Die Freiheit, die sie meinen – Ein Interview

Der Neoliberalismus immunisiert sich nicht nur gegen Kritik, er assimiliert sie und verkehrt sie in ihr Gegenteil. Der Begriff der Freiheit etwa ist längst schon unter die Räder gekommen – und jene, die heute noch nach Freiheit rufen, fordern damit in aller Regel die eigene Unterwerfung unter Fremdbestimmung und Markt. Ein Schlaglicht hinter die verantwortlichen Kulissen der Macht wirft nun der Autor und Publizist Werner Rügemer, der mit seinem neuesten Buch eine Art „Geschichtsschreibung von unten“ vorlegt, welche die materielle Realität hinter dem Nebel der alltäglichen Propaganda zurück ins Licht bringt.

Jens Wernicke sprach mit ihm.

 

Wernicke: Herr Rügemer, soeben erschien Ihr neues Buch „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet“, das Sie selbst als „Kontrapunkt gegen professionelle Vergessensproduktion und machtgestützte Desinformation“ verstehen. Gegen welche Vergessensproduktion und Desinformation schreiben Sie an? Worum geht es genau?

Rügemer: In dem Buch habe ich Veröffentlichungen aus den letzten drei Jahrzehnten und aus verschiedensten, auch abgelegenen Medien zusammengestellt. Ich habe zum Beispiel das Schüren der Fremdenangst aufgegriffen, als der christdemokratische Ministerpräsident Sachsens, ein gewisser Kurt Biedenkopf, schon 1990 von braunhäutigen, knüppelschwingenden Turbanträgern faselte, die massenhaft in deutsche Gärten eindringen und Feuer legen. Das hat damals kein Leitmedium und kein Politiker der auch heute regierenden Parteien kritisiert, die heute die verwandten Parolen von Pegida anprangern und so tun, als wären diese Haltungen vom Himmel gefallen.

In den 1990er Jahren habe ich über Montagsdemos Dutzender Bürgerinitiativen in Sachsen berichtet, die sich gegen die Privatisierung von Wasser und Abwasser richteten, aber von der Biedenkopf-Regierung niedergemacht und von den westlichen Leitmedien und den führenden Politikern missachtet und verschwiegen wurden.

Ich habe die Finanzoase Luxemburg durchstreift und Gespräche mit dortigen Bank-Direktoren, etwa der Deutschen Bank, veröffentlicht, die offen und stolz vom „kurzen Draht“ zur großherzoglichen Puppenregierung gesprochen haben. Solche Informationen, auch anderer Autoren, wurden dann allerdings politisch und medial untergepflügt, sodass heute Veröffentlichungen wie „LuxLeaks“ als überraschender Skandal erscheinen. Aber es nützt eben wenig, wenn unsereins im WDR oder Deutschlandfunk etwas unterbringen konnte, das dann nicht von anderen aufgegriffen wurde. Auch deshalb habe ich dieses Buch gemacht.

W: Im Buchtitel heißt es „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet“ – um welche besondere Freiheit geht es?

R: Der Titel geht auf eine Sendung im WDR zurück, die ich mit dem Kollegen Heinz Thoma 1986 zur Hundertjahrfeier der New Yorker Freiheitsstatue gemacht habe. Wir haben die ziemlich unbekannte Geschichte und Symbolik der Statue dargestellt. Sie wurde in der französischen Bourgeoisie konzipiert, nachdem sie sich 1870 Preußen unterwerfen musste. Man suchte Halt in den USA. Hergestellt wurde die Statue in Paris vom französischen Bildhauer Bartholdi und vom Stahlunternehmer Eiffel und 1886 über den Atlantik verschifft. Aber die US-Regierung hat ein Jahrzehnt gezögert, das Geschenk anzunehmen. Sie verschleierte die französische Herkunft und verlegte die Jubiläen weg vom ursprünglichen Eröffnungstermin am 28. Oktober auf den US-Unabhängigkeitstag am 4. Juli.

