Die Pseudo-Liebe

Eine Stellungnahme von Franz Ruppert zum allseits gelobten Dokumentarfilm „Elternschule“.

Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

Ich bin gebeten worden, eine Stellungnahme zum Dokumentarfilm „Elternschule“ von Jörg Adolph und Ralf Bücheler zu verfassen. Für mich ist dieser Film ein weiteres Symptom für eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder schon früh traumatisiert, diese Traumatisierungen systematisch ignoriert und sich dann mit hohem Aufwand und viel Eifer an der Bekämpfung von Psychotrauma-Folgesymptomen abarbeitet.

In diesem Fall machen das vermeintliche Psychologie-Experten, die traumatisierten Eltern im Kampf gegen ihre traumatisierten Kinder zur Seite stehen wollen. Dies in der Form, dass sie weitere Traumatisierungen ins Werk setzen. Die Folgen von Psychotraumata werden mit neuen Psychotraumata zu bekämpfen versucht. Das unterdrückt zuweilen die im Moment manifesten Symptome und schafft zugleich neue. Die die Eltern störenden Verhaltensweisen — zum Beispiel Kind schläft oder isst nicht — werden mit emotionaler und körperlicher Gewalt angegriffen, ohne auf deren unterschiedlichen Ursachen zu schauen.

Als vermeintliche Erklärung und Rechtfertigung für die Rücksichtslosigkeit gegen die Kinder wird ein Glaubenssatz der dieses Projekt leitenden Psychologen und ihrer Helfer herangezogen: Kinder sind die größten Egoisten auf unserem Planeten! Diesem Egoismus müssen Grenzen gesetzt werden! Der Begriff „Psychotrauma“ kommt daher an keiner Stelle vor. Fragt sich daher, wer hier wirklich „egoistisch“ agiert.

Ich halte es aber auch für verkehrt, als Reaktion auf diesen Film im Umkehrverfahren Partei zu ergreifen für die vermeintlich guten und unschuldigen Kinder gegenüber bösen, weil gewalttätigen Erwachsenen.

Hier treffen in den Familien und in diesem Kliniksetting Menschen unterschiedlicher Altersstufen mit ihrer jeweils traumatisierten Psyche aufeinander und machen sich das Leben gegenseitig zur Hölle. So können zum Beispiel die Kinder schon aufgrund ihrer Erlebnisse im Bauch ihrer Mütter — sind sie überhaupt gewollt? —, ihrer Geburtserfahrungen — wie etwa Kaiserschnitt? Zangengeburt? Frühgeburt? — oder ihrer frühen Säuglingszeit — wurden sie alleine gelassen? ausreichend gestillt? — durch unerträgliche Ängste, Schmerzen und nicht aushaltbare Wutreaktionen psychisch gespalten sein. Sie können sich dann emotional nicht mehr selbst regulieren und sind von einem gesunden Körperempfinden weit entfernt. Sie können auch symbiotisch verstrickt sein mit Traumagefühlen ihrer Mutter oder ihres Vaters.

Selbstverständlich ist nicht von den Kindern zu erwarten, dass sie durchschauen, was sie da an Trauma-Überlebensstrategien im Verhältnis zu ihren Eltern oder Erzieherinnen inszenieren. Dazu sind potentiell nur die Erwachsenen in der Lage. Diese müssten allerdings zuerst ihre traumatisierte Kinderpsyche in sich selbst entdecken, damit sie bemerken, wie sie hier einen Teufelskreis inszenieren: Sie fügen ihren Kindern das zu, was ihnen selbst als Kindern angetan wurde. Sie ziehen ihre Kinder in ihre Trauma-Überlebensstrategien hinein. Sie reagieren mit ihrer eigenen traumatisierten Kinderpsyche auf ihre eigenen Kinder. Warum zum Beispiel sind manche Mütter in diesem Film deutlich übergewichtig?

