Ein Tag wie Samt und Seide im Zug nach Nirgendwo

Ein Beitrag von Dirk C. Fleck.

Auf diesen Tag habe ich lange warten müssen. Ich war nicht sicher, ob das beschädigte Klima ihn noch einmal hergibt. Am liebsten würde ich ihn in die Tasche stecken und auf Weltreise gehen. Ein Hamburger auf Reisen, mit einem 24 Grad warmen Tag im Gepäck. Windumschmeichelt und aus purem Licht. So klar, so tief. Mit zitterndem Espenlaub. Alle Farben im Urgrund getroffen. Leuchtend vor der weiten schwarzen Kulisse des Universums postiert. Sogar die Menschen scheinen besänftigt. Ein Hamburger auf Reisen. Fegt mit seinem goldenen Herbst über verseuchte Sümpfe und Wüsten. An einem solchen Tag blüht das Gekreische auf den Schulhöfen zu Jubelarien auf, die als akustische Pilze in den Städten aus dem Boden schießen. An einem solchen Tag sollten wir uns verschwören: zu Feinden der Angst.

Ich schlendere das Kaifu-Ufer am Isebekkanal entlang. Zu meiner Linken der brackige, grüne Wasserarm, über den ein knarzendes Ruderboot getrieben wird. Die Worte, die übers Wasser schlittern, klingen wie abgeschliffen. Rechts der von den Grünen in energischer parlamentarischer Schlacht durchgesetzte Radweg. Die Kinder benutzen ihn nicht, sie fahren lieber dort wo ich gehe. Auf dem sandigen Fußweg kommt das Surren ihrer Reifen besser zur Geltung.

Ich fische nach den Gesprächsfetzen der Vorübergehenden, aber kann mir die Worte nicht deuten, allenfalls die ungewöhnlich friedliche Tonart, in die sich die ausgesprochenen Banalitäten kleiden.

Ein Drittel meiner Zeit geht für Fehlerprüfung drauf…/ Das würde ich doch auch machen, wenn ich Chinese wär …/ Da kommt er mir nichts dir nichts einfach vorbei geschneit …/ Du musst natürlich erst unterschreiben, darum geht es denen doch …/ Ist das nicht relativ weit im Süden? …/ Was glaubst Du, wie leid mir das tut …/ Über eine Stunde hat das einchecken gedauert …/ Bruno, der sollte das machen …/ Er war für die Kostüme am Thalia verantwortlich …/ Sieht man kaum noch, diese Rasse …/ Nicht auf den Hals, da bin ich kitzlig … 

Ein Mädchen nähert sich am Arm ihres Freundes. Er spricht, sie schaut mir in die Augen. Ich schnuppere im Vorbeigehen an ihrer Windfahne und werde mit lieblichen Seifenduft belohnt. In fünfhundert Metern Entfernung, am Ende des Parks, stehen Autos im Stau. An so einem Tag. Bitte irgendeinen Analphabeten zwischen Tornesch und Timbuktu, sich bei laufendem Motor fünf Minuten in eine geschlossene Garage zu stellen. Er würde dir den Vogel zeigen. Weil er weiß, was hinten rauskommt. Aber dann brausen sie zu Milliarden los, um das astrale Jungfernhäutchen zu schänden, das unser Leben schützt. Ob eine der Passantinnen wohl noch etwas lieblichen Seifenduft parat hat?

Jemand stopft eine Zeitung in den Papierkorb. Ich schnappe sie mir. ST. PAULI-HURE PRELLTE 72 FREIER! Ob wohl einer der vorbei defilierenden Familienväter betroffen ist? Schließlich gaben kürzlich 70 Prozent in einer anonymen Umfrage zu, schon einmal ein Bordell besucht zu haben. Sie können sicher bezeugen, dass nicht jeder Gast dort ausgenommen wird. In seinem Buch „Reise ans Ende der Nacht“ beschreibt Ferdinand Celine, wie er in die Hauptstadt des neuen Industrieplaneten kommt, nach Detroit. Dort lernt er die Hure Molly kennen. Von allen Menschen, die Celine in seinem Buch erwähnt, erfährt nur Molly eine Ehrenrettung.

