Hallo, frustrierte Mittelschicht

Von Susan Bonath.

Tagein, tagaus höre ich euch Mittelschichtler jammern. Ihr tragt die gesellschaftliche Hauptlast. Von euren mühsam erschufteten Einkommen müsst ihr längst weit mehr als »den Zehnten« abdrücken. Ihr finanziert das Militär, die Polizei, die Politiker, die Kriege, die ausgeuferten Bürokratenapparate, … Ach nein, um dieses Dilemma geht es den meisten von euch nicht. Euer Hauptproblem kotzt ihr in die Onlineforen und die verrauchte Luft der Kneipenstammtische: Es ist die wachsende Unterschicht.

Ja, liebe Mittelschichtler, man zweigt von euch auch die Kohle ab, um das wachsende Elend zu finanzieren. Und wenn ich in die Kommentarspalten der Zeitungen schaue, habt ihr sogar »Lösungen« parat. Und die sehen dann so aus: »Hartz IV nur noch ein Jahr, dann gar nix mehr. Sollen die ihren Arsch bewegen.« Oder: »Sofort raus mit dem schmarotzenden Rumänenpack!« und auch: »Arbeitslager für faule Schweine und Asylanten wären ein Programm.« Das ist also eure »Endlösung«. Ihr predigt den Faschismus.

Ich will euch nicht mal absprechen, frustriert zu sein. Jeder kleine Selbständige ist zurecht sauer, wenn ihm von einem Monatsgewinn von 1.300 Euro nach Abzug von Steuern, Beiträgen für Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung keine 500 Euro zum Leben bleiben. Jeder Arbeiter mit einem Monatsbrutto unter zweieinhalbtausend Euro hat ganz klar die Arschkarte. Und ihr jammert weiter: 60 Stunden jede Woche malocht ihr, seht eure Kinder kaum und täglich um fünf Uhr morgens klingelt euer Wecker. Ich kenne das.

Aber was ich nicht verstehe: Warum seid ihr so grausam? Warum wehrt ihr euch nicht gegen die Ursache? Gegen das Schonprogramm für die leistungslos Reichen, die sich das Gros eurer hart erarbeiteten Abgaben einstecken? Ihr habt sie doch sicher schon gesehen: Die Luxusjachten in griechischen Häfen, die Prachtvillen in Südspanien, die lächelnden Gesichter von deren Besitzern auf den Titelseiten der Illustrierten. Würde das Geld dieser Multimillionäre und Milliardäre vernünftig verteilt, müssten von euren Steuergeldern keine armen Schlucker durchgefüttert werden. Dann müsstet ihr viel weniger arbeiten, denn die Arbeit könnte gerecht auf alle aufgeteilt werden. Niemand würde Lebensmittel verbrennen, um die Preise oben zu halten. Kein Kind müsste verhungern. Kein Obdachloser draußen schlafen. Kein Haus müsste leer stehen und verrotten. Also ihr Mittelschichtler: Warum seid ihr so grausam?

Aber ihr wollt keine Antworten, die drastische Konsequenzen verlangen. Ihr wollt nach unten treten. Als Opfer fühlt man sich scheiße. Dabei wisst ihr, dass längst auch ihr mit einem Bein im Abgrund steht. Ihr redet euch ein, ihr könntet euch immer weiter optimieren, noch ein bisschen tiefer buckeln vor der Obrigkeit, noch etwas freundlicher lächeln – obgleich euch überhaupt nicht danach zumute ist.

Und ihr hasst es einfach, auf dem Weg in euer Büro Pennern begegnen zu müssen. Schmutzige Menschen, alte und junge, manchmal sogar Kinder, eingerollt in Schlafsäcken auf Pappkartons – bei drei Grad unter Null. Ihr denkt, die sollen ihren Arsch bewegen, ohne euch zu fragen, ob ihr den euren unter diesen Umständen noch einen Zentimeter weit bewegen könntet. Ihr fragt nicht: Wer oder was hat diese Menschen dorthin getrieben? Glaubt ihr im Ernst, eine Roma-Mutter sitzt freiwillig bei Nässe und Kälte in der Berliner Friedrichstraße herum, um zu betteln? Was würde ihr und ihren Kindern geschehen, wenn sie nach Rumänien oder Serbien zurückmüsste? Auch dort müsste sie betteln, um ihre Kinder irgendwie zu ernähren, weil Roma überall die schlechtesten Chancen haben. Warum habt ihr kein Mitgefühl?

