Roman von Wolfgang Bittner, erschienen am 25. März 2019 im zeitgeist Verlag.
1943 ist der Krieg in Oberschlesien, dem Industriegebiet Ostdeutschlands, noch weit weg. Die Mutter fährt mit dem Kind aufs Land, wo es Hirschbraten, Kaffee und Kuchen gibt. Im Volksempfänger spricht Adolf Hitler von Siegen. Doch immer öfter heißt es: „… für Führer, Volk und Vaterland gefallen.“ In der Nachbarschaft werden die jüdischen Familien abgeholt, man muss sich vorsehen, es soll Konzentrationslager geben. Dann werden aus Siegen Niederlagen, und im Westen versinken die Städte im Bombenhagel. Vor der Gastwirtschaft des Großvaters schlagen sich Grubenarbeiter mit SA-Männern. Die Front rückt immer näher, und mit ihr kommt die Hölle des Krieges. Im März 1945 übernimmt Polen die Verwaltung der deutschen Ostgebiete, und es folgt ein Exodus von Millionen, darunter die Mutter und das Kind. Als sie halb verhungert in einer Kleinstadt in Norddeutschland ankommen, liegt der Vater schwer verwundet in einem Lazarett. Hunger und die furchtbare Kälte im Steckrübenwinter 1946, danach ein jahrelanger Aufenthalt im Barackenlager. Aber die Mutter gibt nicht auf. In der provisorischen Wohnküche arrangiert sie einen „Salon“, in dem kontrovers debattiert wird. Es ist die Zeit der Währungsreform mit der Teilung Deutschlands. Konrad Adenauer – von den Alliierten unterstützt – wird mit einer Stimme Mehrheit Bundeskanzler. Der Kalte Krieg beginnt, und die Weichen werden für das gestellt, was bis heute wirksam ist. Der Familie gelingt in den 1950er-Jahren, im „deutschen Wirtschaftswunder“, allmählich der Neuanfang.
Ein Auszug (1)
Von nichts bin ich mehr überzeugt,
als dass ich mein Leben nicht
nach euren Meinungen einrichten darf.
– Sokrates
Der „Fall Blau“: eine Offensive der deutschen Kriegsführung im Sommer 1942, nachdem das Deutsche Reich im Juni 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion begonnen hatte. Jetzt soll die an der Wolga gelegene Industriestadt Stalingrad eingenommen werden, um von dort aus weiter zu den Ölfeldern im Kaukasus vordringen zu können. Die Kriegsmaschinerie Nazideutschlands braucht Kraftstoff.
In der Deutschen Wochenschau, die als Vorprogramm im Kino läuft, winken lachende Soldaten von ihren Panzern, junge Männer, die Abenteuer erleben wollen. Eine markige Stimme: „Die siegreichen Verbände stoßen tief in das wirtschaftliche Zentrum der Sowjetunion an der unteren Wolga vor. Bis Moskau sind es noch 900 Kilometer.“ In einer Erdstellung richtet der Kanonier seine Acht-Acht-Flak auf ein russisches Dorf, es gibt einen trockenen Knall und fast gleichzeitig fällt der Giebel eines Bauernhauses in sich zusammen. Eine Kolonne Soldaten zieht festen Schritts singend nach Osten.
Mehrmals am Tag meldet das Radio, genannt Volksempfänger, untermalt von Propagandamusik, neue Erfolge der Wehrmacht im Osten, Westen, Süden und Norden. Paris nach wie vor fest in deutscher Hand. Auch Rotterdam, Athen und Oslo. Soldaten singen: „Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engeland …“
Aus dem bombardierten Ruhrgebiet und aus Berlin werden Mütter und Kinder in die noch sicheren ländlichen Gebiete geschickt, auch nach Schlesien. In Gleiwitz, wo mit dem angeblichen Angriff Polens auf den Sender der Krieg begann, ist noch keine einzige Bombe gefallen. Die Großmutter steht in der Küche am Tisch und schält Kartoffeln. Aus dem Radio schallt Marschmusik. Sie sagt: „Die armen Jungs wissen noch nicht, was sie erwartet.“ Ein Infanterist hat einen russischen Panzer mit der Handgranate erledigt. Der Großvater wendet sich ab. Im Hinausgehen ruft er: „Schalte aus! Die haben zu viel Karl May gelesen!“ Die Großmutter sieht besorgt aus, sie schüttelt den Kopf. „Gnade uns Gott, wenn wir den Krieg verlieren sollten.“ Das Kind kommt die Treppe herunter, und der Großvater nimmt es auf den Arm.
