Die ferngesteuerte SPD – und ihre vergessenen Wurzeln

von Paul Schreyer.

Die SPD hatte von 1925 bis 1959 ein Parteiprogramm, in dem analysiert wurde, dass „übermächtige Beherrscher der Wirtschaft die Gesellschaft in ihre ökonomische Abhängigkeit bringen“ und „das Finanzkapital die Staatsmacht benutzt“. Weiß das Martin Schulz, der vor wenigen Wochen in anderem Zusammenhang an dieses historische Programm erinnerte?

„Mit dem heutigen Abend endet zugleich unsere Zusammenarbeit mit der CDU und der CSU in der großen Koalition. (…) Wir waren und sind uns alle einig, diesen Schritt nun zu gehen. Als stärkste Oppositionskraft im Deutschen Bundestag werden wir gerade in diesen Zeiten große Verantwortung für unsere parlamentarische Demokratie und für den Zusammenhalt des Landes tragen.“ 

Nachdem Martin Schulz am Abend der Bundestagswahl im September 2017 diese Worte gesprochen hatte, brandete heftiger Jubel in der Berliner Parteizentrale der SPD auf, wo hunderte Genossen ihn umringten. Schulz konnte kaum weitersprechen, so laut und anhaltend war der Applaus seiner Anhänger an dieser Stelle. Der angekündigte Gang in die Opposition erschien der Partei wie eine Erlösung, wie die Aufhebung eines bösen Fluchs, der die Sozialdemokraten über Jahre hinweg bis zur Unkenntlichkeit – und Unwählbarkeit – zersetzt hatte.

Auch zwei Monate später, nachdem die Verhandlungen von CDU, FDP und Grünen für eine Jamaika-Koalition gescheitert waren, blieb die Absage der SPD an eine große Koalition bestehen. Schulz bekräftigte am 20. November, nach einem weiteren einstimmigen Beschluss des Parteivorstandes:

„Wir stehen für den Eintritt in eine Große Koalition nicht zur Verfügung – diese Konstellation wurde abgewählt. Wir scheuen Neuwahlen nicht.“

Nur vier Tage später verkündete der SPD-Chef dann jedoch die Wende um 180 Grad: Man werde sich Gesprächen mit der CDU nun doch „nicht verweigern“. Und auf dem Parteitag am 7. Dezember folgte die SPD mehrheitlich brav den neuen Vorgaben. Nur wenige opponierten. Einer von ihnen war Kevin Kühnert, der 28-jährige Chef der SPD-Jugendorganisation. In einer emotionalen Rede legte er seine Argumente so dar:

„Ich sehe die veränderte Situation nicht. Ihr habt den Beschluss im Vorstand getroffen im Wissen um die geplatzten Jamaika-Gespräche. An den Fakten hat sich nichts geändert. Die große Koalition ist abgewählt, minus 14 Prozentpunkte. (…) Wir fordern keinen revolutionären Akt ein. Wir fordern die Einhaltung eines politischen Beschlusses, für den es gute Gründe gab, und dessen sachliche Grundlage unvermindert bestehen geblieben ist. Aber ich glaube, es geht eigentlich heute um etwas anderes. Ich glaube, es geht auch in diesem Erneuerungsprozess unserer Partei um eine tiefe Vertrauenskrise. Das, was wir heute noch diskutieren, die Frage, ob Zwischenschritte auf einem Konvent, Parteitag oder bei einem Mitgliedervotum entschieden werden, das sind Diskussionen, die eine Partei führt, die kein Vertrauen darin hat, dass Entscheidungen an der Spitze in ihrem Sinne getroffen werden. (…) 

Ich bin nicht in diese Partei eingetreten, um mit ihr Opposition zu machen, aber ich bin auch nicht in sie eingetreten, um sie immer wieder gegen die gleiche Wand rennen zu sehen. Und das sage ich auch als Vertreter dieser Jugendorganisation: Wir, die wir hier in fünf, zehn, zwanzig Jahren Verantwortung übernehmen sollen, wollen und auch müssen, wir haben ein Interesse daran, dass hier noch was übrig bleibt von diesem Laden, verdammt noch mal! (…) Die Erneuerung der SPD wird außerhalb einer großen Koalition sein, oder sie wird nicht sein – davon bin ich überzeugt.“

