Die GroKo, die Krise der SPD und ein Ausbruch aus dem Fraktionsschatten

Denk- und Handlungsverbote, die zu politischer Erstarrung führen.

Ein Kommentar von Wolfgang Bittner.

Wie sieht es in der SPD nach der Mitgliederbefragung über die Große Koalition und nach der Regierungsbildung aus? Die starke 1/3-Minderheit mit ihren Nein-Stimmen hat in der SPD ganz offensichtlich mehr als einen Achtungserfolg erzielt. Denn die Wahlkreisabgeordneten wissen aus Gesprächen und Konferenzen ganz genau, dass viele Mitglieder sich zu einem „Ja“ keineswegs aus innerer Überzeugung, sondern nur unter dem massiven Druck des Vorstands und aus Angst vor den von ihm und zahlreichen Medien beschworenen chaotischen Folgen eines „Nein“ entschlossen haben. Die Krise der SPD ist damit also keineswegs beendet. Ihre Ursachen liegen viel tiefer (dazu Albrecht Müller: http://www.nachdenkseiten.de/?p=41876) und sie werden durch die Mechanismen des Koalitionsvertrages https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/download-koalitionsvertrag-quelle-spd-100-downloadFile.pdf noch verstärkt, der den politischen Streit, den argumentativen und rhetorischen Schlagabtausch in Grundsatzfragen und den Kampf um Mehrheiten im Parlament ersetzt durch einen überparteilichen Konsens (von CDU/CSU und SPD), der – wie ein Dienst- oder Werkvertrag – der Verwirklichung gegenseitig geschuldeter, nicht mehr hinterfragbarer Pflichten dient.

Über diesem deformierten parlamentarischen Geschehen, das als „üblich“ angesehen wird, aber eher einem Marionettentheater gleicht, schweben, wie überparteiliche und unpolitische Makler oder Notare mit dem Koalitionsvertrag in Händen, die Kanzlerin und der Bundespräsident. Übrigens findet sich in diesem „Vertrag“ am Ende eine politisch weitreichende Klausel, über die bisher öffentlich kaum ein Wort verloren worden ist. (Siehe dazu Wolfgang Bittner bei cashkurs.de: https://www.cashkurs.com/hintergrundinfos/beitrag/koalitionsvertrag-eine-zementierung-der-macht/)

Sie lautet: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen. Über das Verfahren und die Arbeit im Parlament wird Einvernehmen zwischen den Koalitionsfraktionen hergestellt. Anträge und Gesetzesinitiativen auf Fraktionsebene werden gemeinsam oder im Ausnahmefall, im gegenseitigen Einvernehmen, eingebracht. Die Koalitionsfraktionen werden darüber eine Vereinbarung treffen (…) Im Kabinett wird in Fragen, die für einen Koalitionspartner von grundsätzlicher Bedeutung sind, keine Seite überstimmt.“ (Im Koalitionsvertrag unter „Arbeitsweise der Regierung und Fraktionen“, Kapitel XIV, 3 und 4)

Politische Erstarrung vorprogrammiert

Das hat schwerwiegende Folgen: Keine der Koalitionsparteien darf eigene Initiativen ergreifen oder Gesetzesvorlagen ins Parlament einbringen, ohne die Zustimmung des Vertragspartners eingeholt zu haben. Beide Seiten verpflichten sich, keine Initiative einer anderen Fraktion zu unterstützen und in allen Gremien gemeinsam abzustimmen. Diese Klausel verpflichtet die Koalitionäre also zur absoluten Koalitionsräson, die durch Denk- und Handlungsverbote jede über den Koalitionsvertrag oder diese Wahlperiode hinausgehende Entwicklung unterbindet: eine Zementierung von Macht, die mit politischer Erstarrung erkauft wird.

Dies alles wird der AfD als Opposition von den „Altparteien“ wie ein gefundenes Fressen auf dem Silbertablett präsentiert, und wenn sie sich gesammelt hat, wird sie als Antwort darauf eine politisch-parlamentarische Melodie vorspielen, die uns die Ohren klingen lassen wird. Immerhin: Das gäbe dann Bewegung in diesem Theater, wenn auch mit ungewissem Ausgang. Besser wäre es, wenn aus der SPD-Basis heraus oder auch von der LINKEN ein eindeutig sozial- und friedenspolitisches Programm entwickelt würde, mit dem die sich anbahnende Erstarrung gesprengt werden könnte. Die bisherigen Geplänkel um Hartz IV, Schwangerschaftsabbruch oder die Abschiebepraxis lenken nur von den essenziellen Themen ab, mit denen es sich zu beschäftigen gälte.

