Die Gedanken der Herrschenden und der Streit über die Flüchtlingspolitik

von Bernhard Trautvetter.

Die CSU und andere Kräfte lenken mit ihrer Diskussion gegen Flüchtlinge davon ab, dass sie keine Lösungen für die Probleme der Gegenwart haben. Da kommen Sündenböcke als willkommene Ablenkungshilfen. Das ist gefährlich, da es die Existenz und die Tiefe der Zukunftsgefährdungen manifestiert und verschlimmert.

Grenzen in Europa auszubauen, sodass sie trennen, das widerspricht dem Vertrag zur >Herstellung der Einheit Deutschlands<. Seine Vorgabe ist das Ziel einer „europäischen Friedensordnung…, in der Grenzen nicht mehr trennen“. Dagegen verstoßen alle, die sich für Abschottung, Kontrollen und Unmenschlichkeit einsetzen. Der Bundesinnenminister und seine Partei sowie weitere rechte Kräfte reden einem Vertragsbruch das Wort.

Die Diskussion über Flüchtlinge wird von ganz rechts bis in die Linke durch die Aussagen der Mainstream-Meinungsmache in unterschiedlicher Form und Schärfe überdominiert: Deutschland sei überfordert – zum einen durch die Kosten,
zum anderen durch die an der Kriminalitätsentwicklung ablesbaren Integrationsprobleme.
Aussagen zu den beiden Punkten hören sich in etwa so an:

1. Die erste Aussage, derzufolge Deutschland durch die Flüchtlinge finanziell überfordert ist, findet man u.a. in einem Focus-Interview mit dem Verfassungsrechtler Rupert Scholz: “Wenn die Migranten heute den Staat zwischen 25 und 50 Milliarden Euro kosten, und das bleibt so über zehn, 20, möglicherweise noch mehr Jahre, dann ist die Frage der Belastbarkeit des Sozialstaats durchaus aktuell.” (1)

2. Zu den finanziellen Folgen der Flüchtlingspolitik veröffentlichte das Bundesfinanzministerium im Mai 2014 die Berechnung, dass der Bund knapp 100 Mrd. Euro für die veranschlagt. (2)

Richtigstellung durch genaue Analyse

zu 1.: Die Kriminalitätsquote ist nicht genuin durch genetische Flüchtlingseigenschaften zu beeinflussen. Der Kriminologe Christian Pfeiffer stellt die Probleme von Flüchtlingen und deren Anteil an Veränderungen der Kriminalitätsquote in einen wissenschaftlichen Kontext, der Faktoren der Lebenssituation berücksichtigt: “Wer arbeitslos und sozial nicht integriert ist, werde eher kriminell, sagte der ehemalige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen: ‘Wenn diese Faktoren auf Deutsche zutreffen, steigt auch bei ihnen das Kriminalitätsrisiko.’“(3)

Der Bundesinnenminister stellte im April 2017 fest: “Durch die Zuwanderung von Flüchtlingen ist zwar die Einwohnerzahl gestiegen, doch zu mehr Kriminalität in Deutschland hat das in der Summe nicht geführt. Mit rund 6,37 Millionen Fällen im vergangenen Jahr ist die Gesamtzahl der Straftaten im Vergleich zu 2015 nahezu gleich geblieben. … Bei 80 Prozent der Fälle, in denen ein Zuwanderer Opfer einer Gewalttat wird, ist der Angreifer ebenfalls ein Zuwanderer. Das spricht dafür, dass die beengte Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften ebenfalls eine Rolle spielen dürfte. … Der Statistik zufolge ist bei Gewaltdelikten … auch die Zahl der deutschen Tatverdächtigen angestiegen. Deshalb beklagt de Maizière ganz generell ‘die Verrohung in unserer Gesellschaft’. Dabei handele es sich jedoch um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das nicht allein von Polizei und Justiz bekämpft werden könne. ‘Alle Teile der Gesellschaft sind hier gefragt.’ ” (4)