Und auch die Symbolik wurde auf die US-Freiheitsauffassung getrimmt. Keine der damaligen Freiheitsbewegungen spiegelt sich in der Statue wider, auch nicht die damalige Sklavenbefreiung in den USA und anderen Staaten. Die Statue ist vielmehr nach dem Vorbild des römischen Imperialismus eine vermännlichte Frau, mit Helm und sieben Helmstrahlen, die den Anspruch auf die sieben Kontinente symbolisieren – Arktis und Antarktis wurden schon weitsichtig mitgezählt. In der linken Hand hält die Statue zwar die US-Unabhängigkeitserklärung, in der allerdings das Recht auf Sklavenhaltung zu den Menschenrechten zählte. Nur ein winziger Abglanz konkreter Befreiung findet sich in Gestalt einiger zerbrochener Kettenglieder, die aber flach zu Füßen der Statue auf dem Podest liegen. Die hoffnungsvoll einwandernden Arbeiter und Bauern aus Europa konnten so zwar bei ihrer Einfahrt im New Yorker Hafen die Statue bewundern, aber die zerbrochenen Ketten konnten sie nicht sehen. Sollten sie auch nicht, denn streikende Arbeiter wurden im Land dieser Freiheit damals gnadenlos massakriert, befreite Sklaven wurden gelyncht.

Während der aufwendigen Vorbereitung des 100jährigen Jubiläums der Statue 1986 setzte der damalige US-Präsident Ronald Reagan das Star-Wars-Programm SDI in Gang. Es hätte den Schauplatz des möglichen Atomkriegs gegen die Sowjetunion auf Mitteleuropa verlegt. Bitte erlauben Sie mir, den Schlussabsatz unserer Sendung zu zitieren, die der WDR am Vortag der 100-Jahrfeier ausstrahlte: „Gegen den Faschismus hatte sich eine Koalition der Vernunft und des Friedens gebildet, der auch die USA und die Sowjetunion angehörten. Eine solche Koalition ist heute ganz neu zu entwickeln, damit nicht ein Atomblitz die Welt im Namen der Freiheit – der einen, besonderen Freiheit – ein letztes Mal erleuchtet.“ Um diese „Freiheit“ und die Kritik an ihr geht es in meinem Buch.

W: Diese besondere Freiheit hat sicherlich weitere Facetten. Welche sind das genau?

R: Ich kann hier nur einige Beispiele nennen. Wenn wir erstmal bei der Freiheitsstatue bleiben: Reagan berief Lee Iacocca zum Präsidenten der Vorbereitungskommission für die 100-Jahrfeier. Iacocca galt damals als erfolgreichster US-Manager: Als Chef von Chrysler hatte er sich für die Sanierung des Autokonzerns zwei Milliarden Dollar Subventionen vom Staat geholt und 200.000 Arbeiter entlassen. Und derlei Freiheit für die sozialschädliche Selbstbereicherung der großen kapitalistischen Privateigentümer ist von der Absicht her grenzenlos.

Daran arbeiten neben dem Gesetzgeber heute auch Kapitalarrangeure wie Blackrock, „Wirtschaftsprüfer“ wie Price Waterhouse Coopers, Unternehmensberater wie McKinsey, Wirtschaftskanzleien wie Freshfields, Ratingagenturen wie Standard & Poor‘s, Lobbyisten wie die US-Handelskammer in Washington, Brüssel und Berlin, PR-Agenturen wie Burson Marsteller, Stiftungen wie die Ford und Gates Foundations. Bei diesen Abteilungen der zivilen Privatarmee der transnationalen kapitalistischen Klasse sind US-Akteure weltweit führend. Ein Dutzend US-Wirtschaftskanzleien beispielsweise dominieren die internationale private Schiedsgerichtsbarkeit.

W: Sie haben in Ihrem Buch Sittenbilder zusammengestellt – was ist darunter zu verstehen?

R: Ich habe mich immer wieder vom Publizisten Heinrich Heine inspirieren lassen. Er hat als Pariser Korrespondent für die Augsburger Allgemeine Zeitung im Verlag Cotta gearbeitet. Er hat Mitte des 19. Jahrhunderts im kapitalistisch entfesselten Paris Sittenbilder verfasst, die er in seinem letzten Buch „Lutetia“ zusammengefasst hat – bis heute ziemlich unbekannt, auch unter Linken.

Dabei geht es etwa über den angehimmelten Bankier Rothschild, über die Arbeiter in einer Lokomotivfabrik und über die Seelenqualen von Aktionären, die sich verspekuliert hatten. Ich habe 1984 das Leben und Arbeiten eines US-Gewerkschafters in Silicon Valley geschildert, der sich für illegale philippinische Migranten einsetzte; 2001 habe ich die üblichen betrügerisch-legalen Bilanztricks geschildert, mit denen der Energiekonzern Enron, Sponsor des US-Präsidenten George W. Bush, kurz vor dem Attentat auf das New Yorker World Trade Center bankrottging – Bush zitterte übrigens, ob seine engen Beziehungen zum Enron-Chef Lay bekannt würden. Aber das ging im Attentat unter.

