Gehorchen oder hungern

Jugendschutz? Nicht unter Hartz IV: Jobcenter kürzen Tausenden Minderjährigen die Existenzsicherung, weil sie Auflagen nicht erfüllen. Betroffen sind schon 15jährige.

Von Susan Bonath.

Im Internet schwadroniert das Bundesfamilienministerium über das Jugendschutzgesetz. Das einzuhalten, sei für die Bundesregierung unabdingbar. Das Gesetz soll Minderjährige vor allerlei Gefahren schützen: Zu viel Alkohol, Nikotin, vor wilden Partys oder falschen Medien zum Beispiel. Die pure Existenzsicherung ist der Bundesregierung hingegen nicht so wichtig – zumindest, wenn es um Kinder aus Familien im Hartz-IV-Bezug geht.

Alleine 2015 bestraften deutsche Jobcenter mehr als 16.100 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren mit dem teilweisen oder kompletten Entzug ihrer Existenzsicherung, weil sie Termine versäumt, Stellenangebote ausgeschlagen oder zu wenige Bewerbungen geschrieben hatten. Im Januar und Februar 2016 waren 2.666 Minderjährige dieses Alters betroffen. Das teilte die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf Anfrage der Tageszeitung »junge Welt« mit. Die Statistik liegt KenFM vor.

Unter den sanktionierten Minderjährigen waren im vergangenen Jahr 1.783 gerade 15 Jahre alt. Betroffen waren zudem 4.851 Jugendliche im Alter von 16 und 9.475 im Alter von 17 Jahren. Auch bei 18- bis 19jährigen Hartz-IV-Beziehenden griffen Jobcenter hart durch. 53.126 junge Erwachsene dieser Altersgruppe mussten 2015 eine Kürzung oder komplette Streichung ihrer Mindestsicherung in der Regel für drei Monate hinnehmen. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres traf es 8.138 gerade volljährig Gewordene unter 20 Jahren.

BA-Sprecher Paul Ebsen betonte in seiner Antwort gegenüber der Zeitung, dass das Sozialrecht zwar bereits 15jährige als erwerbsfähig einstuft. Allerdings gingen diese häufig noch zur Schule. Dann erhielten sie auch keine Vermittlungsvorschläge und könnten nicht mit einer Kürzung belangt werden. Zudem würden mehr als 80 Prozent der sanktionierten Jugendlichen wegen sogenannter Meldeversäumnisse bestraft. Dann zögen ihnen die Behörden meist nur zehn Prozent des Regelsatzes, also 30,60 Euro, ab. 15- bis 17jährigen aus Hartz-IV-bedürftigen Haushalten wird die Regelbedarfstufe 4 zugestanden. Das sind insgesamt 306 Euro pro Monat. Kindergeld, Waisenrente oder Unterhaltszahlungen werden komplett darauf angerechnet. Übersteigen letztere Einnahmen den Sozialgeldsatz für das Kind, wird der Rest bei den Eltern abgezogen.

Doch auch Vollsanktionen werden gegen Minderjährige verhängt. Sie fallen unter die Altersgruppe der unter 25jährigen, denen bereits beim ersten »Vergehen« der Regelsatz meist für ein Vierteljahr gestrichen werden kann. Bei einer zweiten »Pflichtverletzung« fällt auch die Miete weg. Wenn unter 25jährige noch bei den Eltern leben, was das Zweite Sozialgesetzbuch vorschreibt, muss allerdings der Mietanteil Betroffener weiter an die Eltern ausgezahlt werden. Mit genauen Zahlen hält sich die BA bedeckt. Sie listete nicht die Gesamtzahl der verhängten »Totalstrafen« auf, sondern nannte einen Jahresdurchschnitt an sanktionierten 15- bis 25jährigen. Dieser lag demnach 2015 bei rund 3.400 Betroffenen. Das heißt: In jedem Monat im vergangenen Jahr wurden so viele junge Menschen unter 25 Jahren, die trotz Bedürftigkeit keinen Cent erhielten, gezählt. Von diesen waren laut Statistik 240 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahre alt.

In Bundestagsdebatten rechtfertigen Sanktionsbefürworter die existenzbedrohenden Strafen häufig damit, dass Betroffene ja Lebensmittelgutscheine beantragen könnten, um nicht zu verhungern. So lautet auch eine Standardantwort des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie der BA gegenüber der Autorin.

Was stimmt, ist, dass Betroffene mit einer Sanktion ab 60 Prozent Essensmarken beantragen können – meist beim gleichen Sachbearbeiter, der sie zuvor bestraft hat. Ebenso sind diese »Sachleistungen« nur sogenannte Kann-Leistungen. Das heißt: Kein Jobcentermitarbeiter ist verpflichtet, sie zu gewähren. Ebenso führt ein Verweis auf Tafeln in die Irre. Auch sie sind keine staatlichen Einrichtungen, die verpflichtet wären, jeden Bedürftigen zu versorgen. In vielen Städten erfahren diese Einrichtungen, die aussortierte Lebensmittel einsammeln und für einen symbolischen Kleinbetrag abgeben, enormen Zulauf, was sie teils dazu veranlasst, keine neuen »Kunden« anzunehmen.

Was aus den von Kürzungen Betroffenen, vor allem den Vollsanktionierten, wird, weiß aber weder das BMAS noch die BA. Statistiken hierüber kann auch die Bundesregierung nicht vorweisen. Im Einführungsjahr von Hartz IV, 2005, legte letztere zuletzt offizielle Zahlen über obdachlose Minderjährige vor. Damals habe es demnach rund 7.200 Straßenkinder in Deutschland gegeben. Ende 2014 schätzten Sozialverbände deren Zahl bereits auf über 20.000 – Tendenz steigend.

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


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