Ich habe im Folgenden einige Seiten aus meinem Buch „Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft?“ (1) zusammengestellt, die für ein tieferes Verständnis dieses Dokumentarfilmes und der damit verbundenen öffentlichen Diskussion hilfreich sein könnten.

Eltern für oder gegen Kinder?

Wir Menschen sind soziale Wesen. Als Menschen brauchen wir für unser Leben und unsere Entwicklung andere Menschen. Wir sind existenziell auf andere Menschen angewiesen. Das beginnt mit der Zeugung. Das werdende Kind braucht den Organismus seiner Mutter, um darin heranwachsen zu können und nach neun Monaten geboren zu werden. Alle Menschen sind Frühgeburten. Daher braucht jedes Neugeborene seine Mutter und ihren Körper noch mindestens drei Jahre, damit seine Psyche einigermaßen stabil wird und es in sich selbst Halt finden kann. Das Kind ist daher auf Gedeih und Verderb auf eine wohlwollende, fürsorgliche und liebevolle Mutter angewiesen. Muttersein für kleine Kinder ist dementsprechend ein Fulltime-Job, der nicht so nebenher erledigt werden kann. Dass es hier eine „Vereinbarkeit“ von Familie und zeitintensiver Berufsarbeit geben könnte, ist eine Illusion beziehungsweise ein gesellschaftliches Dogma, das sowohl auf Kosten der Mütter wie auf Kosten der Kinder geht.

Für eine gesunde psychische und körperliche Entwicklung braucht ein Kind auch den Rückhalt durch seinen Vater und dessen Unterstützung möglichst von Anfang an. Es braucht in seiner Umwelt viele Menschen, die ihm liebevoll und freundlich begegnen und ihm vorbildhaft zeigen, wie gutes und konstruktives Zusammenleben geht.

Das ist leider nicht immer der Fall. Viele Kinder sind von ihren Eltern nicht gewollt und werden von ihnen nicht geliebt. Kinder werden in soziale Verhältnisse hineingezeugt und geboren, die ihnen abweisend, unfreundlich und bedrohend gegenüberstehen. Sie machen die Erfahrung: Es kommt nicht auf sie an und wenn sie da sein wollen, müssen sie sich für andere nützlich machen. Das ist dann ihre einzige Daseinsberechtigung (2).

Viele traumatisierte Eltern sind nicht in der Lage, zum Wohl ihrer Kinder zu handeln. Sie stellen ihre eigenen Trauma-Überlebens-Interessen über die Bedürfnisse ihrer Kinder und missbrauchen ihre Kinder für ihre Überlebensstrategien. So werden unzählige Kinder zu Opfern ihrer traumatisierten Mutter und/oder ihres traumatisierten Vaters. Ihre Eltern werden zum ersten Trauma-Täter an ihnen (3). Mütter und Väter, die ihr eigenes Leben nicht auf die Reihe bekommen, klammern sich an ihre Kinder und können sie nicht in Ruhe lassen. Sie stellen ihre eigenen Trauma-Überlebensstrategien als „Sorge“ und „Hilfe“ für ihre Kinder dar.

Kämpfen oder sich anpassen?

Ein Kind baut zu Mutter oder Vater entweder eine sichere und vertrauensvolle Bindung auf und kann dann dieses Vertrauen auch in Selbstvertrauen ummünzen und in anderen Beziehungen einbringen; oder es entwickelt seinen traumatisierten Eltern gegenüber einen „Kampfmodus“ oder einen „Vermeidungsmodus“. Im ersten Fall hat es gelernt, dass es wütend werden und Krach machen muss, um die Aufmerksamkeit seiner geistig und emotional dissoziierten Eltern zu erhalten. Im zweiten Fall lernt es, seine Gefühlsäußerungen zurückzuhalten, um seine traumatisierten Eltern nicht noch weiter in die Dissoziation zu bringen oder ihre Aggressionen zu provozieren. Deshalb ist es nach außen brav, still und angepasst, innerlich aber hoch gestresst, verzweifelt und voller Wut und Negativität.