W: Aber Sie bringen ja, wie es im Untertitel heißt, transatlantische Sittenbilder?

R: Das bedeutet zweierlei.

Zum einen habe ich Sittenbilder auch über Verhältnisse diesseits des Atlantiks verfasst, in Europa, in Deutschland und auch in meiner zufälligen Wahlheimat Köln, etwa eine Marienmesse mit dem Kölner Kardinal und Erzbischof Meisner in der bürgerlich vollbesetzten Kölner Kirche Sankt Pantaleon, die in der Hand des Opus Dei ist. Oder die schon erwähnte Reportage über das Bankiersmilieu in Luxemburg, die übrigens den Titel hat „Mausebär und Schneewittchen im Großherzogtum“. Oder der Besuch einer Lesung der damaligen Frauenkitsch-Erfolgsautorin Hera Lind, um die sich auch ARD und ZDF bemühten. Oder die Begegnungen mit einem Pfandflaschensammler und einer verzweifelten Austrägerin kostenloser Anzeigenblätter.

Zum anderen bedeutet transatlantisch, wie mit der zivilen Privatarmee des transnationalen Kapitalismus schon angedeutet: Die enge Zusammenarbeit der gewählten und vor allem ungewählten Eliten beiderseits des Atlantiks, auch wenn diese Zusammenarbeit nicht unbedingt eine gleichberechtigte ist.

W: Zum Beispiel?

Ab 1998 habe ich das Wall Street-Finanzprodukt Cross Border Leasing erkundet. US-Banken haben zusammen mit britischen, schweizer und deutschen Banken milliardenschwere Kreditkarussells in Gang gesetzt. Die Infrastruktur westeuropäischer Städte und Staaten – Straßen- und Fernbahnen, Kanalisationen, Kraft- und Wasserwerke, Messehallen, Flugsicherungen, auch Schul- und Krankenhauskomplexe – wurden als Sicherheit eingesetzt, Städte, Regionen und Staaten mussten haften.

Deutsche Bank, Daimler Chrysler Financial Services traten als hochbezahlte Berater auf, ebenso Kanzleien wie Allen & Overy und „Wirtschaftsprüfer“ wie Ernst & Young. Sie berieten aber nicht, sondern waren Verkäufer und Lobbyisten und agierten in einer von ihnen selbst hergestellten Grauzone. Man kann auch von Betrug sprechen, denn es wurde vorgegeben, dass es gleichzeitig zwei Eigentümer etwa der Essener Messehallen und der Deutschen Flugsicherung geben könne – die US-Bank einerseits und andererseits gleichzeitig die deutsche Stadt bzw. den deutschen Staat.

Bundes- und Landesregierungen und die Kommunalaufsichten deckten und förderten das – ohne Bescheid zu wissen über die Details der nicht ins Deutsche übersetzten und zudem vor den gewählten Volksvertretern geheim gehaltenen Verträge. Die komplizenhafte Leichtgläubigkeit europäischer Regierungen und Politiker war erschreckend, ja es herrschte eine unterwürfige, freiwillige, routinemäßige Selbsterblindung. „Das sind legale amerikanische Gesetze, das dürfen wir machen“, stammelte etwa der Kämmerer einer deutschen Millionenstadt. Auf die Fiktion der Eigentumsübertragung hingewiesen, antwortete ein anderer: „Die Amerikaner haben das erfunden, also gibt es das!“

W: Haben Sie sich mit der inzwischen fast allumfassenden Meinungsmanipulation befasst?

R: So neu ist die gar nicht. Die hochprofessionelle Meinungsmanipulation entstand im 1. Weltkrieg und danach. Bei Finanzprodukten ist sie, wie beim Finanzprodukt Cross Border Leasing schon erwähnt, sowieso Bestandteil des Geschäfts, ebenso bei angeblich Arbeitsplätze und Wachstum schaffenden Investitionen. Das von demokratischer Kontrolle befreite Privateigentum und professionelle Lüge bilden eine Einheit.

