlich vollzog sich im Windschatten des Bombenkrieges. Die Verschleppung der jüdischen Opfer geschah in aller Heimlichkeit. Und zwar nachts. Generalstabsmäßig geplant und durchgeführt mit logistischer Hilfe des US-amerikanischen Büromaschinenkonzerns IBM und seiner deutschen Tochtergesellschaft Dehomag (14). Effiziente Logistik vermeidet unerwünschte Öffentlichkeit. Die so genannte „Endlösung der Judenfrage“ geschah zudem bekanntlich zu einer Zeit, als es eine „Öffentlichkeit“, die Einspruch hätte erheben können, gar nicht mehr gab, nämlich in der heißen Phase des Krieges, ab 1942. Zudem befanden sich die Vernichtungslager Auschwitz, Sobibor und Belzec außerhalb Deutschlands im besetzten und entrechteten Polen. Weitab, und hermetisch abgeschirmt von der deutschen Öffentlichkeit.

War der Antisemitismus in Deutschland in den Jahren vor dem Holocaust ein Alltagsphänomen? Der Soziologe Leo Löwenthal, der vor den Nazis in die USA fliehen musste, hatte erzwungenermaßen die Möglichkeit zum Vergleich. Über die Stimmung in der Weimarer Republik sagte er: „Im alltäglichen Leben hat es eigentlich gar keine Rolle gespielt, ob man Jude war oder nicht … Wir haben uns immer darüber lustig gemacht, eben weil es eine solche Randerscheinung war.” Und Löwenthal über seine Erfahrungen in den USA: „Wir haben auf einmal entdeckt, dass es hier [in den USA] etwas gibt wie wirklichen everyday-Antisemitismus und dass man sich nicht ungehemmt und frei als Jude in allen gesellschaftlichen Bereichen bewegen kann”(15).

Wir sehen: Es gibt vor 1933 wenig Anzeichen dafür, dass ausgerechnet von Deutschland eine Vernichtung gegen Juden ausgehen könnte. Hätte ein Zeitgenosse im Jahre 1900 raten sollen, welche Nation es einmal fertigbringen würde, industrielle Vernichtungsanlagen gegen Juden zu bauen und dabei sechs Millionen jüdische Mitbürger systematisch zu ermorden, so hätte der Zeitgenosse höchstwahrscheinlich auf Frankreich oder noch eher auf Russland getippt. So sieht es jedenfalls der britische Historiker Richard Evans in seiner monumentalen Darstellung des Dritten Reichs und zieht den Schluss:

„Daß ausgerechnet Deutschland mit seiner stark akkulturierten jüdischen Gemeinde und seinem verhältnismäßig geringen offenen oder gewalttätigen politischen Antisemitismus die Nation sein würde, die diese Vernichtungskampagne durchführte, wäre dem Zeitgenossen nicht in den Sinn gekommen. Antisemitische Politik war noch verhältnismäßig unbedeutend.“ (16)

Es ist doch sehr zu wünschen, dass eine solche wohltuend differenzierte Sichtweise auch endlich Eingang in unsere Schulbücher und mediale Aufbereitungen finden würde. Es gibt hier noch viel zu tun, um Propaganda durch ausgewogene Information zu ersetzen.

Wir lernen aus der Vergangenheit, wie wir die Zukunft besser machen.

Quellen und Anmerkungen:

  1. Daniel Goldhagen: Die Katholische Kirche und der Holocaust. München 2003.
  2. Zwei Tage nach einem solchen Henrici-Auftritt in Neustettin brannte die dortige Synagoge.
  3. Richard Evans: Das Dritte Reich. Bd. 1: Aufstieg, S.76.
  4. Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet – Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus. München 2007.
  5. Evans, Reich, S. 75.
  6. Sieg, Prophet, S. 329.
  7. John Higham: Strangers in the Land – Patterns of American Nativism 1860-1925. New Brunswick/London 1988. S. 92. Die Übersetzung der Zitate ins Deutsche stammt vom Autor.
  8. Higham, Strangers, S. 92/93.
  9. Frank Bajor: „Unser Hotel ist judenfrei“ – Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main 2003.
  10. von Mussolini angetreten, schlafend, im Nachtexpress nach Rom.
  11. Kay Dohnke: Nationalsozialismus in Norddeutschland. Ein Atlas. Karte 17, S. 41.
  12. Zitiert nach: Evan Burr Bukey: Hitlers Österreich – „Eine Bewegung und ein Volk“. Hamburg/Wien 2000. S.50
  13. Ausführlich nachzulesen in: Uta Gerhard/Thomas Karlauf (Hg.): Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938. Berlin 2009.
  14. Die massive Unterstützung der Holocaust-Logistik wird archivbasiert dokumentiert durch Edwin Black: IBM und der Holocaust. Die Verstrickung des Weltkonzerns in die Verbrechen der Nazis. Berlin 2002.
  15. Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, Frankfurt 1980 S. 32/33.
  16. Evans, Reich, S.78

