Die unerträgliche Seichtigkeit des Seins | Von Roberto de Lapuente (Podcast)

Die Guten und die Bösen: Auf diesen moralischen Dualismus läuft es im Restdiskurs, den sich diese Gesellschaft noch zutraut, letztlich hinaus. Diese Vorstellung stellt einen intellektuellen Offenbarungseid dar und beleidigt die Intelligenz denkender Wesen.

Ein Kommentar von Roberto de Lapuente.

Neulich war ich mit dem Fahrrad unterwegs. Raus aus Frankfurt, rein nach Offenbach. Diese Animositäten, die Frankfurter und Offenbacher im Umgang mit ihrer jeweiligen Nachbarstadt hegen, verstehe ich als Zugereister nicht. Beide Städte sehen beinahe gleich aus. Jedenfalls war ich gerade auf dem Rückweg nach Frankfurt, überquerte den Main und las auf dem steilsten Brückenabschnitt, mehrfach auf den Boden gesprayt: »Hanau war kein Einzelfall.« Da ich gerade im Begriff war, die anaerobe Schwelle zu überschreiten, blitzten meine Gedanken nur lose auf. Kurz vorher gab es das Messerattentat von Würzburg – und ich dachte mir in dieser Phase strampelnder Anstrengung: Stimmt, kein Einzelfall.

Später habe ich mich gefragt, ob ich das so einordnen kann. War Hanau nicht was anderes als Würzburg? Aber Amokläufe gleichen sich ja nie im Ablauf – nur in dem, was sie bewirken. Darf man eine Attacke eines Mannes, der als rechtslastig gelabelt wurde mit der Tat eines Asylbewerbers vergleichen? Ich bin nur sehr bedingt der Ansicht, dass der Hanauer ein Rechtsextremist war. Meinen Standpunkt hatte ich schon mal klargemacht. Aber warum sollte man beides nicht nebeneinander stellen dürfen? Weil die Moral im Lande dies säuberlich trennt?

Vereinfachungen wohin man schaut

Ich bin doch ohnehin der Ansicht, dass der herrschende Moralismus, diese Lehre vom Guten und dem Bösen, keine geeignetes Instrument zur Analyse darstellt. Moral ist ein spannender philosophischer Teilbereich. Man braucht sie sicherlich auch im persönlichen Alltag. Als Kompass. Und als Richtschnur. Aber als rigoroser Wegweiser und Richtungsgeber wird sie überschätzt – jedenfalls in dieser kruden Spielart, die Welt nach Schwarz-Weiß-Schemata zu kartographieren.

Diesen Dualismus, der unsere Debattenkultur so stark prägt, wie vielleicht nie zuvor, halte ich für eine ziemlich amerikanische Sache. Innerhalb der Wokeness, dieses akademischen Moralismus‘, der von US-Universitäten überschwappte, manifestiert er sich ganz deutlich. Die amerikanische Kulturlandschaft hat das dualistische Weltbild, das sich aus einer religiösen Grundhaltung destillierte, ganz augenfällig vereinnahmt. Kaum ein Film, kaum eine Serie, in der nicht vom Guten und vom Bösen die Rede ist. Grauzonen kommen hingegen eher selten vor. Aus der einstigen Zombie-Apokalypse bei »The Walking Dead« formte sich ein moralinsaurer Erguss. Wo man früher den Protagonisten zusah, wie sie gegen Untote kämpften, ihr Überleben sicherstellten, lauscht man ihnen jetzt bei endlosen Debatten über das Richtige und das Falsche, erträgt man ein Geschwafel über gut und böse.

Mir scheint das in der Syntax der Vereinigten Staaten angelegt. Sie sind hochgradig dualistisch geprägt. Es sind die Geister einer Zeit, da das Land der Zufluchtsort religiös Ausgegrenzter und Fanatisierter war. Das hat abgefärbt. Ein realistisches Bild von der Welt vermittelt es nicht. Niemand ist einzig böse. Und die vermeintlich Guten sind eben auch nicht immer gut. Das moralische Leitbild, das zwischen diesen zwei Attributen strikt trennt, ist eine Simplifizierung. Ist Schubladendenken in Reinkultur. Eine intellektuelle Seichtigkeit stellt es ohnehin dar.

Gute Serienmörder? Schlechte Moralisten?