Hinzu kommt, dass Inhaber der deutschen Staatsangehörigkeit keine Möglichkeit haben, gegen bestimmte Gesetze zu verstoßen, nämlich gegen die für oder gegen Ausländer geschaffenen Gesetze; das erhöht die Quote von Gesetzesverstößen auf Seiten ausländischer Bürger.5)

Diebstahls- und Täuschungs – Verbrechen

zu 2.: Es fällt auf, dass die Mainstream-Medien die Milliarden-Last durch Steuer-Kriminalität nicht in gleicher Weise wie die Kosten der Flüchtlingspolitik skandalisieren und im Bewusstsein behalten. Dadurch verliert das Verbrechen Superreicher in der öffentlichen Meinungsmache gegenüber der Diskussion über die Kosten der Flüchtlingspolitik an Wertigkeit. Es geht unter anderem um über 30 Mrd. Euro, die dem Staat durch sogenannte Cum-Ex-Täuschungsmanöver entzogen wurden und die dann in private Bereicherungskanäle flossen. (6)

Hinzu kommen weit über 100 Milliarden Steuerbetrugsverluste durch die Verbrechen im Zusammenhang mit den sog. Paradise- und Panama-Papieren. – Beleg:”Den EU-Staaten entgeht ein Fünftel ihrer Einnahmen aus Unternehmensteuern durch Steuertricks, hat Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman errechnet. … Deutschland verliert demnach von allen untersuchten Ländern am meisten Geld durch die Nutzung von Steueroasen. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer könnten demnach 32 Prozent höher liegen als bisher. … Rund eineinhalb Jahre nach den >Panama Papers< waren durch ein neues Datenleck … die Steuertricks von Politikern, Konzernen und Superreichen in aller Welt offengelegt worden. Die >Paradise Papers< zeigen unter anderem, wie … Nike mithilfe der Kanzlei Appleby bei der Steuervermeidung vorgeht … Zucman sieht in dem System auch ein grundsätzliches Problem: Steueroasen befeuerten die Ungleichheit in der Welt, weil die Reichsten Milliarden vor den Finanzämtern versteckten. ‘Nur vermögende Menschen können es sich leisten, Steuern aufwändig zu vermeiden’, sagte Zucman der >SZ<. Der Gegenwert von zehn Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts wird nach seinen Berechnungen von Superreichen in Steueroasen geparkt.Den Schaden tragen die Normalverdiener, wie Zucman sagte: ‘Werden den Industrienationen Abgaben entzogen, müssen diese die Mittel anderswo besorgen.’ ” (7)

Diese Beträge sind Summen aufgrund von Gesetzesverstößen. Hinzu kommt die legale Form von Bereicherung durch Gesetze und ökonomische Strukturen, die die Interessen der Kapitalklasse einseitig begünstigt. Diese stehen oft im Widerspruch zu Artikel 14 Grundgesetz, in dessen Absatz 2 ein Kapitalismus-fremder Anspruch an Reichtum formuliert steht: “Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.”

Zu den bisherigen Kapitalverbrechen und den immensen Summen kommen aber auch noch die Milliarden, die für die verlogen begründeten Militärkosten: Russland, dessen Militärtetat sich auf circa 70 Milliarden Euro beläuft(8), wird als Legitimationsmärchen für die Nato missbraucht, die Militärausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern. Die Nato gibt derzeit circa 14 Mal mehr für ihr Militär aus, als es Russland tut. Schon diese Zahlenkonstellation ist ein Skandal. Ein Folgeskandal besteht darin, wie die Menschen in den Nato-Staaten und in ihren Bündnis-Staaten gehirngewaschen werden, dies geschehen zu lassen, ohne entsprechend auf die Barrikaden zu gehen, da die Folgen schon kurzfristig intolerabel sind. Für Deutschland würde das bedeuten, Jahr für Jahr an die 80 Milliarden Euro für Waffen, Soldaten und Kriege zu verbrennen. Hinzu kommen die immer weiter steigenden Kosten für die EU-Militarisierung: Da der EU-Haushalt Käufe von Waffen verbietet, schlägt die EU-Kommission eine >Europäische Friedens-faszilität< mit einem separaten Budget von weit über 10 Milliarden Eure vor.(9)