Schon klar, ihr habt Panik. Weil euer Kredit euch aufzufressen droht. Weil ihr Inhaber eines sicheren Arbeitsplatzes immer weniger werdet. Logisch, die sicheren Jobs werden weniger. Ihr seid sauer, weil ihr im Hamsterrad tretet und tretet, um euer Einfamilienhäuschen inklusive Zinsen und Zinseszinsen abzuzahlen. Und weil ihr dieses Hamsterrad so abgrundtief hasst. Wer hasst es nicht!

Doch immerhin: Ihr dürft euch mit Erlaubnis der Kapitalbesitzer als »Leistungsträger« fühlen. Man erzählt euch, ihr seid besser, weil ihr so fleißig tretet und ihr glaubt es. Man erklärt euch, all jene, die der »heilige Arbeitsmarkt« nicht mehr braucht, seien faule Nichtsnutze, und ihr glaubt es. Man predigt euch, jede Arbeit, selbst die schädlichste, sei sinnvoller als keine. Auch das glaubt ihr bereitwillig. Und morgen befolgt ihr in euren Behörden, an euren Schreibtischen, in euren Firmenbüros, an euren Maschinen wieder die Dienstanweisungen eurer Herren. Acht Stunden am Stück. Oder zehn. Klar, ein solches Leben ist kacke.

Ihr Mittelschichtler, habt ihr eigentlich schon mal eine Fabrik von vor dreißig Jahren mit einer Produktionshalle von heute verglichen? Ich kenne eine, da arbeiteten 1986 noch an die 1.000 Beschäftigte. Heute stehen dort drei Mann an großen Kästen mit bunten Schaltern. Drei weitere drücken Knöpfe am Fließband. Von diesem Fließband allerdings heben Roboter wohl 100 mal mehr Produkte pro Tag, als es vor dreißig Jahren fleißige Hände taten.

Erkennt ihr das Problem? Heute zahlen nur noch sechs Mann Steuern und Rentenbeiträge – damals waren es an die 1.000. So ähnlich sieht es in fast allen Produktionsstätten aus. Was tun die restlichen 994 Leute aus dieser Fabrik heute, oder besser: Die Hunderttausenden Freigesetzten aus allen Fabriken? Sitzen sie im Callcenter, um Omas mit kleinen Renten unsinnige Zeitungsabos aufzuschwatzen? Oder drücken sie ahnungslosen Mittelschichtlern Aktien aufs Auge, damit diese an der Arbeit verdienen können, die andere hart arbeitende Mittelschichtler nicht entlohnt bekommen? Oder sind sie erwerbslos, weil sie plötzlich faul geworden sind? Vielleicht sitzen sie ja auch in Jobcentern und sanktionieren ehemalige Mittelschichtlern das Essen und die Wohnung weg, weil die nicht als Leiharbeiter enden wollten. Merkt ihr was? Die Sache hat einen Haken. Ihr pisst die Falschen an!

Und dabei steht ihr da, ungläubig und voller Hass blickt ihr auf die Verelendeten. Plötzlich kampieren auch in eurer Stadt ost- und südeuropäische Tagelöhner zusammen mit deutschen Abgehängten in Abrisshäusern. In Griechenland liegt die offizielle Arbeitslosenquote bei 25 Prozent. Wohlgemerkt: Die offizielle! In ganz Europa sind mehr Menschen erwerbslos, als auf deutschem Boden leben. In vielen Ländern gibt’s nicht mal Sozialhilfe für sie. Versteht ihr? Die haben zwei Möglichkeiten: Entweder sie geben sich dem Hunger- oder Kältetod hin. Oder sie beschaffen das Notwendigste zum Leben auf andere Weise. Was würdet ihr tun, wärt ihr selbst betroffen? Ihr glaubt, das könne nicht passieren? Da irrt ihr euch. Ein Unfall, eine schwere Krankheit kann jeden treffen. Und wenn euch danach keiner mehr einstellen will? Ihr wisst, was euch dann blüht. Eure »Lösungen« sollten euch spätestens dann im Halse stecken bleiben.