Aber Sie zielen mit Ihrer Frage wahrscheinlich auf kleinere Fälle aus der jüngeren Zeit. Da habe ich 1986 beispielsweise die Fälschung der berühmten Rede des Indianerhäuptlings Seattle offengelegt. Sie war damals eine Art Bibel der Umweltbewegung: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.“ Niemals hat der Häuptling Seattle, dem die US-Regierung erst diesen Namen verpasst hat, ähnliches gesagt. Die Fälschung durchlief mehrere Stationen: von der Protokollierung dessen, was die US-Regierung beim erzwungenen Kauf des riesigen Landstrichs 1855 vom Häuptling hören wollte, über den Drehbuchschreiber Ted Perry bis zur Produktion des TV-Films „Home“ durch die Baptist Radio and Television Commission. Die untergeschobene Rede wurde aber weltweit erst wirksam, als der Film bei der Weltausstellung in Spokane im US-Pavillon präsentiert worden war. In Deutschland waren fünf Verlage, Landeszentralen für politische Bildung und der öffentlich-rechtliche Schulfunk an der Verbreitung beteiligt. Bis 1986 brachte allein der Walter-Verlag 22 Auflagen mit 550.000 Exemplaren heraus.

Ein anderes Beispiel aus der Bundesrepublik Deutschland: 1998 erhielt der von überlaut links nach lautstark rechts gewendete Schriftsteller Hans Enzensberger den Heinrich Heine-Preis der Stadt Düsseldorf. In seiner Dankesrede geißelte er Bischöfe, Medien und Sozialpolitiker, dass sie ohne Grundlage das „Mantra der Umverteilung“ predigten. Die Arbeitnehmer seien nicht ärmer, sondern unverschämter geworden, und der Staat helfe ihnen dabei. Zum Beweis zitierte der neue „deutsche Nationaldichter“ – so hieß es in der Laudatio – ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen. Das habe einem kranken Arbeitnehmer das Recht zugestanden, einer Nebentätigkeit nachzugehen. Allerdings: Enzensberger zitierte das Urteil nach einem zehn Monate zurückliegenden Artikel aus seiner Lieblingszeitung Die Welt, die es wiederum von der Deutschen Presseagentur übernommen hatte. Schon nach Erscheinen der Meldung war das Gericht gegen die Verkehrung des Urteils und gegen die Falschmeldung vorgegangen – doch es nützte nichts: Welt und dpa korrigierten sich nicht. Enzensberger bewies seinen neoliberalen Rotz ungerührt mit einer Falschmeldung, und der Spiegel druckte die Preisrede seines Lieblingsdichters dann auch noch für die Ewigkeit ab.

W: Spielen auch Religionen eine Rolle, spielen sie in diesem elitären Ensemble mit?

R: Ja, allerdings ist es die verkirchlichte Religion, zum Beispiel das verkirchlichte Christentum, das als eine wichtige und wohl noch nicht wirklich erkannte Stütze des westlichen Kapitalismus agiert. Ich habe das anhand des Kölner Erzbistums, seiner politisch-ideologischen Rolle in Köln, in Deutschland, in Europa dargestellt, etwa auch anhand der Stiftungen, die in Osteuropa aktiv sind, auch in der Ukraine. Regelmäßig segnet der Kölner Erzbischof im Dom NATO-Offiziere.

Und der bestbezahlte Maler der westlichen Welt, Gerhard Richter, feiert mit seinem „kapitalistischen Realismus“ die Unerkennbarkeit der verwischten, zu verwischenden Wirklichkeit. Im Kölner Dom durfte er ein abstraktes Kirchenfenster gestalten – darin hatte nach ursprünglichem Konzept der bisher tabuisierte Widerstand von Katholiken gegen den Nationalsozialismus thematisiert werden sollen. Das durfte Richter im wahrsten Sinne des Wortes wegwischen.

Der westliche Kapitalismus instrumentalisiert aber bei Bedarf und Gelegenheit jede Religion. Der Kölner Bankier und Archäologe Max von Oppenheim etwa war im Nahen Osten für die Deutsche Bank und für den Geheimdienst des Wilhelminischen Reiches tätig und hat im 1. Weltkrieg mithilfe von Fachwissenschaftlern, Übersetzern und gekauften Journalisten Araber zum Dschihadismus gegen den Erzfeind England angestachelt. Sie sollten Attentate begehen und Ölfelder in Brand setzen. Deutsche Eliten und Dienste haben also schon vor langer Zeit mithilfe des Islamismus Terroristen herangezüchtet.

W: Sie haben gesagt, dass in Ihrem Buch auch Veröffentlichungen aus abgelegenen Stellen enthalten sind.