In der Militärpolitik inklusive der Militärausgaben ist auch die AfD auf einer Linie, die sie für andere Nato-Parteien anschlussfähig macht: “Im Einklang mit den langjährigen Forderungen der USA nach einer gerechten Verteilung der Lasten und den europäischen Bestrebungen nach mehr Mitsprache in der NATO ist es nur folgerichtig und in deutschem Interesse, den europäischen Einfluss in der NATO zu stärken. Die NATO muss wieder ein reines Verteidigungsbündnis werden. Die Landesverteidigung ist durch die europäischen Staaten weitgehend eigenständig zu gewährleisten. … Die deutschen Streitkräfte sind so zu reformieren, dass deren Einsatzbereitschaft auch bei Einsätzen mit höchster Intensität gewährleistet ist. Dazu sind umfangreiche strukturelle, personelle und materielle Veränderungen unabdingbar.”(10)

Wer sich Einsätze für die Bundeswehr im Sinne der Verteidigung vorbehalten will, muss wissen, dass sich Krieg im dicht-besiedelten und hoch-industrialisierten Europa aus dem Überlebensinteresse aller Völker verbietet, schon wegen der Atomanlagen vor Ort. Mehr noch, wenn die Bundesregierung ihre Klimaziele verfehlt, wenn die Sozialkassen überfordert sind, wenn es an Wohnungen und gut ausgestatteten Kindertageseinrichtungen, Altenheimen und Schulen fehlt, dann ist hier der erstrangige Zusammenhang und nicht bei der als Ablenkungsinstrument benutzten Flüchtlingsfrage, die zudem ein vorrangiges Ergebnis der Kriegs- und der Klima-Politik ist.

Den Zusammenbruch abwenden

Es ist alles in allem ein nicht zu tolerierendes Defizit der alternativen Kräfte, diese finanziellen Verbrechen, Ungerechtigkeiten sowie die militärpolitischen Abenteuerstrategien bisher nicht mit der gebotenen Deutlichkeit und Nachdrücklichkeit in den öffentlichen Diskurs eingebracht zu haben. Das muss sich ändern; in anderen Worten: Das müssen wir ändern. Dieses Versäumnis trägt auch mit dazu bei, dass die Gedanken der Herrschenden es einfacher haben, die herrschenden Gedanken zu sein und die Menschen mit der Flüchtlingsdebatte in den Irrtum zu versetzen, dies sei die wichtigste Frage der Politik, die alle Zukunfts-Herausforderungen im sozialen, ökologischen, militärischen und ökonomischen Kontext in den Schatten stellt.

Um dies aufzubrechen brauchen wir neben dem Engagement jedes Einzelnen ein Zusammengehen der Umwelt-, Friedens-, Menschenrechts- und antikapitalistischen/ globalisierungskritischen Bewegungen und Kräfte, was sicher weit über Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung hinaus geht. Wohl gemerkt: In der hier entwickelten Kritik an der Art und Weise, wie der öffentliche Diskurs zur Flüchtlingsfrage gestaltet wird, ist keine Position zugunsten der Bundeskanzlerin enthalten, deren Politik keinesfalls die Probleme im Zusammenhang mit den Zukunfts-Herausforderungen unserer Gesellschaften angeht. Zugleich entzieht sich diese Analyse der oberflächlichen und dadurch fehlleitenden Kritik an der Flüchtlingspolitik unter dem Stichwort ‘Willkommenskultur’, wie sie v.a. von den Rechten eingebracht wird.

