Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen

Roman von Wolfgang Bittner, erschienen am 25. März 2019 im Verlag zeitgeist

Auszug 2

Im Spätsommer 1942 siegt die Deutsche Wehrmacht noch in Stalingrad und der Krieg ist von Oberschlesien weit entfernt (Romanauszug 1). Auch im Herbst 1944 ist es noch relativ ruhig. Bisher gab es nur wenige Bombenangriffe auf Industrie- und Bahnanlagen, aber die Front rückt immer näher. Zwei Brüder des Großvaters sind gefallen, und im Hinterzimmer der Gaststätte versammelt sich die Familie zu einer Gedenkfeier, an der das Kind teilnimmt.

Familienfeiern finden, soweit sie von den Gleiwitzer Großeltern ausgerichtet werden, im hinteren Raum der Gastwirtschaft statt, wo bis zu fünfzig Personen Platz finden können. Hier ist es schon hoch hergegangen: Geburtstage, Hochzeit der Eltern, Silberne Hochzeit der Großeltern, Taufe der beiden Kinder und Sonstiges. Diesmal eine traurige Veranlassung: Zwei jüngere Brüder des Großvaters sind kurz nacheinander gefallen, der eine in Italien, der andere in Frankreich. Da es keine Beerdigungen gibt, denn die Angehörigen haben lediglich die inzwischen übliche Benachrichtigung der Wehrmachtsauskunftstelle für Kriegsverluste erhalten, sieht sich der Großvater veranlasst, zu einer Trauerfeier im engeren Familienkreis einzuladen. (…)

Das Kind sieht viele der Gäste zum ersten Mal. Gekommen sind die Witwen Veronika und Elfriede mit ihren beiden Söhnen und drei Töchtern, ein Sohn und eine Tochter von Bernhard, Tante Waltraud aus Kattowitz, einige Neffen und Nichten sowie die Beuthener Großeltern. Außerdem hat der Großvater Tante Ortrud und Onkel Gundolf, dem er sich verpflichtet fühlt, aus Oppeln eingeladen. Natürlich ist auch Tante Franziska mit Edmund dabei. Die Gäste nehmen an einer hufeisenförmig angeordneten Tafel Platz. Großmutter Feli, die Mutter und Mariya laufen zwischen Küche und Gaststube hin und her und kümmern sich um das Essen. Großvater Friedrich sorgt für die Getränke. Die vordere Gaststube ist heute geschlossen.

Onkel Berni tut so, als sei nichts geschehen. „Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen!“, posaunt er bei der Begrüßung und will die Großmutter Feli umarmen, was sie jedoch abwehrt. Er hat eine wohlbeleibte Ehefrau, Wilma, wird von Kollegen und Saufkumpanen gelegentlich deswegen gehänselt. Dann ruft er in Abwandlung eines Cäsar-Ausspruchs: „Lasst dicke Frauen um mich sein, die tags gut essen und nachts gut schlafen!“ Und er fügt noch hinzu: „Und die nicht schnarchen.“ Das führt meistens zu einem homerischen Gelächter. Berni hat sich seinen Humor – wenn man das so nennen will – erhalten, und er ist nach seinem Bankrott wieder auf die Füße gefallen, hat einen Getränkehandel aufgezogen, der anscheinend trotz der Einschränkungen gut läuft. Gemunkelt wird, dass er auch schwarzgebrannten Schnaps verkauft. Immerhin hat er zur Feier einige Flaschen Wein und drei Flaschen Schnaps gespendet.

Das Kind sitzt neben Edmund, der neben seiner Mutter sitzt. Es schaut sich die Verwandten an. Onkel Berni hat ein gerötetes Gesicht, er wirkt aufgedreht und redet auf Tante Waltraud ein, die fast ebenso dick ist wie Tante Wilma und wieder ihren Kaffeehaubenhut trägt, „Pottdeckel“ nennt das die Mutter. Die Beuthener Großeltern sitzen dem Kind gegenüber neben Onkel Gundolf und Tante Ortrud. Großmutter Lisa ist noch dünner geworden, sie hat tiefe Falten um den Mund, und während Großvater Jakob in sich versunken ein bekümmertes Gesicht macht, strotzen Onkel Gundolf und seine Frau geradezu vor Gesundheit und Selbstzufriedenheit. Tante Ortrud plaudert lebhaft mit Tante Wilma, es geht um Kindererziehung im Sinne des Nationalsozialismus. Zu vernehmen sind Worte wie Disziplin, Gehorsam, Ordnung, Rasse, Führer und Volk.