Die Bindungsbeziehung zur Mutter und zum Vater kann unterschiedliche Qualität haben. Wenn ein Kind Glück hat, kann es zumindest zu einem Elternteil eine liebevolle und haltgebende Bindungsbeziehung entwickeln. Da sich oft traumatisierte Paare anziehen, haben viele Kinder bei ihren Eltern nur die Möglichkeit, zwischen Kampf- und Vermeidungsmodus zu wählen. Da die Mutterbindung die frühere und damit psychisch auch tiefer prägende Bindung ist, wird meist das dort entwickelte Muster in anderen Beziehungen im weiteren Leben wiederholt.

Wenn Kinder die Beziehung zu ihren Eltern als Macht-, Kontroll- und Unterwerfungsverhältnis erfahren haben, ist dieser Bruch an Vertrauen in andere Menschen nur schwer zu überwinden. Daher werden auch die übrigen sozialen, ökonomischen und politischen Institutionen in einer Gesellschaft von Menschen geprägt, die vom kindlichen Trauma-Opfer zum erwachsenen Trauma-Täter geworden sind. Auf diesem Wege wird eine soziale Negativspirale in Gang gesetzt. Sie schaukelt sich immer mehr hoch.

Nach dem psychischen Resonanzprinzip ziehen sich Menschen mit ihren Trauma-Überlebensstrategien auch wechselseitig an. Wer in seinen gesunden Anteilen ist, wer weiß, wer er ist und was er will, hält hingegen Abstand von Menschen, die aus ihren Trauma-Überlebensstrategien heraus agieren.


Trailer: „Elternschule“


Erziehung für oder gegen Kinder?

Die „Erziehung“ von Kindern wird gemeinhin als notwendig angesehen, um sie zu lebenstüchtigen Erwachsenen zu machen. Im Sinne der Freud’schen Psychoanalyse müsse das Triebwesen Kind durch das Über-Ich, also durch kulturelle Normen und Gebote, „sozialisiert“ werden. Zum einen ist allerdings die Frage, ob Kinder tatsächlich von Natur aus unsozial sind. Zum anderen sollte man sich überlegen, zu welcher Sorte Erwachsener Kinder werden, die durch Normen und Verbote erzogen werden. Und wie sehen diese Normen und Verbote überhaupt aus? Wem dienen sie und wem schaden sie? Was macht es aus Kindern, wenn sie vor allem dazu erzogen werden, besser und erfolgreicher zu sein als ihre Klassenkameraden? Werden sie dann wirklich sozial oder nur zu rücksichtslosen „Peak Performern“, denen es egal ist, wer letztlich die Kosten für Ihren persönlichen Erfolg zu tragen hat?

In der vorschulischen wie schulischen „Erziehung“ setzt sich daher nicht selten die Traumatisierung von Kindern durch ihre traumatisierten Eltern fort. Kinder werden als Objekte von Belohnung und Bestrafung gesehen, an denen sich jeder ausprobieren kann, dem sie in die Finger geraten. Erzieherinnen und Lehrer können unreflektiert die guten wie schlechten eigenen Kindheitserfahrungen auf Kinder übertragen (4).

Werden in den meisten Gesellschaften Eltern ohnehin qua Natur als kompetent angesehen, das Richtige für ihre Kinder zu tun, wird selbst in einem Pädagogikstudium von den Studierenden nicht verlangt, sich zuerst ihre eigenen Kindheitstraumata anzusehen, bevor sie ihnen anvertraute Kinder auf ihrem Weg in die Welt begleiten. Daher sind Täter-Opfer-Dynamiken zwischen Erzieherinnen und Kindern und Lehrern und Kindern weltweit an der Tagesordnung.

Wie leben in traumatisierten Gesellschaften?