Bildquellen:

  1. https://onlinesammlungen.ghwk.de/stummezeugnisse/item/1761, Verffentlichung unter der Lizenz CC-BY SA 4.0 – gemeinfrei
  2. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%9Cberlebende_KZ_M%C3%BChldorf.jpg – gemeinfrei
  3. https://www.evangelischer-glaube.de/die-heilige-schrift/altes-und-neues-testament/ – gemeinfrei
  4. https://quinque-bibliothek.de/die-offenbarung-des-johannes-kapitel-4/ – gemeinfrei
  5. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Urban_ii_-_Roman_de_Godfroi_de_Bouillon.jpg – gemeinfrei
  6. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:PeoplesCrusadeMassacre.jpg – gemeinfrei
  7. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marinus_van_Reymerswale_-_The_Banker_and_His_Wife_-_WGA19323.jpg – gemeinfrei
  8. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Moses_Mendelson_P7160073.JPG – gemeinfrei
  9. https://www.vienna.at/neue-ausstellung-im-juedischen-museum-wien-rueckt-prominente-salons-in-den-fokus/5803673 – gemeinfrei
  10. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hep-hep_riots.jpg – gemeinfrei
  11. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/antisemitismus.html – gemeinfrei
  12. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Attentat_mortal_Alexander_II_(1881).jpg – gemeinfrei
  13. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Stoecker,_F%C3%BChrergesicht.jpg – gemeinfrei
  14. https://www.lagis-hessen.de/pnd/118852337 – gemeinfrei
  15. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ernst_Henrici_001.jpg – gemeinfrei
  16. https://www.zvab.com/Schriften-deutsche-Volk-1.Band-2.Band-Ausgew%C3%A4hlte/15514983694/bd#&gid=1&pid=1
  17. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1904_Russian_Tsar-Stop_your_cruel_oppression_of_the_Jews-LOC_hh0145s.jpg
  18. https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Spuren-des-Antisemitismus-auf-Borkum,antisemitismusborkum103.html
  19. https://www.jmberlin.de/sites/default/files/katalog-berlin-transit-leseprobe.pdf
  20. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_102-00344A,_M%C3%BCnchen,_nach_Hitler-Ludendorff_Prozess.jpg – gemeinfrei
  21. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:On_April_1,_1933,_the_boycott_which_was_announced_by_the_Nationalsocialistic_party_began._Placard_reads,_%22Germans…_-_NARA_-_541929.tif – gemeinfrei
  22. https://proxy.europeana.eu/92064/bildarchivaustria_Preview_1073447?view=http%3A%2F%2Fwww.bildarchivaustria.at%2FPreview%2F1073447.jpg&disposition=inline&api_url=https%3A%2F%2Fapi.europeana.eu%2Fapi – gemeinfrei
  23. https://www.discogs.com/Georg-Kreisler-Lieder-Zum-F%C3%BCrchten/master/215338
  24. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_102-14468,_Berlin,_NS-Boykott_gegen_j%C3%BCdische_Gesch%C3%A4fte.jpg – gemeinfrei
  25. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1982-174-27,_N%C3%BCrnberg,_Ausweisung_polnischer_Juden.jpg – gemeinfrei
  26. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Plan_obozu_zaglady.jpg – gemeinfrei

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Hermann Ploppa hat mehrere Bücher veröffentlicht, unter anderem:

„Die Macher hinter den Kulissen: Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern“

„Hitlers amerikanische Lehrer: Die Eliten der USA als Geburtshelfer der Nazi-Bewegung“

„Der Griff nach Eurasien: Die Hintergründe des ewigen Krieges gegen Russland“.

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