Die beiden Witwen tragen Schwarz, man sieht ihnen ihre Trauer an. Sie haben ihre Plätze neben den Gleiwitzer Großeltern an der Vorderseite des Tisches. Die Söhne und Töchter der Gefallenen sowie Bernhards Kinder und die Neffen und Nichten haben die beiden Tischenden besetzt. Bernhards Sohn und einer der Neffen tragen Uniform, sie scheinen auf Heimaturlaub zu sein, ein anderer Neffe sieht in seinem Nadelstreifenanzug aus wie ein Chicagoer Gangster, eine Nichte ist tief dekolletiert erschienen, was allgemein als unschicklich angesehen wird, zumal bei einer Trauerfeier, ein Anlass zu Geraune.

Edmund hat die Salz- und Pfefferstreuer eingesammelt und lässt sie gegeneinander aufmarschieren, bis seine Mutter sie ihm aus der Hand nimmt und wieder über den Tisch verteilt. Er mault und knufft das Kind in die Seite. Er beschwert sich, dass er seine Jungvolkuniform nicht anziehen durfte. Aber das Kind reagiert nicht auf ihn, es nimmt wahr, dass sich Großvater Jakob über Onkel Gundolf ärgert, ohne es sich dem Onkel gegenüber anmerken zu lassen. Auch Großmutter Feli scheint etwas bemerkt zu haben, sie nimmt ihren Friedrich beiseite und fragt: „Warum, um Gottes willen, hast du die Beuthener mit den Oppelnern zusammengesetzt?“ Keine gute Idee, das sieht Großvater Friedrich ein, aber jetzt ist es zu spät.

Bevor das Essen aufgetragen wird, werden die Schnapsgläser gefüllt. Der Gleiwitzer Großvater hält eine kurze Rede, in der er die beiden Gefallenen würdigt: geliebte und respektierte Brüder, aufrechte, arbeitsame Männer, in ihren besten Jahren abberufen, geachtet in Verwandtschaft und Freundeskreis, gefallen fürs Vaterland, der eine in der Toskana, der andere in der Normandie, eine kurze Anekdote, Gedenken, Beileid den Witwen, trinken auf …

Das Kind wundert sich, dass Onkel Berni auf einmal Tränen in den Augen hat. Doch er wischt sie fort, und kurz darauf macht er schon wieder seine Witze, die nicht immer gut ankommen, weil sie oft schlüpfrig und ordinär sind. „Schau dir den Berni, diesen Schubiak, an“, raunt Großmutter Feli, die gerade zwei große Platten mit Braten hereingebracht hat, ihrem Friedrich zu. Der flüstert zurück: „Verwandte kann man sich nicht aussuchen. (…)

An den Tischenden geht es hoch her, je weiter die Zeit voranschreitet. Man schlägt sich den Bauch voll, räsoniert, disputiert und streitet. Themen, über die man sich auseinandersetzen kann, gibt es zur Genüge: Lebensmittelrationierung, den Verlust des Afrikakorps, die Invasion in der Normandie und natürlich das Attentat auf Hitler und den Tod Rommels. Das Kind hört „El Alamein“, „Alliierte“, „Kanalküste“, „Invasion“ …, aber es versteht von alledem nichts. Es hat Mühe, Edmund abzuwehren, der es hänselt, knufft und zwickt.