In traumatisierten Gesellschaften scheint leider eine Selektion zugunsten derer stattzufinden, die die besten Trauma-Überlebensstrategien entwickeln, deshalb auch das größte Gewaltpotential in sich entfesseln und ihr Mitgefühl mit sich und anderen am radikalsten betäuben können. Empathielosigkeit, unablässiges Reden und konstanter Aktionismus werden hier zu Selektionsvorteilen — solange der Körper der betreffenden Person das mitmacht. Machtversessene Menschen — „Machiavellisten“ —, „Psychopathen“ und „Narzissten“ sind in traumatisierten Gesellschaften häufig in Führungspositionen zu finden und verdienen viel Geld damit, andere Menschen systematisch zu traumatisieren.

Daher ist die Frage, in welchem Maße es einem Einzelnen gelingen kann, in einer traumatisierten Gesellschaft

  • einen Partner zu finden, der nicht schon früh traumatisiert wurde, nicht in einem Trauma der Liebe feststeckt und keine sexuelle Traumatisierung erleben musste und zudem bereit ist, an seinen eigenen Traumatisierungen zu arbeiten,
  • sich dem Zwang zur blinden Reproduktion zu entziehen,
  • sich gewaltvolle Geburtsprozesse nicht von einem auf Technik fixierten Geburtshilfesystem aufzwingen zu lassen,
  • seine Kinder nicht traumatisierten Erzieherinnen und Lehrern auszuliefern,
  • beim Auftreten körperlicher Symptome nicht von einem naturwissenschaftlich ideologisierten Medizinsystem weiter traumatisiert zu werden,
  • bei psychischen Auffälligkeiten nicht in die Fänge der symptomfixierten Psychiatrie zu gelangen,
  • in Konfliktfällen nicht durch Juristen in eskalierende Täter-Opfer-Dynamiken hineingetrieben zu werden,
  • in seinem Arbeitsleben nicht gezwungen zu sein, sinnlose Dinge zu tun oder solche, die anderen Menschen Schaden zufügen,
  • als Soldat nicht in einen Krieg geschickt zu werden, um andere Menschen und sich selbst zu traumatisieren?

Es bedarf erheblicher Klarheit und Entschlossenheit, sich von traumatisierten Menschen und Institutionen nicht für deren Trauma-Überlebensstrategien einspannen zu lassen und sich den eigenen Täter- und Opferhaltungen, die sich im Zuge der eigenen Traumabiografie in der Psyche etabliert haben, nicht zu unterwerfen. Es ist in traumatisierten Gesellschaften nicht einfach, eine gesellschaftliche Nische zu finden für sein eigenes gesundes Privat-, Sozial- und Arbeitsleben. In einer traumatisierten Gesellschaft ist es normal, das Eigene als fremd zu erleben und sich das Fremde zu eigen zu machen.

Zum Glück gibt es auch in solchen Trauma-Kollektiven noch die Möglichkeit von gesunden Beziehungen. Wie das in Abbildung 1 dargestellte Modell zeigt, können auch traumatisierte Menschen zumindest zeitweise gesunde Beziehungen miteinander führen. Wenn beide Zugänge zu ihren gesunden Anteilen — GA/GA — haben und bewusst suchen, sind sie in der Lage, die Negativspirale für eine gewisse Zeit zu stoppen. Und solange mindestens einer der Beziehungspartner in seinem gesunden Anteil ist, auch wenn der andere sich in einem Überlebens- oder Traumanteil befindet — GA/ÜA; GA/TA —, werden Täter-Opfer-Eskalationen verhindert.

Nur wenn beide in ihren Überlebensanteilen agieren oder in ihre traumatisierten Anteile rutschen, steht dem Aufeinanderprallen von Täter- und Opferhaltungen und der Eskalation der Täter-Opfer-Dynamik nichts mehr im Wege. Ich vermute, dass die Kombination TA/TA häufig auch die Illusion erzeugt, mit einem anderen Menschen „seelenverwandt“ zu sein. Möglicherweise ist das dann auch der unbewusste Grund für dauerhafte Partnerschaften und Heirat.