Wisst ihr nicht, dass die Kapitalbesitzer von verarmten Erwerbslosen profitieren? Das sind all die Menschen, denen sie keine Löhne mehr zahlen müssen, weil sie sie nicht mehr brauchen. Und weil ihr alle Angst habt, auch dort zu landen, drücken sie auch eure Gehälter – und ihre Profite wachsen weiter. Ihr kleinen Selbständigen müsst eure Produkte für immer weniger verschleudern. Denn die großen Konzerne beherrschen längst euren Markt. Doch selbst die kriegen irgendwann Probleme: Wenn nämlich ihr als Konsumenten wegfallt. Doch ich befürchte, die werden sich auch einen Scheißdreck um euch scheren. Sie werden sich die Welt aufteilen und weiter herrschen. Dann werden sie euch als Nichtsnutze bezeichnen.

Auch ich stehe jeden morgen meist noch vor fünf auf, um meine Brötchen, meine Miete, mein Wasser, meinen Strom, mein Internet… bezahlen zu können. Um meine Familie zu ernähren. Wir brauchen alle Geld. Ohne Moos kriegt man nicht mal ein schimmeliges Brot. Ihr habt vielleicht gelesen, dass »containern« in den Mülltonnen der Supermärkte verboten ist. Aber kein Erwerbsloser, kein Roma, kein Bulgare, kein Flüchtling hat dazu beigetragen, dass ich so viel arbeiten muss. Ich weiß, wer mich abzockt: Die verschonten Reichen, die Millionen- und Milliardenerben, die Bänker, die Immobilienhaie, die Finanziers, die Investoren. Das wisst ihr auch. Nur ist nach unten treten sehr viel leichter.

Und so fange ich an, euch zu hassen. Ihr in euren Reihenhäuschen, mit euren heißgeliebten und zu Tode gehassten Jobs. Ihr Bürokraten, ihr Wertpapierverkäufer, die ihr kürzlich euch am Elend der EU-Ausländer erfreutet, als Springer und Co. berichteten, dass sie keine Sozialhilfe mehr erhalten sollen. »Richtig so!«, schriet ihr. Und Schlimmeres. So wir ihr unter jeden Hartz-IV-Artikel kotzt, dass man doch sortieren müsse. In »Arbeitswillige« und »Faulpelze«. Und die Arbeitswilligen? Die könnten eurer Meinung nach auch im Steinbruch schuften für einen Teller Suppe und ein Stück Brot am Tag. Wer das nicht will, soll verhungern. Nur bitte nicht direkt vor euren Augen. Doch ihr werdet dabei sein, wenn es euch oder eure Kinder trifft.

Mir wird übel, wenn ich eure Kommentare lese. Wenn ich euch auf der Straße hetzen höre, wird mir angst und bange. Dann weiß ich: Mit euch wird ein zweites, drittes, viertes Auschwitz möglich sein. Mit euch, die ihr imperialistische Kriege duldet und Waffenlieferungen ohne Ende – zum Beispiel in den Jemen, wo gerade täglich Menschen, vor allem Kinder verhungern. Wo Krieg ist, hat kein Supermarkt offen. Wo Krieg ist, wird kein Getreide angebaut. Und für jede Hilfslieferung bezahlt ihr auch. Und die Rüstungskonzerne verdienen sich dumm und dämlich. Das toleriert ihr. Ihr habt ja noch die Opfer, die ihr hassen könnt.

Ich bin überzeugt: Ihr »braven Bürger« werdet eines Tages ungerührt Statistiken Verhungerter und Erfrorener verfassen. Denn ihr seid die fleißigen Untertanen. Eure Empathie, euer Mitgefühl, eure Menschlichkeit habt ihr dem Mammon geopfert. Eure Mittelklassewagen haben hohe Preise. Ihr seid nicht bereit, auch nur drei Zentimeter über euren Gartenzaun hinauszudenken. Dafür verachte ich euch.

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


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