Gegenüber ist Onkel Gundolf, der dem Beuthener Großvater die Prinzipien des Nationalsozialismus nahegebracht hat, dazu übergegangen, die Gründe für den Kriegseintritt der USA im Ersten Weltkrieg zu erläutern: „Präsident Wilson hatte den Amerikanern versprochen, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Aber bekanntlich regiert in den USA nicht der Präsident, sondern das jüdische Finanzkapital von der Wallstreet, und das sah seine Felle davonschwimmen, als Deutschland kurz davor war, den Krieg zu gewinnen. Die amerikanischen Großbanken hatten nämlich erhebliche Kredite an Großbritannien, Frankreich und Italien vergeben. Die wären natürlich futsch gewesen, wenn die Entente den Krieg verloren hätte, und deswegen mussten die USA in den Krieg gegen Deutschland eintreten.“

„Woher hast du das?“, will der Großvater wissen. „Die Juden sollen jetzt auch noch dafür verantwortlich sein, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hat? Das klingt für mich etwas absonderlich. Die mögen ja für so manches verantwortlich sein, aber die Behauptung einer amerikanisch-jüdischen Verschwörung gegen Deutschland halte ich für kompletten Unsinn.“

Das kommt nicht gut an. „Pass auf, Jakob, was du sagst!“, fährt ihn Gundolf an. „Es stand schon vor Jahren im Völkischen Beobachter. Aber wenn man die Germania gelesen und den Katholen vom Zentrum geglaubt hat, kann man natürlich nicht wissen, dass Deutschland eingekreist wurde und fertig gemacht werden sollte. Die damalige Hetze gegen uns ähnelt der von heute. Die jüdische Hochfinanz hat von vornherein den Krieg angeheizt, Deutschland destabilisiert und Milliarden daran verdient.“

„Falls mich meine Geschichtskenntnisse nicht im Stich lassen“, wendet der Großvater mit der ihm eigenen Bedächtigkeit ein, „haben die Österreicher und das Kaiserreich nach dem Attentat von Sarajewo Serbien, Russland und Frankreich den Krieg erklärt, und erst danach beteiligten sich die Briten und schließlich auch die USA. Damit scheint mir die Schuldfrage geklärt zu sein.“

„Deutschlands Kriegsschuld?“ Gundolf wird immer heftiger. „Dass ich nicht lache!“ Er stößt ein gezwungenes, ärgerliches Lachen aus. „Schon mal was von ‚Balance of Power‘ gehört? Die Engländer haben doch immer intrigiert und die Festlandsmächte gegeneinander aufgehetzt. Denen und den Franzosen wurden das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn zu stark, das musste verhindert werden, und deswegen haben sie die Serben gegen die Österreicher aufgehetzt und Verträge mit Russland geschlossen. Dass Franz-Joseph und Wilhelm II. Krieg wollten, ist ein Gerücht. Mit dem Knebelungsvertrag von Versailles haben sie uns dann endgültig fertiggemacht: Diese gewaltigen Reparationszahlungen, 269 Milliarden Goldmark an England, Frankreich und Italien, damit die ihre Kredite an die amerikanischen Banken zurückzahlen können. Und das wirklich Abgefeimte ist, dass sie uns wiederum Kredite für die Reparationszahlungen gegeben haben.“ Wieder dieses gezwungene, ärgerliche Lachen, sein Gesicht ist rot angelaufen. „Dann die Ruhrbesetzung durch die Franzosen und Belgier, die unsere Kohlegruben ausgebeutet haben. Und die uns abgenommenen Gebiete: Elsass-Lothringen an Frankreich, Eupen-Malmedy an Belgien, Nordschleswig an Dänemark, das Hultschiner Ländchen an Tschechien, Posen, Westpreußen und halb Oberschlesien an die Polacken …“

„Recht hat er“, mischt sich Tante Waltraud ein. „Sie wollen uns fertigmachen, und das schon seit der Reichsgründung 1871. Der Versailler Vertrag hätte nie unterschrieben werden dürfen. Aber das hat der Führer ja dann in Ordnung gebracht.“

Erste Stimme zum Buch:

„Man fällt wie durch eine plötzlich auftauchende Geschichtstüre in die plastisch vorhandene Jetzt-Zeit. Es braucht keine Vorstellungskraft, weil man sofort nicht nur im Bild, sondern mittendrin ist. Man ist das nicht im Text erwähnte weitere Familienmitglied. Glänzend!“ (Willy Wimmer)

Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Er hat mehr als 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlich. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag in Frankfurt am Main das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“.

Siehe auch KenFM im Gespräch: https://kenfm.de/wolfgang-bittner/

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