Die Gegenwart ist wirklich und unwirklich zugleich

Auszug aus dem Roman „Niemandsland“

Von Wolfgang Bittner.

Die Vergangenheit ist unabweisbar. Sie beeinflusst unser Denken und Handeln in weitaus größerem Maße, als wir uns bewusst zu machen vermögen. Keine Handlung, kein Verhalten ist ohne Folgen. Was war, hat in uns gewirkt, Wurzeln geschlagen, uns geprägt. Und was auf uns zutrifft, gilt in gleicher Weise für die sozialen Verhältnisse, in denen wir uns befinden. In den vergangenen Tagen habe ich mir ins Gedächtnis zurückgerufen, wie ich als Jugendlicher aufwuchs und in eine Arbeitswelt hineingeriet, die mich im Rückblick fast so unwirklich anmutet, wie Szenen aus Franz Kafkas Romanen.

Die Menschen auf dem Lande erschienen dem Fremden ruhig, bedächtig und zurückhaltend, aber nicht unfreundlich, zwar ungebildet, aber nicht dumm. Die Landschaft war eindrucksvoll in ihrer Weite und Natürlichkeit. Grüne Marsch, oder Wallhecken und Gebüschgruppen, kilometerweit, ohne Dach und Schornstein. Hinter dem Wald das vor Sonnenhitze flimmernde Moor bis an den Horizont. Damals gab es noch nicht in jedem Haus einen Fernseher, der heute die Bewohner der entlegensten Gebiete mehr und einheitlicher prägt, als es Klima und Landschaft je vermochten. Nicht im Dorfkrug, aber auf einer Bank neben der Haustür oder auf einer Schleusenmauer am Kanal traf man noch in den fünfziger Jahren Menschen an, die, obwohl sie weder lesen noch schreiben konnten, über mehr zu berichten wussten, als über das Ergebnis des letzten Fußballspiels.

Will man sich einen knappen Überblick über die Infrastruktur jener Gegend und die Mentalität ihrer Bewohner verschaffen, ergeben wenige statistische Zahlen ein ziemlich genaues Bild. Bei der Volkszählung im Jahre 1804 lebten im gesamten Landkreis etwa 23.000 Menschen. 1933 waren es 42.589 und 1949, trotz des Krieges, sogar 63.069, darunter 16.500 Heimatvertriebene. Bei der Kreisverwaltung waren vor dem zweiten Weltkrieg 31 Personen beschäftigt, 1956 waren es 206 und 1976 zählte man 452. 1933 errangen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und die Deutschnationale Volkspartei zusammen einen Stimmanteil von 85,6 Prozent. 1949 hatte die FDP im Kreistag 18 Sitze, die SPD 13, die CDU 2; ab 1964 besaß dann die CDU die Mehrheit. Das, was allgemein als gesellschaftlicher Fortschritt bezeichnet wird, lässt sich aus der Statistik nicht ablesen – es ist überhaupt fraglich, worin dieser Fortschritt bestehen soll. Denn die Arbeitslosigkeit liegt in jener Gegend heute bei 25 bis 35 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. (…)

Manchmal sehe ich den Richter, der das Todesurteil des Pfarrers Dietrich Bonhoeffer noch im April 1945 vollstrecken ließ, auf einem Fahrrad über die zerbombte Landstraße nach Flossenbürg ins KZ fahren. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren schon nicht mehr in Betrieb. Aber das Todesurteil durfte ohne die Unterschrift des Richters nicht vollstreckt werden, deshalb mühte er sich auf dem Fahrrad ab, so dass Dietrich Bonhoeffer doch noch gehenkt werden konnte. Wenige Stunden später waren schon die Amerikaner da. Und ich würde gern wissen wollen, was aus diesem Richter geworden ist, dem seine Amtspflicht allem vorging. Wahrscheinlich hat auch er bald nach Kriegsende wieder irgendwo trocken und ohne Gewissensbisse in einem Amt gesessen. (…)

Die Gegenwart ist wirklich und unwirklich zugleich. In ihr handeln, atmen, träumen, erinnern und planen wir. Das alles. Lebt besser, wer nicht erinnert, was war? Oder kann man sagen: es komme darauf an, das Wesentliche zu erfassen und das Unwesentliche beiseite zu lassen? Aber was ist das und wie diese Zerklüftungen erschließen? »Der Dinge, die am meisten fürs Vergessen geeignet sind«, sagt Gracian in seinem Handorakel, »erinnern wir uns am besten. Das Gedächtnis ist nicht allein widerspenstig, indem es uns verlässt, wenn wir es am meisten brauchen, sondern auch töricht, indem es herangelaufen kommt, wenn es gar nicht passt.« Die unabweisbare Durchdringung des Wirklichen durch das Unwirkliche, diese Verwirrung, die uns den Blick verstellt. Unser Unvermögen, einfach den ganzen Gedankenschutt beiseitezuschieben, aufzuräumen damit, hindurchzugehen mit kindlichen Augen, als läge vor uns noch ein unberührtes Leben. Als seien wir aus einem bedrohlichen Traum erwacht und öffneten eine Tür nach draußen. Ins wirkliche Leben.

Aus: Wolfgang Bittner, Niemandsland, Roman, Forum Verlag, Leipzig 1992, Neuausgabe: Allitera Verlag, München 2000.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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Bildhinweis:   TeerapongPromnam / shutterstock

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