„Wir küssten uns,“ heißt es, „aber ich küsste sie nicht gut genug, nicht so, wie ich gemusst hätte, nämlich eigentlich auf Knien.“

Das schrieb ein Mann, dessen Verachtung niemanden verschonte, der seinen Spott auf das Menschengeschlecht in eine Sprache kleidete, die wie ein reißender Sturzbach auf unsere Scheinheiligkeit herunter brach. Ich blättere weiter im gedruckten Dreck. In Hamburg verlost das Bordell „Sparschwein“ halbstündige Liebesakte im Internet. Mit französischem Vorspiel, Kuscheln und Stellungswechsel. Und in Mecklenburg-Vorpommern ist es einem dubiosen Geschäftsmann gelungen, der Landesregierung mitten in der hysterisch geführten Spardebatte Millionen an Fördergeldern abzuluchsen. Er hat die Gründung eines Fernsehsenders versprochen, 6 Plus soll er heißen und ausschließlich Sexfilme ausstrahlen. Hören wir den Bürgermeister der betreffenden Gemeinde zu dieser Angelegenheit: „Ich bin für die Ansiedlung, nicht nur wegen der Arbeitsplätze, sondern auch, weil wir hier etwas haben, was Überörtlichkeit produziert.“

Überörtlichkeit! Mir steht kein Sinn nach Überörtlichkeit, ich benötige Überirdisches… Von einer in die Grünfläche gepflanzten Plakatwand lächelt das verblichene Konterfei der im Photoshop geschönten Kanzlerin. FÜR EIN DEUTSCHlAND, IN DEM WIR GUT UND GERNE LEBEN. Ich hocke mich auf die gegenüber liegende Bank. Neben mir hält ein in beige gekleideter Rentner sein Gesicht in die Sonne. Auf seinen Knien die Welt am Sonntag. Ich traue meinen Augen nicht, als ich einen Blick auf die Titelseite werfe. Sie zeigt eine Abbildung von George Orwells Roman 1984, zweifellos einer der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts. Über der Abbildung ist folgendes zu lesen:

Das Lieblingsbuch aller U-Bahn-Schubser, Vergewaltiger, Heroindealer, Terror-Planer, Grapscher, Taschendiebe, Goldmünzenräuber, Schläger und Hooligans.

Hä??!! In 1984 wird der totale Überwachungsstaat beschrieben, eine Vision, die von der Realität längst überholt wurde. Orwell hätte sich die Praktiken, mit denen wir Erdenbürger heutzutage auf Schritt und Tritt ausspioniert werden, nicht in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Die verbrecherischen Eliten können es sich sogar leisten, die Kritiker ihrer Schweinereien auf übelste Art öffentlich zu brandmarken, ohne befürchten zu müssen, dass ihre journalistischen Handlanger zur Rechenschaft gezogen werden.

Das macht mir Angst, Ihnen nicht? Aber wir wollten uns ja verschwören – zu Feinden der Angst. Erinnern sie sich? Der Rentner hat die Augen inzwischen geschlossen. Ich höre wieder rein in die Gespräche der vorbei schlendernden Passanten.

Lucie! Komm her. Komm her, Lucie. So ist brav …/ Hab ich nicht gesehen, geh kaum noch ins Kino …/ Marcomar ist ganz schlecht, kleiner Schnitt und du verblutest …/ Der Wein ist Bio, kostet nur einsneunundneunzig, schmeckt hervorragend, kriegst bei Penny …/ Fahr ich nicht mehr hin, 42 Grad hatte es da letztes Jahr …/ Tschuldigung, wie spät ist es?

Ich schaue auf die Armbanduhr des dösenden Rentners. „Zehn nach zwei“. – „Danke. Sören, komm jetzt! Wir müssen los, Oma wartet!“

Ein Fußball kullert mir vor die Füße. Ich hole einmal kräftig aus und ballere ihn Richtung der Plakatwand mit der geschönten Kanzlerin, vor der ein Köter virtuos nach ihm schnappt.

Was meinen Sie, wofür wir die fünfhundert Meter am Isebekkanal gelaufen sind an so einem Tag? Ich sage es Ihnen: damit wir ein wenig durchatmen können auf unserer Achterbahnfahrt in die Hölle.

Hölle? Wo, wie, was? fragen sich nun jene, die in Muttiland so gut und gerne leben. Traurig aber wahr: Frieden ist für die Mehrheit in unserer Gesellschaft eher ein Freizeitproblem, als das permanente Bemühen, ihn gegen die skrupellosen Manipulateure aus Wirtschaft, Politik und Medien zu verteidigen, die dabei sind, uns zu Bewohnern eines anderen Planeten zu machen. Dann steigen Sie mal ein in den Zug nach nirgendwo, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Ich muss notgedrungen mit Ihnen fahren. Aber sie sollten wissen, dass ich ein Systemkritiker bin. Und mein Lieblingsbuch ist „1984“. Ich wäre dankbar, wenn Sie mich dafür nicht lynchen würden …

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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Bildhinweis: Elena Odareeva / Shutterstock

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