Aber wo ist in den Parteien eine Avantgarde in Sicht? Wo ist von wirklich weiterführenden Ideen zu hören? Die SPD mit Schulz und Nahles hat auf ganzer Linie versagt. Die Jusos haben sich mit ihrem Vorsitzenden Kevin Kühnert als bedeutungslos erwiesen und Politiker mit programmatischen Vorstellungen wie Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine werden als „Außenseiter“ in ihrer Partei gemobbt.

Ausbruch aus dem Fraktionsschatten

Da ist es geradezu ein Hoffnungsstrahl, wenn sich der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki aus dem Fraktionsschatten heraustraut. Er hat kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk http://www.deutschlandfunk.de/interview-der-woche-kubicki-bundesregierung-soll-auf.868.de.html?dram:article_id=413346 vor einer weiteren Eskalation des West-Ost-Konflikts gewarnt, für eine Wiederannäherung an Russland und eine „Freihandelszone von Wladiwostok bis Vancouver“ plädiert sowie zur Affäre um den vergifteten Doppelagenten Skripal gesagt: „Niemand weiß wirklich, wo das Gift herkommt. Es ist ja in einem Labor erzeugt worden, das in Usbekistan stand, (…) das aufgelöst worden ist von unseren amerikanischen Freunden. Also, wenn wir nicht genau wissen, was passiert ist und was abgelaufen ist, sollte man mit Schuldzuweisungen vorsichtig sein.“

Des Weiteren befürwortete er den Bau der Pipeline Nordstream 2, welchen die USA mit allen Mitteln zu verhindern suchen: „Ich halte Nord Stream 2 für sehr klug, weil es ein Teil unserer Gasversorgung sicherstellt und auch da sage ich mal, dass amerikanische Senatoren, 39 an der Zahl, die aus Fracking-Staaten kommen und dafür werben, dass das amerikanische Gas in Europa verarbeitet werden soll, kann ich nachvollziehen, aber das zu verbinden mit politischen Angriffen, politischen Sanktionen, halte ich für unlauter.“

Die Politik der NATO kritisierte Kubicki mit scharfen Worten: „Wir sollten zunächst einmal vor der eigenen Haustür kehren“, die NATO brauche wieder einen Feind, um ihre Existenz und höhere Rüstungsausgaben zu rechtfertigen. Zum Krieg der Türkei um Afrin erklärte Kubicki: „Ich höre nichts von unseren NATO-Partnern aus den USA, aus Frankreich, aus Großbritannien, ich höre nichts von der Bundesregierung, dass wir das nicht akzeptieren werden, dass hier ein fremdes Staatsgebiet annektiert wird, dass wir es nicht akzeptieren, dass Krankenhäuser bombardiert werden.“

Das alles ist (durch alternative Medien) informierten Zeitgenossen geläufig. Bekannt ist auch, dass Wolfgang Kubicki ein Vertreter neoliberaler Politik ist und Auslandseinsätzen der Bundeswehr zumindest nicht ablehnend gegenübersteht. Das tut seiner Stellungnahme aber keinen Abbruch. Was sie so außerordentlich wichtig macht, ist die Tatsache, dass ein weitaus überwiegender Teil der durch die sogenannten Qualitätsmedien indoktrinierten Bevölkerung von allem nichts weiß oder es nichts glaubt. Jetzt sagt es ein namhafter Politiker. Es sind offene und an Fakten orientierte Worte, wie wir sie sonst allenfalls von Sahra Wagenknecht oder Oskar Lafontaine hören.

Aber warum trauen sich nicht mehr Politiker, Einfluss auf das unverantwortliche Berliner Geschehen zu nehmen? Wir warten!

Der Schriftsteller und Publizist Dr. jur. Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. 2017 erschien von ihm im Westend Verlag eine überarbeitete und um 111 Seiten erweiterte Neuausgabe seines Buches „Die Eroberung Europas durch die USA“.

Siehe auch: KenFM im Gespräch mit Wolfgang Bittner

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