Bild

Abbildung 1: Mögliche Beziehungskonstellationen zwischen zwei Menschen, die durch Traumata psychisch gespalten sind.

Es bedarf der Übung, rechtzeitig wahrzunehmen, wenn ich in eine meiner Trauma-Überlebensstrategien rutsche und mich von alten Ängsten und Wutgefühlen leiten lasse, statt wahrzunehmen, was im Moment wirklich los ist. Ebenso braucht es große Klarheit, sich von den Trauma-Überlebensstrategien anderer nicht provozieren zu lassen und sich in den Strudel von Opfer- und Täterhaltungen hineinzubegeben. Jede Konfliktsituation könnte Anlass sein, näher hinzusehen, welche Traumatisierung dahintersteckt.

Fallbeispiel

Die folgende therapeutische Arbeit zeigt, wie schnell körperliche wie psychische Symptome bei einem Kind verschwinden können, wenn eine Mutter auf ihr eigenes Muttertrauma blickt. Ich entnehme es aus meinem Buch „Trauma, Angst und Liebe“ (5). Das Gespräch wurde telefonisch geführt. Ich, F.R., bat die Klientin, Linda, das Telefonat nach ihren Erinnerungen zu protokollieren.

Linda: „Ich habe Probleme mit meinem vierjährigen Sohn. Der hat Panikanfälle im Kindergarten, weint und klammert sich an mich, wenn ich gehe. Er schläft mittags nicht, sondern weint in seinem Bett. Er fragt permanent nach der Mama und hat furchtbare Angst, von mir getrennt zu sein. Er hat sogar dreimal in die Hose gekotet.“

F.R.: „Kennst du Panik und Nicht-allein-sein-Wollen von dir selbst?“

Linda: „Ja. Ich hatte vor zwei Jahren zum ersten Mal einen Panikanfall, habe das seitdem ein paar Mal gehabt, hatte zum Beispiel Angst — weil die roten Blutkörperchen in einem Blutbild meines Sohnes etwas zu gering waren —, dass er Blutkrebs haben könnte. Da bin ich auf der Buchmesse, als ich vor Kindern moderiert habe, schier durchgedreht, weil ich dachte, mein Sohn wird seinen fünften Geburtstag nicht erleben.“

F.R.: „Gut, dann such mal ein Kissen für deine Angst vor Einsamkeit und eines für deinen Sohn und stell dich dazu.“

Linda (macht das): „Meine Einsamkeit möchte ich sofort wegkicken. Ich will mit der nichts zu tun haben. Ich spüre diesen harten Anteil in mir. Das ist der Anteil, der auf der Bühne, bei der Arbeit gut ist, der immer super sein will. Der erträgt die Einsamkeit nicht. Der erträgt es nicht, dass mein Sohn Angst hat. Der will eine Supermama sein und Supermama wird man nur, indem man ein Superkind hat.“

F.R.: „Leg mal ein Kissen für diesen Anteil dazu.“

Linda (macht das, legt den Anteil eng hinter das Kissen für den Sohn)

F.R.: „Jetzt stell dich mal auf den Platz deines Sohnes.“

Linda (tut das): „Es ist schwer. Ich kann nicht stehen. Diese Supermama in meinem Rücken bedroht mich. Wenn ich mich hinsetze, geht es. Ich hätte sie gerne weiter weg.“

Linda schiebt das Kissen weiter weg.