Das Haus ist alt, aus dem 19. Jahrhundert, vorn an der Straße gelegen, Barbarastraße, später Ulica Czesława. Dahinter ein großer Hof, umstanden von zwei mehrstöckigen Wohnhäusern, auf der linken Seite Werkstätten und eine Garage. Im Vorderhaus die Gastwirtschaft „Zur Einkehr“, daneben die Fleischerei. Im ersten Stock Wohnungen: Großeltern, Vater und Mutter, Tante Franziska mit Sohn Edmund. Ein langer Flur, die Treppe hinunter, rechts die Küche, links die Gaststätte. Die eichene Haustür steht tagsüber offen, sobald die Gaststätte geöffnet ist.
Der Großvater geht mit dem Kind auf dem Arm zur Theke. „Möchtest du vielleicht einen Schluck Bier?“, fragt er verschmitzt. Das Kind kann sich schon mit ihm unterhalten, es mag Bier, das süße, dunkle Malzbier natürlich. Noch ist kein Gast anwesend, und die beiden schauen zum Fenster hinaus auf die Straße, wo vor der hohen Mauer des Reichsbahnausbesserungswerks die Platanen mit den gescheckten Stämmen stehen und die Sonne goldene Kringel auf das Pflaster malt. Wenn jemand vorübergeht und dem Großvater zuwinkt, grüßt er freundlich zurück. Er ist eine bekannte Persönlichkeit im Viertel, stattliche Erscheinung, immer im dunklen Anzug mit Weste und Krawatte. Als Einziger in der näheren Nachbarschaft besitzt er bereits ein Auto.
Das Kind spielt mit der Uhrkette und den Berlocken, kleinen Goldmünzen, die Wohlstand verraten. Dann kommt der erste Gast herein, wenig später der nächste. In Oberschlesien wird viel getrunken, schon am Vormittag. Es sind Bahnarbeiter nach der Nachtschicht oder Grubenarbeiter, die auf dem Weg nach Hause ins sogenannte Hüttenviertel rasch noch ihre Kehle befeuchten möchten. Manche begrüßen den Großvater mit Handschlag und duzen ihn: „Glückauf, Friedrich!“, heißt es, man kennt sich seit Jahren. Es wird lebhaft, und Mariya, die Haushaltshilfe, übernimmt das Kind und bringt es in die Küche zu Großmutter Felizitas, die von allen liebevoll Feli genannt wird.
Die Mutter schaut nur kurz herein, denn sie muss sich beeilen. Seit einem Jahr arbeitet sie bei der Reichsbahn im Büro. Sie hat ein Lyzeum besucht, wo sie von Nonnen unterrichtet wurde, „drangsaliert“, wie sie sagt. Trat später, nachdem noch kirchlich geheiratet und der Sohn getauft worden war, aus der Kirche aus, obwohl das nicht einfach war. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, blieb sie hartnäckig. Als junges Mädchen spielte sie Tennis, und im Winter war sie gern zum Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn. Kurzes Röckchen, locker flockig. Die Männer drehten sich nach ihr um. Einer der Verehrer, der spätere Ehemann, trug eine schöne graublaue Fliegeruniform, er tanzte wie ein Gott und spielte Klavier. Imponierend, ein Held zum Verlieben.