Schulz versuchte derweil, die Aufmerksamkeit auf sein Lieblingsthema abzulenken: Europa. Am Tag von Kühnerts Rede schrieb der Parteichef auf Facebook:

„Seit 1925 fordert die SPD die Vereinigten Staaten von Europa. Warum nehmen wir uns nicht vor, 100 Jahre nach unserem Heidelberger Beschluss, spätestens im Jahre 2025, diese Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht zu haben?“

Die eigentliche Frage blieb dabei offen und wurde auch von niemandem sonst aus der Parteispitze diskutiert: Wer hatte das Umfallen der SPD eigentlich verursacht, wer hatte solchen Druck auf die Parteiführung ausgeübt, dass diese den totalen Gesichtsverlust in Kauf nahm? Die Antwort liegt auf der Hand: Wirtschafts- und Machteliten im Hintergrund wünschen keine instabile Minderheitsregierung der CDU, sondern eine verlässliche und gut lenkbare Koalition. Die Perspektive, sich für jede Entscheidung im Bundestag mit überzeugenden Argumenten immer wieder neu eine wechselnde Mehrheit suchen zu müssen, ist für Lobbyisten ein Alptraum. Die vielbeschworene Demokratie würde es zwar beleben, den Einfluss von einzelnen gut etablierten Interessengruppen aber erheblich erschweren.

In diesem Zusammenhang enthält gerade Schulz´ Hinweis auf das Heidelberger Parteiprogramm  von 1925 weit mehr Sprengstoff, als ihm und anderen staatstragenden Parteiführern bewusst sein dürfte. Vermutlich hat keiner von ihnen dieses Dokument je gelesen. Auf der Webseite der SPD ist auch kein Exemplar des Programmes, das immerhin bis 1959 offizielles Grundsatzpapier der Sozialdemokraten war, abrufbar. Nur kurze Auszüge zum Thema europäische Einigung werden dort heute präsentiert. An folgende Abschnitte im Programm aber erinnert – wohl nicht zufällig – derzeit niemand mehr:

„Das kapitalistische Monopolstreben führt zur Zusammenfassung von Industriezweigen, zur Verbindung aufeinanderfolgender Produktionsstufen und zur Organisierung der Wirtschaft in Kartelle und Trusts. Dieser Prozess vereinigt Industriekapital, Handelskapital und Bankkapital zum Finanzkapital. Einzelne Kapitalistengruppen werden so zu übermächtigen Beherrschern der Wirtschaft, die nicht nur die Lohnarbeiter, sondern die ganze Gesellschaft in ihre ökonomische Abhängigkeit bringen. Mit der Zunahme seines Einflusses benutzt das Finanzkapital die Staatsmacht zur Beherrschung auswärtiger Gebiete als Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Stätten für Kapitalanlagen. Dieses imperialistische Machtbestreben bedroht die Gesellschaft ständig mit Konflikten und mit Kriegsgefahr. (…) Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum.“

Autor dieser Zeilen war der damals 70-jährige Philosoph Karl Kautsky (1854-1938). Kautsky gehörte zu den führenden Intellektuellen seiner Zeit. Er gab über viele Jahre die Zeitschrift „Die Neue Zeit“ heraus, eines der einflussreichsten sozialistischen Blätter, war mit Friedrich Engels befreundet und 1917 einer der Gründer der USPD, die den Kriegskurs der Regierung bekämpfte. Seine Frau Luise verband eine enge Freundschaft mit Rosa Luxemburg. In den ersten Jahren der Weimarer Republik hatte die SPD mehrere Regierungskoalitionen mit bürgerlichen Parteien gebildet und dabei viel an Profil und Rückhalt in der Bevölkerung eingebüßt. Von 1924 bis 1928 war sie nicht an Regierungen beteiligt und in dieser Zeit entstand das Heidelberger Programm, eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der SPD. Kautsky erklärte darin detailliert, weshalb die SPD plante, das Privateigentum an Großbetrieben aufzuheben. Insbesondere ging es ihm um die Monopole, also um die marktbeherrschenden Konzerne:

