Ein deutsches Lebensbild

Neuer Roman von Wolfgang Bittner über Heimat, Krieg und den „Goldenen Westen“

Rezension von Harry Popow.

Da berichtet der Autor Wolfgang Bittner von einem Knaben, der in Schlesien, genauer in Gleiwitz, aufwächst, der den Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR, den Krieg und die Vertreibung aus Schlesien – ohne so richtig zu begreifen was geschieht – miterleben muss. Und wie das Kind, das der Romanautor nach der Umsiedlung in den Westen Junge nennt, so ganz langsam erfasst, was geschehen ist und sich für Politik zu interessieren beginnt: Er, der Junge, kommt später zu der Meinung, „…dass viele nur daran interessiert sind, sich gemütlich einzurichten, ihren Geschäften nachzugehen, und von der überregionalen Politik nichts wissen wollen“. Das ist die Realität: Man gibt vor, die Vergangenheit sei bewältigt. Man ruft auf zum Spaß haben, zur Toleranz, zur Freiheit, zur freien Selbstverwirklichung des ICH. Man sei offen und eben „anders“. Entpolitisierung ist das Stichwort.

Um es vorwegzunehmen: Das Buch des Autors Wolfgang Bittner ist ein Knaller. Es ähnelt weniger einer Autobiografie, sondern eher einem Protokoll mit gründlich recherchierten historischen Details über die Zeit von 1942 bis in die 50er-Jahre. Man könnte annehmen, diese Zeitspanne sei aufgearbeitet und die Folgen seien überwunden; umso mehr beschleicht den Leser das Gefühl und die Erkenntnis, dass doch noch nicht alles erledigt ist.

Das Dokumentarische, das sich vom Anfang des Buches bis zum Ende nahezu lückenlos durchzieht, bildet den Hintergrund für die Geschichte des Kindes und seiner Eltern und Verwandten: Das Leben während der Nazi-Zeit, die Gräuel an der Ostfront, der Goebbels-Ausruf, es gehe um den Kampf gegen den Bolschewismus, das Potsdamer Abkommen, die Umsiedlung der schlesischen Bevölkerung von Ost nach West, die Gründung der Bundesrepublik und die beginnende Remilitarisierung.

Besonders interessant: Der Autor führt das Beziehungsgeflecht der Verwandten so gekonnt vor, dass durch deren persönliche Motive, Aussagen und Dialoge die Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse sowohl unter der Nazidiktatur als auch unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft klar hervortreten. Durch die Identifizierung mit oder auch durch die Distanzierung zu einzelnen Romanfiguren stellen sich ganz neue Sichtweisen auf die Geschichte und auf die Manipulierungsmethoden und damit ein enormer Gewinn an Erkenntnissen über das Problem Krieg und Frieden ein. Eine literarische Vorgehensweise, die beeindruckt.

Aber was ist zu tun?

Da fragt die Großmutter des Kindes, warum die Leute immer Krieg führen. Worauf der Großvater entgegnet: „Die Leute nicht, die werden nur aufgehetzt. Die meisten wollen eigentlich in Frieden leben…“ Und beim Kaffeetrinken ergänzt er: „Stell dir vor, die Industriellen sollen Hitler an die Macht gebracht haben. (…) Die verdienen sogar am Krieg.“ Und gleich darauf kommt der Großvater auf die eigene Mitschuld zu sprechen: „Vielleicht hätten wir Hitler nicht wählen dürfen.“ Und dreht das Hitlerbild, das in seiner Gaststätte hängt, bei wichtigen Besuchen wieder für alle sichtbar nach vorne.

Aber was ist zum Beispiel zu tun, wenn es heißt, „Führer, wir folgen dir“? Wenn Goebbels zum Kampf gegen den Bolschewismus aufruft und 14.000 Stimmen ihr Ja brüllen. Wenn Soldaten lachend in den Krieg ziehen. Wenn vom Feind, vom Endsieg, vom zu erringenden Lebensraum im Osten im Radio getrommelt wird? Wenn die Gestapo aufrechte Deutsche verhaftet, die Flugblätter mit der Aussage verteilen, Hitler sei ein Verbrecher? Wenn man nur hinter der vorgehaltenen Hand etwas gegen Hitler sagen darf? Drakonische Strafen drohen, und bei widerständigen Bürgern herrscht Angst und Ratlosigkeit.

So trifft man beim Lesen sowohl auf Charaktere, die von vornherein auf den furchtbaren Krieg schimpfen und Hitler die alleinige Schuld geben, als auch auf jene, die noch immer auf den Endsieg hoffen und glauben, der „Führer werde es schon richten, wenn nur schnell die versprochene neue Bombe zum Einsatz käme“. Dabei kommt es zwischen den verschiedenen Romanfiguren lediglich zu kleineren Auseinandersetzungen, die den Zusammenhalt trotz Drohung der Verhaftung nicht gefährden. Geht es doch darum, zu überleben und die Angst vor der nahenden Front und den Russen zu überwinden.

