Ein Tag voll Glanz und Gloria

Von Dirk C. Fleck.

Es sind 27 Grad, ich blicke in einen strahlend blauen Himmel, klar und unverschmiert, wie man ihn seit Corona wieder zu sehen bekommt. Die Bäume in meiner Straße stehen glitzernd in der Sonne, ihrer Blätter sehen aus wie lackiert, so gründlich hat der Regen der letzten Nacht sie gewaschen. Eine leichte Brise spielt mit ihnen. Auf dem Fußweg unter meinem Balkon rollert ein etwa siebenjähriges Mädchen in ihrem Sommerkleidchen vorbei, gefolgt von einem freudig hüpfenden tibetanischen Tempelhund. Ich hatte auch mal so einen. Lhasa Apso heißt die Rasse. Sein Name war Nima, was tibetisch ist und Himmel heißt. Meine damalige Freundin Jutta gab ihm den Namen. Sie war es auch, die darauf bestand, ihn an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen zu lassen. Nima gewann den ersten Preis, die Urkunde habe ich noch. Zwei Jahre später verließ mich Jutta, um in Goa ihr Glück zu suchen, wo sie dann an einer Überdosis Heroin verstarb. Ich gab den Hund meinen Eltern. Die hatten einen Garten und freuten sich. Nima freute sich auch. Als ich ihn wenig später besuchte, war von ihm nicht mehr viel zu sehen. Meine Mutter hatte den prämierten Vorzeige-Lhasa kurzentschlossen in die Hände eines Hundefriseurs gegeben… Das lange goldene Fell war, wie soll ich sagen … es war weg. Nima sah aus wie eine dünne Wurst mit Riesenaugen. Ich erinnere mich, dass ich nach dem ersten Schrecken in einen Lachkrampf verfiel, in den die ganze Familie einstimmte und der schier kein Ende nehmen wollte. Unterdessen stand Nima in unserer Mitte und schaute erstaunt von einem zum anderen.

Da kommen sie zurück. Diesmal rollen und rennen sie um die Wette. Der Hund hält erstaunlich gut mit. Vielleicht sollte ich meinen Aussichtspunkt in Höhe der Baumkronen verlassen und eintauchen in die Stadt, die sich seltsam ruhig verhält an diesem Tag. Naja, der Presslufthammer an der Kreuzung zählt nicht, aber wenn man nicht abwartet bis es grün wird, ist es schnell vorbei mit dem stotternden Anschlag auf die vom Vogelgezwitscher verzierte Ruhe. Am Isekai mache ich mich auf den Weg zu meiner Lieblingswiese. Sie ist zwar mit Maschendraht umzäunt, aber das macht Sinn. Nun, da weder Mensch noch Hund darauf herum trampeln können, ist sie zu einem kleinen Paradies erblüht. Ich streichel die meterhohen Mohn- und Kornblumen, die sich mir wie zur Begrüßung durch den Zaun entgegenstrecken und nehme auf einer Bank oberhalb der Böschung am Ufer des Kanals Platz, über den ein knarzendes Ruderboot getrieben wird. Auf der Bank, die einige Meter entfernt im Schatten liegt, sitzt eine junge Frau und liest ein Buch. Sie trägt eine mit kleinen weißen Totenköpfen versehene schwarze Atemmaske im Gesicht, was mich seltsamerweise auf den Gedanken bringt, das nicht nur die Luft, die sie atmet, sondern auch die Wörter, die sie liest, auf unerträgliche Weise gefiltert werden.

Jetzt befinde ich mich in einem Zustand, den ich als Vorhof zur Stille bezeichnen möchte. Ich spüre eine Instanz in mir walten, die jeden aufkommenden Gedanken zu Staub verwandelt, bevor ich auf irgendwelche Nebenkriegsschauplätze gezogen werde. Diese Instanz benötigt einen lichten Tag wie diesen, warm und ruhig und in der Nähe einer Blumenwiese. Dann entfaltet sie ihre volle Autorität. Ich vertraue ihr. So bleibe ich unverführbar, ohne Wunsch und bar jeder Vorstellung von mir selbst. Es ist die Vorstellung von mir selbst, welche meine Wahrnehmung von der Welt permanent verfälscht. Wenn jedoch die Instanz übernimmt, darf ich mich auflösen bis zur Unkenntlichkeit. Wie gesagt, dies sind Erfahrungen im Vorhof zur Stille. Es sind Versprechungen, Ahnungen, die eine erschaudern lassen, und die das ganze Konstrukt, in das unser Verstand uns gebunden hat, krachend zusammenbrechen lassen. Das gesamte aufgestaute Empörungspotential, der gesamte Schmerz, den man angesichts der Ungerechtigkeiten und Verbrechen auf diesem Planeten empfindet, wird, einer Kolik gleich, mit einem imaginären Rohr durchbohrt und entweicht. Zisch. Nun gilt es, die gewonnene Leichtigkeit zu bewahren. Eine Herausforderung, die unter den seelenlosen Zuständen, welche ein von Gier gesteuertes Wirtschaftssystem weltweit hergestellt hat, schwer zu stemmen ist.

Die Lady mit der Maske geht vorbei und nickt mir zu. „Whats your name?“ höre ich mich sagen. Warum frage ich sie auf Englisch? „Gloria“, antwortet sie und schreitet davon. Unterm Arm trägt sie das Buch, von dem ich glaubte, dass sie es besser ungefiltert zu sich genommen hätte: À la recherche du temps perduvon Marcel Proust. Eine Französin, vielleicht auch eine Französisch-Studentin. Ich bin offensichtlich wieder bei mir. Die Instanz hat sich zurück gezogen und lächelt mir aus der Ferne zu. Sie denkt vermutlich, lass ihn denken, denke ich. Der Wind ist umgeschlagen, den Presslufthammer höre ich jetzt bis hierher. Weglaufen lohnt nicht, der Himmel hat sich bedrohlich zugezogen. Und den Regenschirm habe ich zuhause gelassen. Was man in Hamburg nie tun sollte. Gehe ich nun nachhause oder lege ich mich unter die Büsche und höre dem Trommelfeuer des Regens zu? Vielleicht ist die Instanz ja so gnädig und kommt zurück, während ich versonnen auf frischer Erde kaue …

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Danke an den  Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Makhh / shutterstock

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