Epochale Krise der Sozialdemokratie

von Bernhard Trautvetter.

Die Sozialdemokratie befindet sich unabhängig von der Frage „Große Koalition“ Ja oder Nein in einer existenziellen Krise.

Das Godesberger Programm der SPD besagt im Kapitel „Unser Weg“:

„Die sozialistische Bewegung erfüllt eine geschichtliche Aufgabe. Sie begann als ein natürlicher und sittlicher Protest der Lohnarbeiter gegen das kapitalistische System. 

Die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte durch Wissenschaft und Technik brachte einer kleinen Schicht Reichtum und Macht, den Lohnarbeitern zunächst nur Not und Elend. Die Vorrechte der herrschenden Klassen zu beseitigen und allen Menschen Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu bringen das war und das ist der Sinn des Sozialismus. 

…  Der einst schutz- und rechtlose Proletarier, der sich für einen Hungerlohn täglich sechzehn Stunden schinden mußte, erreichte den gesetzlichen Achtstundentag, den Arbeitsschutz, die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Siechtum und für seinen Lebensabend. Er erreichte das Verbot der Kinderarbeit, der Nachtarbeit für die Frauen, den Jugend- und Mutterschutz und bezahlten Urlaub. Er erstritt sich die Versammlungsfreiheit, das Recht zum gewerkschaftlichen Zusammenschluß, das Tarifrecht und das Streikrecht. Er ist dabei, sein Recht auf Mitbestimmung durchzusetzen. Der einst das bloße Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klasse war, nimmt jetzt seinen Platz ein als Staatsbürger mit anerkannten gleichen Rechten und Pflichten. 

In einigen Ländern Europas wurden unter sozialdemokratischen Regierungen bereits die Fundamente einer neuen Gesellschaft gelegt. Soziale Sicherheit und die Demokratisierung der Wirtschaft werden in zunehmendem Maße verwirklicht.“

Das sozialistische Ziel verwässerte das Programm mit solchen Formulierungen: „Deshalb bejaht die Sozialdemokratische Partei den freien Markt, wo immer wirklich Wettbewerb herrscht.“ Die Botschaft findet ihre Entsprechung im Kapitel „Wirtschafts- und Sozialordnung“ : „Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand und eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft, ein Leben in Freiheit ohne unwürdige Abhängigkeit und ohne Ausbeutung.“

Die Programmatik der deutschen Sozialdemokratie – wie die ihrer Bruderparteien weltweit – will die Bewegungen der Arbeiter/innen, der Lohnabhängigen, der Benachteiligten mit der „freier Markt“ genannten Wirtschaftsordnung des Kapitalismus versöhnen.

Das funktioniert höchstens unter solchen Umständen, da das System – wie es im Godesberger Programm steht – „Arbeitsschutz, die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit, Siechtum und für seinen Lebensabend“ als Perspektive für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung eröffnet.

Die Phase der Prosperität, die etwas von einer lang anhaltenden Hochkonjunktur an sich hat, befähigte die Gewerkschaftsbewegung, den Kapitaleignern mit Streiks und anderen Mitteln des Arbeitskampfes soziale Errungenschaften abzugewinnen, wie sie vom Godesberger Programm erwähnt werden. Die hohe Nachfrage nach Arbeitskraft in der Phase annähernder Vollbeschäftigung mit Industriearbeitsplätzen und Massenproduktion liegt hinter uns.

Unter den Meldungen, die aus den herrschenden Kreisen kommen,  befindet sich die Zahl, dass 18,3 Mio. Arbeitsplätze durch die Anwendung von Wissenschaft und Forschung in Deutschland innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre wegfallen: „Zunehmende Automatisierung gefährdet mehr als 18 Mio. Arbeitsplätze in Deutschland“

Element dieser Entwicklung ist die massenhafte Zunahme prekärer Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt. Das Problem ist auch bei den ExpertInnen der Börse angekommen: „Mehr als jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitet nicht in einem traditionellen Arbeitsverhältnis. Der Anteil der atypisch Beschäftigten ist innerhalb von 20 Jahren von 15 auf 20,7 Prozent im vergangenen Jahr gestiegen, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hervorgeht, die der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vorliegt. Gemeint sind damit befristete oder Teilzeitjobs, geringfügig Beschäftigte und Zeitarbeitnehmer. Die Zahlen der Regierungsantwort stammen vom Statistischen Bundesamt und sind von diesem bereits veröffentlicht. 

Bei der Leiharbeit gab es dabei einen Anstieg auf 737 000 und bei geringfügiger Beschäftigung auf 2,2 Millionen Beschäftigte. Die Zahl der befristet Beschäftigten ist seit 1996 von 1,9 auf 2,7 Millionen gewachsen, die der Beschäftigten in Teilzeit bis 20 Wochenstunden von 3,2 auf 4,8 Millionen. Allerdings lagen die Werte bei all diesen Gruppen, zwischen denen es Überschneidungen gibt, zwischenzeitlich auch deutlich höher als im vergangenen Jahr.“

Die Konsequenzen für die Betroffenen steigern nach einigen Studien die Todes- und Krankheitsrate. Das Psychiatrische Universitätsklinikum Zürich und Lancet Psychiatry belegte in einer Studie den deutlichen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suizidrate: „Wirtschaftskrisen, vor allem aber ein Anstieg der Arbeitslosigkeit führte in vielen Ländern zu einer Zunahme der Suizide. Interessanterweise ging der Anstieg der Suizidrate dem der Arbeitslosenrate um etwa sechs Monate voraus. Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wurde offensichtlich antizipiert und bereits die Verunsicherung über die Entwicklung der ökonomischen Situation scheint negative Konsequenzen zu haben, folgert Kawohl. Der Psychiater vermutet, dass der zunehmende Druck am Arbeitsplatz, etwa durch Restrukturierungen, Suizide begünstigt.“

Wenn man die Entkoppelung von Wertschöpfung und menschlicher Arbeitskraft weiterdenkt, dann betrifft das Problem die Zukunftsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft, vor allem dann, wenn die nachwachsende Generation dadurch keine Perspektive auf eine sichere Existenz mehr erhält [‘Jugend ohne Zukunft’, Süddeutsche.de]

In der Lage greifen viele Menschen mit Entwurzelungserfahrungen und -ängsten dann auf einfach erscheinende „Lösungen“ zurück, wenn sie kein Bewusstsein über die eigentlichen System-bedingten Ursachen haben und suchen den starken Mann, wie es nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 Adolf Hitler war, wie es für den ‚rust belt‘ der de-industrialisierten Regionen in den USA Donald Trump ist, wie es in anderen Staaten der kapitalistischen Welt in Zeiten der Digitalisierung andere Vertreter von Sündenbock-Theorien sind.

Die Gewerkschaften können in der Lage immer weniger Streiks durchführen, da es immer weniger Nachfrage nach Arbeitskräften gibt, sodass im Ergebnis das sozialdemokratische Programm der Versöhnung der Lohnabhängigen mit dem System nicht mehr funktioniert. Das ist das Grundproblem, das für die SPD fortbesteht, egal ob sie in die GroKo geht oder nicht.

Sie kommt aus dieser Falle nur heraus, wenn sie zu den Wurzeln des Sozialismus zurückkehrt, also über das System hinaus denkt und handelt. Ohne eine wirklich antikapitalistische Mehrheit spitzen sich nicht nur die Probleme der SPD immer weiter zu.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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