Auf der Suche nach Arbeit und Brot

Ganz anders verhält es sich mit dem Denken und Fühlen im Westen nach der Vertreibung, als nach dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess die Bundesrepublik gegründet und die Wiederbewaffnung Westdeutschlands sowie mit der Währungsreform die Spaltung Deutschlands ihren Anfang nimmt. Man darf jetzt seine Meinung äußern, man sei ja in der Demokratie angekommen. Was also tun unter den Bedingungen des Marktes, der „Maloche“ und des Hasses gegen die Vertriebenen aus dem Osten, diesen „Schmarotzern und Rucksackgesindel“? Wieder wird von der Gefahr aus dem Osten geredet, in den Schulklassen regiert noch 1947 wieder der Rohrstock unter dem Motto: „Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Fleiß, keine Widerrede, keine Lügen, Ehrlichkeit.“ Der Marshallplan wird beschlossen, und der Vater des Jungen mahnt, den „Amis“ gehe es doch nur um Kredite, um die Schaffung eines Absatzmarktes für ihre Überproduktion, auch darum, Europa „gegen die Sowjetunion und den Kommunismus in Stellung zu bringen“. Altbekannte Unternehmerfamilien streben wieder nach ökonomischer Macht, Deutschland ist geteilt und wird wiederbewaffnet. Und die Romanfiguren sind auf der Suche nach Arbeit und Brot.

Da hat der Autor – vielmehr die Mutter des Jungen – eine grandiose Idee. Sie gründet in der Küche der Barackenwohnung einen „Salon“. Sie hat das Lyzeum besucht, arbeitete als Sekretärin einst bei der Reichsbahn. Sie sei politisch unbedarft aber nicht uninteressiert, so der Autor. Sie genießt die Diskussionen über Politik und Kultur, „die ihr ermöglichen, zu eigenen Beurteilungen zu kommen“. Man spricht über Thomas Mann, Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger, über die Frage, „ob ein erneuter Krieg verhindert werden könne“, über die Gründung der NATO, die eindeutig gegen die Sowjetunion gerichtet sei. Ein „Herr Major“ befürwortet dies, denn „dass von den Russen eine Gefahr ausgeht“, sei nicht von der Hand zu weisen. Worauf ein Freund des Vaters namens Kaderabeck entgegnet, an eine solche Gefahr glaube er nicht, er befürchte vielmehr die Festlegung auf eine von den Siegermächten verordnete Lebensform, „insbesondere auf das westliche Wirtschaftssystem mit der Garantie des Privateigentums an Produktionsmitteln“.

Die ehemalige Lehrerin aus Schlesien, Frau Weber, hat ein Flugblatt der CDU mitgebracht und zitiert aus dem „Ahlener Programm“ von 1947: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“ Inhalt und Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung „kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein“. Das empört einen Herrn Kreuderitz: „Was sind das für Schlagworte? ´Kapitalistisches System´ – das hört sich fast schon kommunistisch an.“

Der Autor lässt seine Charaktere vieles aussprechen, was unter der sogenannten Meinungsfreiheit bis zur Gegenwart zwar nicht verboten ist, aber oft mit Hohn und Spott verlacht oder gar mit Schweigen übergangen wird. So die Warnung des Großvaters vor einem neuen Krieg gegen Russland oder die Meinung eines ehemaligen Kameraden des Vaters zum Marshallplan unter der Fuchtel der USA, der Etikettenschwindel sei: „Die USA gewähren uns Kredite und verpflichten die deutsche Wirtschaft, Produkte aus ihrer Überproduktion zu kaufen.“ Die enorme Reklame mache den Marshallplan zum Wunder, das „uns vor Aufständen bewahrt und gegen Russland einnimmt“. Und der inzwischen größer gewordene Junge hört noch, wie der Großvater schimpft: „Banausen und Spießbürger, wohin man blickt.“ Was ist aus uns geworden?

Der Autor Wolfgang Bittner hält jenen den Spiegel vor, die immer noch unter dem Wachstumsdiktat den Springquell auch des persönlichen Glücks sehen und denen es relativ gut geht. Seine Sprache ist klar, die Argumente sind treffsicher und emotional beeindruckend, wie auch die geschichtlichen Rückblicke und die Beschreibungen von Natur und Örtlichkeiten. Die Aktualität dieses Buches erweist sich fast täglich. So berichteten die Medien am 21. April 2019: Mit 6,5 Milliarden Euro sollen EU-Straßen panzerfähig gemacht werden, „um schweres militärisches Gerät schneller Richtung Russland bewegen zu können“.

Worauf man den Großvater des Jungen im Roman schon in den 50er-Jahren fragen hört, ob es denn schon wieder so weit sei. Und die Mutter fragt vorwurfsvoll, ob man denn aus der Vergangenheit nichts gelernt habe. Ihr „Salon“ ist nicht ohne Wirkung geblieben.

Wolfgang Bittner, „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“, Roman, Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2019, 352 Seiten, geb., 21,90 Euro, ISBN 978-3-943007-21-3

Wolfgang Bittner lebt als Schriftsteller und Publizist in Göttingen. Der promovierte Jurist schreibt Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied im PEN. Von 1996 bis 1998 gehörte er dem Rundfunkrat des WDR an, von 1997 bis 2001 dem Bundesvorstand des Verbandes deutscher Schriftsteller. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 nach Polen. Wolfgang Bittner war freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen und hat mehr als 60 Bücher veröffentlicht, darunter die Romane „Der Aufsteiger“, „Niemandsland“ und „Hellers allmähliche Heimkehr“.

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