R: Ja, zum Beispiel: Mit Unterstützung der Gewerkschaft der Polizei GdP konnte ich im Jahr 2000 dem geschäftsmäßigen transatlantischen Zigarettenschmuggel von „Big Tobacco“ – Philipp Morris, BAT, Japan Tobacco, Imperial Tobacco – nachgehen. Wesentliche Stützpunkte lagen und liegen in der Schweiz, in Belgien und in osteuropäischen Staaten.

Die im Buch enthaltene Reportage „Die legalen Mittäter“ wurde in der Zeitschrift Deutsche Polizei veröffentlicht und bekam übrigens den Journalistenpreis des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft. Die EU ist diesbezüglich übrigens bis heute ziemlich machtlos, sie beziffert den Steuerausfall für die Mitgliedsstaaten auf 10 Milliarden Euro jährlich. Übrigens: Big Tobacco produziert seit mehreren Jahren vor allem in der Ukraine.

W: Und ist im Buch auch Unveröffentlichtes zu finden?

R: Ja, einiges, zum Beispiel: 1986 interviewte ich den pazifistischen Ökonomen des heißen Krieges, John Kenneth Galbraith. Er war damals der weltberühmte Gegenpart des weltberühmten neoliberalen Gurus Milton Friedman. Ich traf Galbraith beim Weltkongress der Internationalen Vereinigung der Ärzte gegen den Atomkrieg, kurz IPPNW, in Köln, nachdem er dort sein Referat über den militärisch-industriellen Komplex der USA und die Notwendigkeit der Rüstungskontrolle gehalten hatte.

Dieser hatte unmittelbar nach dem Waffenstillstand im Mai 1945 eine Arbeitsgruppe der US-Regierung geleitet, die die von den britischen und US-amerikanischen Bombern verursachten Kriegsschäden in Deutschland untersuchte. Zu der Arbeitsgruppe gehörte übrigens auch Jürgen Kuczynski, der spätere „Chefökonom“ der DDR. Sie fanden heraus, dass die Bombardements „eine eindeutige Klassenperspektive“ zeichneten: Arbeiterviertel wurden zerstört, bürgerliche Viertel und Industrie geschont, nicht nur, aber auch die US-Dependancen wie jene von Ford in Köln.

Übrigens: Der Kongressveranstalter IPPNW hatte 1985 den Friedensnobelpreis bekommen, Bundeskanzler Kohl und der CSU-Vorsitzende Strauß intervenierten jedoch beim Nobelkomitee in Oslo, um die Entscheidung zu revidieren. CDU-Generalsekretär Geisler geißelte die Preisvergabe als „eine Schande“. Das Komitee teilte Kohl daraufhin nur kurz mit, er sei der erste Regierungschef nach Hitler, der gegen eine Preisvergabe protestiert habe. Kritik an der für Europa tödlichen Atomwaffenpolitik der USA war für die Christdemokraten eine Todsünde und ist es offensichtlich nach wie vor.

W: Ihre Zusammenfassung? Wohin führt „diese Freiheit“, die Sie darstellen?

R: Lassen Sie mich aus dem WDR-Essay von 2007 „Der Balken im Auge deines Bruders“ zitieren: „So wurde und wird der Westen den Feinden, die er halluzinierte und bekämpfte, immer ähnlicher, ja übertrifft sie an zerstörerischer Macht und Gerissenheit.“

W: Und das soll es dann gewesen sein?

R: Nein. Im Vorwort des Buches heißt es: „Lasst uns rühren an den Schlaf der äußerlich aufgeregten, ja mancherorts unterhaltsamen transatlantischen Welt, damit die Potentiale der assoziierten Freiheit, der durchgreifenden Demokratie und des inneren und äußeren Friedens sich entfalten.“ Und dazu müssen wir eben auch hinter die jahrzehntelang eingewöhnten transatlantischen Zerrbilder und Narrative zurück und die wirkliche Geschichte neu entdecken, noch einmal und der Vergessensproduktion entreißen.

W: Ich bedanke mich für das Gespräch.

 

Werner Rügemer (Dr. phil.), interventionistischer Philosoph, ist tätig als Publizist, Berater und Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied im deutschen PEN-Club, im wissenschaftlichen Beirat von Attac und bei Business Crime Control. 2002 erhielt er den Journalistenpreis des Bundes der Steuerzahler NRW, 2008 den Kölner Karlspreis für kritische Publizistik. Soeben erschien von ihm „Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft“ im Papyrossa-Verlag.

 

Das Interview erschien in den NachDenkSeiten am 02.09.2016.

Hier der Link zum Text: nachdenkseiten.de/?p=34846

Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jensewernicke.wordpress.com.

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