Es gibt Serienmörder, denen die Nachbarschaft nachsagte, dass sie eigentlich freundliche Zeitgenossen gewesen seien. Sie waren immer hilfsbereit, fürsorglich, da war nie ein Verdacht. Und es gibt Moralisten, die stets das Gute predigen und die hinter den Kulissen vergewaltigen und sexuell ausbeuten. SS-Leute waren zuweilen prächtige Familienmenschen. Die Welt ist in meinen Augen ein Tummelplatz solcher Unausgewogenheiten. Mit Kategorien wie gut oder böse, kann man sicherlich grob einschätzen. Aber zu einer Lebensphilosophie lässt sich das nicht modellieren. Ich selbst ordne mich gar nicht in so einem Moralismus ein. Bin ich gut? Böse? Nichts davon trifft zu. Häufig bin ich pragmatisch. Diese Haltung ist werteneutral, kann gut oder böse sein – sie ist gespalten in ihrem Handeln oder Unterlassen.

Es würde mich auch schlicht überfordern, mein Leben nach dualistischen Kriterien einzuordnen. Wer so lebt – das ist meine persönliche Meinung -, kann nie zur Ruhe kommen. Denn der Dualismus lebt vom ewigen Zweifel, vom Widerstreit bei jeder Tätigkeit. Darf ich das? Soll ich das? Lasse ich es lieber? Oder muss ich es im Gegenteil sogar tun, um richtig zu liegen? Was denken die anderen von mir? Das ist die eigentliche Frage, die sich aufdrängt: Was denken die anderen von mir? Denn der moralische Dualismus ist ja kein Selbstzweck, er manifestiert eine Werteordnung, die zwangsläufig den Nächsten braucht, der Wertevorstellungen pflegt.

Auf den Punkt gebracht ist es doch so, dass die wahren Umstände auf dieser Welt viel komplexer sind, als dass sie mit einer solchen Schwarz-Weiß-Malerei treffend umschrieben werden könnten. Es gibt nun mal auch Vergewaltiger, die als Sozialarbeiter mit Flüchtlingen arbeiten. Er tut Böses und Gutes zugleich. Solche drastischen Beispiele zeigen doch nur, die Zerrissenheit der menschlichen Rasse auf. Die moralischen Attribute, die wir mit gut oder böse bezeichnen, sind menschliche Kategorien. Das meine ich nun nicht dekonstruistisch, denn natürlich sind sie notwendig, um sein Leben einordnen zu können. Aber sie können als Begriffe eben nie das Chaos abbilden, das so ein Erdenleben ausmacht. Sie sind Einschätzungshilfen. Aber keine Wahrheiten, die man als Lebensmoral nutzen könnte.

Die Welt ist zu komplex für ein moralisches Raster

Die heute so favorisierte Grundhaltung, ständig alles und jeden rein dualistisch zu bewerten, ist völliger Irrsinn, stellt die schlimmste Leugnung dar, die man sich vorstellen kann: Denn sie verleugnet die conditio humana, die Umstände des Menschseins nämlich. Die sind zerrissen, unübersichtlich, chaotisch und komplex. Da ist nichts eindeutig, alles ist in Kontexten zu sehen, Motivationsgründe sind vielfältig. Ja, Diversität, dieses Schlagwort der Wokeness, trifft ganz besonders auf das Innenleben des Individuums selbst zu.

Eigentlich ist diese Einsicht keine große Nachricht. Sie ist eine Binsenweisheit. Dennoch muss man das heute explizit betonen, weil sich ein Weltbild in der woken Blase und darüber hinaus im öffentlichen Diskurs etabliert hat, das mit ganz klaren Konturen hantiert und das so tut, als könne man den ethischen Dualismus ohne Skepsis und Zweifel zur Grundlage der eigenen Welt- und Gesellschaftseinschätzung heranziehen. Dabei sind jene, die ihr Weltbild dualistisch ausleuchten, ja selbst das beste Beispiel dafür, dass dieses moralische Raster mindestens zweifelhaft sein muss.

Denn sie, die sich innerhalb des dualistischen Komplexes als »die Guten« sortiert haben, zeigen Anwandlungen von schierer Boshaftigkeit und lassen hier und da sogar drastische Gewaltbereitschaft aufblitzen. Dass sie diese Form als Kampf des Guten gegen die Bösen erklären wollen, macht die Komplexität ihrer eigenen moralischen Verfassung nicht nachvollziehbarer. Im Gegenteil: Sie zeigen nur, warum der klassische Dualismus ein Faible aus religiösen Zeiten war. Damals war man selbstgerecht genug, nichts anderes als den eigenen Glauben gelten zu lassen. Es mangelte an Aufgeklärtheit darüber, dass es andere Lebens- und Denkmodelle, ja andere Religiositäten gibt. Da gelangen wir abermals zu der Einschätzung, dass wir heute eigentlich in religiösen Tagen leben, in denen für Komplexität und Diversität kein Platz ist – auch wenn man das gerne freimütig betont. Man predigt halt Wein und serviert Wasser. Auch das kennt man ja …

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Artikel erschien zuerst am 16. Juli 2021 auf dem Blog neulandrebellen.de

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Bildquelle: Jag_cz / shutterstock

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