Fado – von der Sucht nach Sehnsucht

von Dirk C. Fleck.

Ich halte es für dringend notwendig, uns gegenseitig wieder mehr Geschichten zu erzählen. Schließlich gibt es noch ein Leben außerhalb des geopolitischen Ränkespiels, dem die alternativen Medien so gerne analytisch auf den Grund gehen, obwohl es unsere Seelen immer mehr zu vergiften droht. Dabei braucht es über den riesigen Misthaufen, den das Giersystem  permanent produziert, weder weitere Informationen noch Aufklärung – wir wissen doch seit Jahrhunderten, nach welchen Gesetzen das menschen- und naturverachtende System funktioniert. Also lasst euch von meinem Besuch am Tejo berichten, dort wo noch wahre Sehnsucht blüht …

Das Publikum im Theater des Casinos von Estoril war gekleidet wie auf dem Wochenmarkt. Und doch knisterte es in den Reihen vor freudiger Erwartung. Die Menschen waren gekommen, um ihrer Ikone zu huldigen: Amalia Rodrigues! Bereits drei Jahre nach ihrem Tod im Jahre 1999 war der Göttin des Fado mit dem Musical „Amalia!“ ein Denkmal gesetzt worden. Seitdem steht es den Portugiesen als Tränke zur Verfügung, an der sie ihre Sucht nach Sehnsucht vorübergehend stillen können.

Das Stück wurde von Beginn an in warme Applauswatte gepackt. Am Schluss reagierte die Masse wie ein Schwarm tropischer Fische, der einen elektrischen Impuls kollektiv pariert. Wenn sich tausend Menschen impulsiv erheben, um einen komplizierten Rhythmus zu klatschen, der den herzzerreißenden Abgesang Amalias wie ein Fangnetz unterlegt, wird selbst mir, dem adrett gekleideten Besucher aus der norddeutschen Tiefebene, klar, dass Fado Volksmusik ist.

Die S-Bahn von Estoril nach Lisboa sollte ins Weltkulturerbe eingehen. Wo sonst durfte man eine schnatternde Schar geschminkter junger Mädchen auf dem Weg in die Disco bis ins Herz der Stadt begleiten und dabei den parallel laufenden Atlantik in die Tejomündung branden sehen? Es war meine erste Nacht in Lissabon. An der Endstation Cais do Sodre zog ich es vor, mich von meinen aufgekratzten Mitreisenden zu trennen.

Nach einiger Zeit verfinsterten sich die Straßen. Ich stieg eine schmale Steintreppe zwischen zwei Häuserwänden hinauf, auf denen die schabenden Schultern meiner Vorgänger helle Spuren hinterlassen hatten. Ohne es zu ahnen war ich in die Alfama geraten, Lissabons ältestes Stadtviertel. Niemand begegnete mir auf den ausgetretenen Pfaden. Es war  ein regnerischer Dienstag im Januar, die Alfama atmete durch ihr Mauerwerk, das ohne die Touristenschwärme zu alter Autorität fand. Die geschlossene Stadt trug schwarz in dieser Nacht, selbst die Straßenlaternen hielten sich im Erhellen des  Mysteriums zurück.

Die Rua de Sao Pedro mündet gegenüber dem Fado-Museum in einen schmucklosen Platz. Einige Häuser waren mit Plastikbahnen verhüllt. Als eine Böe an ihnen zerrte, entdeckte ich dahinter einen beleuchteten Eingang, vor  dem eine ältere Dame saß. Aufrecht und stolz. Wie ferngesteuert bewegte ich mich auf sie zu. Mit einer Handbewegung wies sie mir den Weg ins Innere des Lokals. Ich schritt unter der gewölbten Decke zwischen gedeckten Tischen an einer gekachelten Gemäldegalerie entlang. Zwei Männer unterhielten sich an einem Tisch mit einer Frau. Sonst waren keine Gäste da. Ich setzte mich, als die beiden Männer vor mir an der Säule Platz nahmen. Der eine hielt eine portugiesische Gitarre in Händen, der andere eine spanische. Die portugiesische Gitarre warf nun einige virtuose Klangfolgen aus, die den Raum erkundeten und beim Heruntertropfen vom Rhythmus der spanischen Gitarre virtuos aufgefangen wurden. Unterdessen kredenzte mir die Kellnerin ein Glas Portwein. Mit besten Grüßen von Argentina. Ich prostete Argentina Santos am Eingang zu, die eine bedeutende Fadosängerin gewesen war und jetzt über ihren Tempel wachte, dem Parreirinha de Alfama.