Linda (stellvertretend für den Sohn): „Jetzt ist es besser!“

Linda (erstaunt): „Das wäre ja toll. Da muss ich mich gar nicht so anstrengen, eine tolle Mutter zu sein, wenn die dem sowieso nur auf die Nerven geht.“

F.R.: „Leg jetzt mal den Superanteil und die Einsamkeit nebeneinander.“

Linda (tut es): „Die Einsamkeit gefällt mir immer noch nicht. Ich hätte sie gerne weg.“

F.R.: „Jetzt schau mal zu dem Kissen deines Sohnes.“

Linda: „Da könnte ich sofort anfangen zu weinen und ich zerfließe vor Mitleid.“

F.R.: „Siehst du, was du machst?“

Linda: „Nein.“

F.R.: „Deinen eigenen Schmerz willst du nicht, seinen aber nimmst du.“

Linda: „ERLEUCHTUNG!!!

Danach war schnell Schluss. Ich habe auf mein Telefon geguckt: Von 9:00 bis 9:46 Uhr hat die Aufstellung gedauert, nach der die Panikanfälle bei meinem Sohn sofort aufgehört haben.
Mir geht es jetzt in vielerlei Hinsicht besser. Besonders das Verhältnis zu meinem Sohn ist viel entspannter. Der will jetzt ganz spät aus dem Kindergarten abgeholt werden, seine trockene Haut ist weg, seine Ohrenprobleme — Wasser in den Ohren — ebenfalls, und er ist insgesamt viel aktiver, offener und neugieriger geworden. Und meine Schuldgefühle ihm gegenüber sind tatsächlich verschwunden — obwohl es auch jede Menge Konflikte gibt. Aber wir haben oft eine wirklich schöne Zeit zusammen und sind insgesamt viel mehr im Kontakt als früher. Ich hab das Gefühl, ich kann ihn jetzt sehen, die Sicht auf ihn ist nicht mehr durch die Projektion meiner eigenen Themen auf ihn verstellt. Das ist ganz toll, und dein Satz ‚Deins nimmst du nicht, seins willst du‘ hat sich mir eingebrannt und mich überhaupt sensibel gemacht für Projektionen. Dafür möchte ich dir noch mal sehr danken.“

Einige Monate später schrieb die Klientin:

„Heute hat mich eine Erzieherin aus der Gruppe meines Sohnes noch mal angesprochen, wie sehr er sich gemacht habe, dass er richtig frech und selbstbewusst geworden sei und dass sie bei der tiefen Krise im März nicht damit gerechnet habe, dass er sich so schnell so gut entwickeln würde. Ich habe auch bei mir Dinge im Außen geändert: Keine Frühdienste mehr, keine Aufenthalte mehr bei der Tagesmutter, stattdessen eine nette Frau, die ihn abholt und nach Hause bringt. Das hat sicherlich auch etwas bewirkt. Aber der Kern der Veränderung lag in Deinem Satz.“

Weitere Beispiele für die traumabezogene Arbeit mit Eltern und Kindern finden sich im Buch „Mein Körper, mein Trauma, mein Ich“, Ruppert & Banzhaf 2017, im Kapitel, das Bettina Schmalnauer geschrieben hat (6).


Quellen und Anmerkungen:

(1) Franz Ruppert: Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft? Klett-Cotta, 2018
(2) Wenn es um das Für und Wider von Kindern geht, wird in Deutschland häufig das Argument vorgebracht, Kinder seien notwendig, um die Rente zu sichern!
(3) Der amerikanische Psychohistoriker Lloyd de Mause hat diese weitverbreitete Situation von Kindern in seinem Buch „Hört ihr die Kinder weinen“, so auf den Punkt gebracht: Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem die Menschheit gerade erst erwacht (de Mause 1980).
(4) Als „Schwarze Pädagogik“ wird das zum Beispiel von Alice Miller (2006) bezeichnet.
(5) Franz Ruppert: Trauma, Angst und Liebe, Kösel-Verlag 2012, S. 121-123.
(6) Franz Ruppert und Harald Banzhaf (Herausgeber): Mein Körper, mein Trauma, mein Ich; Kösel-Verlag 2017, Seiten 293-299

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Dieser Beitrag erschien am 27.10.2018 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

*Anmerkung der Redaktion: Der Titel dieses Beitrags wurde nachträglich geändert.

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