Auch die Bestrebungen auf Seiten der Kapitaleigner, mit billigen Arbeitskräften die Löhne weiter zu drücken, müssen mehr Gegenwehr aus den Gewerkschaften erfahren. Deutschland hat nach osteuropäischen Staaten und Zypern einen skandalös miserablen Rang sechs von siebenundzwanzig EU-Staaten. Die dadurch bedingten Existenzunsicherheiten bedingen Angst, Panik, und strukturelle Gewalt öffnet Emotionen für Sündenbock-Propagandisten, die ihrem Nationalismus als Ersatz-Identität für entwurzelte Bürger und für Bürger mit Abstiegsangst Unterstützung suchen und derzeit erfolgreich finden.

Den Titanic-Effekt engagiert abwenden

Eine Politik nach dem Motto “Deutschland …”, “Amerika …”, England …”, Polen …” oder “Ungarn first” (zuerst) … lässt sich mit einer Familie vergleichen, die auf einem Kreuzfahrtschiff akribisch alleine darauf achtet, dass sie die schönste und beste Kajüte hat, ohne sich darum zu scheren, ob das Schiff als schwimmendes Hotel mit hunderten Passagieren sicher am Zielort ankommen wird oder nicht. Wenn dann das Schiff untergeht, weil jede/r nur an sich denkt, dann ist das die Logik eines Bumerangs, der zum Werfer zurückkommt, mit umso mehr Wucht, wenn der Werfer ihn mit großer Wucht geworfen hat.
Es ist – wie wir gesehen haben – nicht der Konflikt zwischen verschiedenen entrechteten unteren Schichten der Gesellschaften, wie man uns weiß machen will. Es ist der Konflikt zwischen Unten und Oben – wie seit Anbeginn in allen Klassengesellschaften.
Die Diskussion muss vom Kopf auf die Füße kommen: Die Superreichen, die immer weniger werden, reiben sich die Hände, wenn die in ihrer finanziellen Existenzgrundlage Gefährdeten und die Armen für einen Abwehrkampf gegen die ganz Armen gewonnen werden. Solange diese Sündenbock-Strategie funktioniert, bleiben sie an den Schalthebeln der ökonomischen und politischen Macht bis das System an seinen inneren Widersprüchen implodiert. Das wird sich erst ändern, wenn sich – wie in der französischen Revolution – die unteren Stände gemeinsam mit dem mittleren Bereich der Gesellschaft gegen das eine Prozent ganz oben aufbäumen. Das Beginnt mit der Aufklärung über die wahren Ursachen öffentlicher Einsparprogramme und mit dem Vernetzen von Menschen, die sich in unterschiedlichen Spektren organisieren. Ohne Letzteres bleibt alles beim Alten.

Dann gilt ein Satz in Anlehnung an Erich Fried: “Wer meint, alles bleibt sowieso wie es ist, und wer deshalb in den Lauf der Dinge nicht aktiv eingreift, braucht sich am Ende nicht wundern, wenn es zu einem abrupten Abbruch des Zusammenlebens kommt. Schlimmstenfalls zu einem Abbruch des Lebens überhaupt.”

Quellen

  1. https://www.focus.de/politik/deutschland/rupert-scholz-staatsrechtler-scholz-fordert-tiefgreifende-asylrechts-reform_id_8862367.html
  2.  https://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-05/fluechtlinge-kosten-bund-ausgaben-2020
  3. http://www.taz.de/!5364667/
  4. https://www.rundschau-online.de/26759648
  5. https://www.anwalt.de/rechtsanwalt/auslaenderrecht_und_asylrecht.php
  6. https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-06/cum-ex-geschaefte-steuerhinterziehung-banken-aktien
  7. https://diepresse.com/home/ausland/eu/5315777/Paradise-Papers_Steueroasen-kosten-EUStaaten-60-Milliarden-Euro
  8. http://www.sabine-loesing.de/de/article/582.flyer-nato-aufmarsch-gegen-russland.html
  9. https://www.jungewelt.de/2018/06-14
  10. https://www.afd.de/wp-content/uploads/sites/111/2017/06/2017-06-01_AfD-Bundestagswahlprogramm_Onlinefassung.pdf

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