Auf der Straße fahren Lastwagen und Kettenfahrzeuge vorbei, es lärmt und rasselt zum Gotterbarmen. Der Großvater schaut hinaus. „Die OT“, sagt er. Die Organisation Todt, zuständig für militärische Bauarbeiten, benannt nach dem Generalinspekteur für das Straßenwesen, Leiter des Baus der Autobahnen und des Westwalls, Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Er war im Februar unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Hermann Göring, der Reichsfeldmarschall und Chef der Luftwaffe, habe damit zu tun, so wurde geflüstert, einer der keine Verwandten kennt. Todts Nachfolger, Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt Albert Speer, baut an Germania, dem neuen Rom, und er kurbelt mithilfe von Zwangsarbeitern die Rüstungsproduktion an. Es geht nach Osten.
Die Mutter arbeitet halbtags. Die Vorgesetzten, Kolleginnen und Kollegen mögen sie, vor allem die Kollegen. Sie ist schlank, mittelgroß, brünett, raucht Zigaretten mit einer Spitze aus Elfenbein, womit sie demonstriert, dass sie emanzipiert ist. Wenn sie ausgeht, trägt sie elegante Kleider, von denen mehrere im Schrank hängen, manche fließend lang, taubengraublau, dazu schicke Pumps mit halbhohen Absätzen und extravagante Hüte. Immer gut frisiert, lackierte Fingernägel, kirschrot, ebenso die ausdrucksvollen Lippen. Sie macht was her, wie die Nachbarn sagen.
Das Kind lebt sein eigenes Leben. Es darf im Haus und auf dem Hof spielen, aber nicht auf die Straße gehen. Tut es manchmal doch, heimlich verlässt es den Hof durch die große Einfahrt, läuft nach links an den Häusern entlang bis zu einem kleinen Platz. Dort wachsen ein paar Bäume und Sträucher, dazwischen ragt ein Luftschutzbunker aus Beton ein wenig aus dem angeschütteten Erdreich. (…)
Mariya kommt, sie hat das Kind gesucht. An ihrer Hand geht es zurück ins Haus Nummer 38. Die Großmutter steht in der Küche am Herd und kocht ihre berühmte Gulaschsuppe. Sie droht mit dem Finger: „Du darfst doch nicht einfach fortlaufen, Herzele. Es gibt böse Menschen, die könnten dich mitnehmen.“ Sie stellt den Volksempfänger an und gibt dem Kind einen Löffel Suppe, bläst, bis sie nicht mehr heiß ist. Das Kind will mehr. Es fühlt sich geborgen.
Von der Buchrückseite:
Die verlorene Heimat, die Hölle des Krieges und der Neubeginn voller Zuversicht: ein Zeitpanorama von erzählerischer Stärke, das mit seiner politisch-historischen Dimension das Lebensgefühl zweier Generationen wiedergibt.
„Wolfgang Bittner schreibt zweckdienlich, im besten Sinn tendenziös, dazu unterhaltend, spannend… Eine singuläre Erscheinung auf dem Literaturmarkt der Eitelkeiten.“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung)
„Die Welt ist nicht so, dass man auf zusätzliche Geistesnahrung verzichten könnte. Das Gegenteil ist der Fall … Es ist mehr Licht in die Welt zu bringen.“ (Neue Rheinische Zeitung online)
„Umso wichtiger ist es, den Kulturpessimismus zu überwinden und die noch lange nicht eingelösten Forderungen der Aufklärung ständig als Ziel vor Augen zu haben. Autoren wie Wolfgang Bittner tragen zu dieser Arbeit bei…“ (Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder)
Erste Stimme zum Buch:
„Man fällt wie durch eine plötzlich auftauchende Geschichtstüre in die plastisch vorhandene Jetzt-Zeit. Es braucht keine Vorstellungskraft, weil man sofort nicht nur im Bild, sondern mittendrin ist. Man ist das nicht im Text erwähnte weitere Familienmitglied. Glänzend!“ (Willy Wimmer)
Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Er hat mehr als 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlich. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag in Frankfurt am Main das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“.
Siehe auch KenFM im Gespräch: https://kenfm.de/wolfgang-bittner/
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