„An diesen Monopolen hat durch das Mittel der Aktie immer mehr die ganze Kapitalistenklasse Anteil, aber sie werden immer mehr beherrscht von einigen wenigen Besitzern riesenhafter Vermögen. (…) Die Beherrscher der entscheidenden Großbanken und der entscheidenden Monopole schweißen industrielles und Bankenkapital immer mehr zu einer höheren Einheit zusammen, dem sogenannten Finanzkapital. Dank ihm wird das ganze ökonomische und politische Getriebe im Staate der Botmäßigkeit einiger weniger Finanzmagnaten unterworfen. (…) Ihre Herrschaft ist weniger beschränkt als die der noch übrigbleibenden Monarchen in Europa. (…) Diesen Monopolen gegenüber gibt es nur eine Alternative: Entweder die Gesellschaft fügt sich ihnen und lässt sich von ihnen unterjochen, oder sie bemächtigt sich ihrer. Das letztere wird eine dringende Forderung nicht bloß der von ihnen beschäftigten Arbeiter, sondern der ganzen Gesellschaft.“

Diese vergessenen Wurzeln der SPD könnten als Orientierung dienen. Allerdings ist Andrea Nahles eben keine Rosa Luxemburg und Martin Schulz kein Karl Kautsky. An der Spitze der Partei finden sich heute nicht Intellektuelle mit Strahlkraft und Ansehen, sondern glattgeschliffene Bürokraten, die sich bei Bedarf bequem aus dem Hintergrund fernsteuern lassen. Auch die neuen „europäischen Visionen“ der Sondierungsverhandler bei SPD und CDU erscheinen als Einflüsterungen von Lobbyisten. Die Wirtschaftswoche berichtete  dazu:

„CDU, CSU und SPD haben in den Sondierungen auf die französischen Vorschläge zur Reform der Europäischen Union geantwortet. Die entsprechenden Passagen im Papier lesen sich wie in Brüssel verfasst. (…) In der langen Aufzählung geht ein Punkt mit besonderer Sprengkraft beinahe unter: die künftige Rolle des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Die Sondierer schlagen vor, den ESM zu „einem parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds“ weiterzuentwickeln, „der im Unionsrecht verankert sein sollte“. (…) Ein Übergang in Unionsrecht würde bedeuten, dass künftig das Europäische Parlament und nicht mehr der Bundestag über neue Rettungsprogramme entscheidet. (…) In Brüssel strebt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine Neupositionierung des ESM an. (…) Juncker hat übrigens streuen lassen, dass er mit beiden Seiten der Koalition eng im Kontakt stand. Das verwundert nicht. Mit SPD-Chef Martin Schulz pflegt er seit langem eine enge Freundschaft über Parteigrenzen hinweg. (…) Vor allem aber hat Junckers Kabinettchef Martin Selmayr einen kurzen Draht zum kommissarischen Finanzminister Peter Altmaier (CDU), der in diesem konkreten Fall hilfreich gewesen sein dürfte.“

Dazu nochmals die SPD von 1925: „Dank dem Finanzkapital wird das ganze ökonomische und politische Getriebe im Staate der Botmäßigkeit einiger weniger Finanzmagnaten unterworfen. Ihre Herrschaft ist weniger beschränkt als die der noch übrigbleibenden Monarchen in Europa.“ Dem ist, so scheint es, auch aktuell wenig hinzuzufügen. Wenn schon nicht die heutige SPD, so müsste eine neue linke Sammlungsbewegung  wohl genau an dieser Stelle anknüpfen.

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