Ein Mann im schwarzen Anzug näherte sich den Musikern gesenkten Hauptes und mit gefalteten Händen. Er schloss die Augen und begann die Musik zu inhalieren. Dann presste er einen glockenhellen Ton aus der Körpertube, der sich im Klanggespinst der Gitarren energisch zu behaupten wusste. „Erbaue, Lydia, nichts in jenem Raume, der dich die Zukunft dünkt / Erfülle dich ohne zu warten / Du selbst bist dein Leben / Verfüg nicht über dich, als gäbe es ein Morgen / Wer weiß, ob dir das Schicksal nicht den Abgrund vorbestimmt“.

Beim Ausklingen des letzten Wortes klatschte ich begeistert in die Hände. Argentina lächelte. Die Portugiesen, das wußte ich nicht, ertränken die letzten Worte eines Fado-Vortrages immer in Applaus, auf diese Weise weben sie dem Fado ihre Begeisterung an, werden sie selbst Teil seiner Botschaft. Während der Darbietung jedoch herrscht absolute Stille. Wer es wagt, mit dem Nachbarn zu tuscheln, erntet kalte, strafende Blicke. Ist es nicht herrlich, dass Poesie in der Lage ist, dem Pöbel Grenzen aufzuzeigen? Bei Argentina Santos befand ich mich zum ersten Mal in siegreicher Gesellschaft.

Der Text aus dem eben zitierten Lied stammt übrigens von Fernando Pessoa. Viele Fado-Sänger bedienen sich aus dem Schatz ihrer literarischen Helden. Pessoa („Das Buch der Unruhe“) ist so ein Held. Er hatte ein Leben lang als Buchhalter gearbeitet. Erst nach seinem Tode fand man sein bedeutendes Werk in Form von abertausend Zetteln, die er in einer Kommode bei sich zuhause verstaut hatte. Wer ermessen will, welche Verehrung diesem Mann noch immer entgegen gebracht wird, sollte sich ins Café a Brasileira begeben, das im Zentrum zwischen dem Bairro Alto und Chiado liegt. Das Brasileira war das Lieblingscafé Pessoas, seine Bronzestatue vor dem Eingang ist von den vielen Händen, die sie im Laufe der Jahre unbedingt berühren wollten, glänzend, fast golden geworden.

Auf dem Weg zum Hotel hallten meine Schritte auf den elfenbeinfarbigen Mosaikbahnen der Baixa wider. Dies war das Reich der calceteiros, der Steinsetzer, die mir heitere Kalligrafien aus Blaubasalt in den Weg gehämmert hatten. „Ihr Ausländer denkt vielleicht, dass Fado und Saudade etwas sehr Schmerzhaftes, ja Trauriges ist,“ erinnerte ich mich an ein Interview mit Misia, dem zur Zeit größten Star der Fado-Szene, „aber für uns Portugiesen ist Saudade ein angenehmes Gefühl. Saudade ist nicht nur Nostalgie, nicht nur das Aroma von längst Vergangenem oder frisch Verwehtem, Saudade ist ein Versprechen. Etwas, was nicht sterben kann. Ich glaube, dass man im Fado eine hohe  Spiritualität erreichen kann.“

Saudade als Versprechen. Im äußersten Südwesten Europas scheint dies ein ganzes Volk so zu empfinden. Damit liegt der Unterschied zu meinem Volk auf der Hand. Hier bin ich der Tage überdrüssig, ich bin des deutschen Stumpfsinns überdrüssig. Diese ewig gleichen Impressionen, aus denen sich unsere sogenannte Realität zusammensetzt: Ein Mann schlägt den Kofferraumdeckel zu, ein Hund pinkelt dahin und dorthin, ein Flugzeug am Himmel, „und da sag ich, nee, sag ich (…)“, ein Bus hält, ein Kind tritt gegen die Litfaßsäule und die anderen kauen lustlos auf dem Stück Zeit herum, das man ihnen zugeworfen hat. Überdruss. Manchmal möchte ich mir die Tage ausziehen wie ein schmutziges Hemd. Ich möchte der Mann sein, der seinen Kopf durch den Himmel steckt und verzückt ins Nichts starrt. Die Portugiesen tun dies bereits. Und Fado ist der Schlüssel, der ihnen den Himmel aufschließt.

Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich nicht auch im deutschen Liedgut ein hohes Maß an Spiritualität erreichen ließe. Wie sang unser Bundespräsident Walter Scheel einst so schön? „Hoch auf dem gelben Wagen sitz ich beim Schwager vorn“ Nicht doch, dann schon eher am Brunnen vor dem Tore. Aber da sitzt ja niemand mehr …

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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