Die Austreibung der Kritik aus der Politik – Ein Interview

Warum versprechen eigentlich seit Jahrzehnten alle Parteien „mehr Gerechtigkeit“ und gibt es dennoch immer mehr Not und Elend im Land? Kann es sein, dass sich die Parteien einander immer mehr angleichen und wirkliche Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen gar nicht mehr im Angebot sind? Und wie kommt es, dass selbst linke Politiker immer häufiger diskreditierend von „sozial Schwachen“ sprechen, wenn sie doch eigentlich Arme meinen? Zu diesen Fragen sowie zum machtheischenden Opportunismus vieler Politiker sprach Jens Wernicke mit Klaus-Jürgen Bruder, dem Vorsitzendem der Neuen Gesellschaft für Psychologie, die im März nächsten Jahres in Berlin einen großen Kongress unter dem Titel „Gesellschaftliche Spaltungen – Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit“ ausrichten wird.

Jens Wernicke im Gespräch mit Klaus-Jürgen Bruder.

 

Wernicke: Herr Bruder, Sie sind gesellschaftskritischer Psychologe und beschäftigen sich seit langem mit den Wirrungen und Irrungen des Geistes und auch damit, wie die Mächtigen uns manipulieren und unsere Kritikfähigkeit zu unterminieren versuchen. Nun beobachte ich zurzeit, dass, statt die sozialen und ökonomischen Konflikte anzugehen, die politisch bewussten und aktiven Menschen sich mehr und mehr in Grabenkämpfe verstricken. Da kämpfen etwa „die Antideutschen“ gegen „die Querfront“, da ist „das Abendland“ von „den Terroristen“ bedroht, und da ist jeder, der nicht hundertprozentig mit der eigenen Analyse übereinstimmt plötzlich kein Mensch anderer Meinung mehr, sondern ein verwirrter „Rechter“, den es zu bekämpfen gilt. Die Erkenntnis, dass sich der eigentliche soziale Konflikt zwischen Oben und Unten vollzieht, scheint mehr und mehr verloren zu gehen… Stimmen Sie zu? Und wenn ja: Warum ist das so?

Bruder:…was sich mir in den Mittelpunkt meiner Wahrnehmung drängt ist, dass die Linkspartei schrittweise ihre kritischen Positionen, mit denen sie angetreten war, aufgibt, wie die Grünen vor ihr, und davor die SPD.

Man könnte sagen, die Abgeordneten der Linken fliehen einer nach dem anderen ins Lager der Profiteure und Verteidiger der bestehenden Verhältnisse, die sie eigentlich doch verändern wollten, ins Lager der Mächtigen also, jenem des Kapitals.

Wer etwa unbedingt in die Regierung will, der verschweigt tunlichst, was denen widerspricht, mit denen er dort wird zusammenarbeiten müssen. Und er wird schrittweise, nicht in einem großen Sprung – das würde die bisherigen Anhänger hellwach machen und könnte sie abstoßen – sich deren Äußerungen, Formeln und Parolen annähern.

Aufmerksamkeitsmanagement nennt man das, aus den Zaubertricks der Gaukler auf den Jahrmärkten ebenso bekannt, wie aus jenen der parlamentarischen und anderen Bühnen, Kollege Rainer Mausfeld hat das sehr schön beschrieben: die Aufmerksamkeit des Zuschauers, Lesers wird abgelenkt und auf Belangloses gerichtet, wodurch das versteckt wird, was eigentlich interessant ist.

Noam Chomsky bringt das auf die Formel: Verstecken durch Zeigen. Nach dieser Formel funktioniert jeder Diskurs, der durch Reden verschweigt, worum es ihm geht, vor allem der uns interessierende „Diskurs der Macht“.

Wie Foucault so schön gesagt hat: Die Macht ist »eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere Subjekte«; sie wirkt, indem sie »anstachelt«, »eingibt«, »ablenkt«. Nur „im Grenzfall nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um eine Weise des Einwirkens auf ein oder mehrere handelnde Subjekte, und dies, sofern die Subjekte handeln oder zum Handeln fähig sind.“ Und die Subjekte bleiben als Subjekte anerkannt, indem sie als solche „angesprochen“ werden.

Der Diskurs der Macht bewegt sich auf der Ebene des Sprechens, Zeigens. Indem er nicht „alles“ zeigt, nicht „über alles“ spricht, kann der Zuhörer, Zuschauer nicht feststellen, was er nicht gehört hatte, was ihm nicht gezeigt worden ist und deshalb auch nicht, ob das wichtig für ihn zu wissen gewesen wäre. Zugleich wird er seine Aufmerksamkeit durch den Lärm, durch das Geschrei an das gefesselt, was ihm gezeigt wird.

Die Verrohung der Debatte, die Sie skizzieren, ist dann logische Folge hiervon. Denn die heimliche, schleichende Annäherung an den bisherigen politischen Gegner muss aus vielen Gründen mit lautstarkem und kraftmeierndem Gestus verdeckt werden.

W: Also, wie gesagt: Immer mehr Kämpfe gegen- und untereinander – um die eigentlich anstehende Auseinandersetzung, jene von Arm gegen Reich, von Oben gegen Unten, nicht konzertiert angehen zu müssen…

B: Ja, es scheint so.

W: Würden Sie die versuchte Demontage von etwa Sahra Wagenknecht, die in der Partei eine der wenigen Linksaußenpositionen vertritt, auch so einordnen? Wer, wenn Sie so wollen, „in die Mitte“ will, der beteiligt sich auch daran?

B: Man könnte es so sehen. Aber dieser Fall zeigt auch sehr gut die beiden Seiten der Medaille als zwei ineinander verstrickte Prozesse, die beide problematisch sind.

Was Sie Demontage nennen, also die lärmende Seite, scheint ja auf den anderen Prozess des allmählichen Hinübergleitens oder Hineingleitens in den Diskurs der Macht durch die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei selbst zu folgen.

Die entscheidenden Sätze sind die aus ihrer Erklärung zu dem Selbstmordattentat in Ansbach:

„Meine Gedanken und mein Mitgefühl sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Auch wenn die konkrete Aufklärung der Hintergründe des Anschlags von Ansbach noch abgewartet werden muss, kann man doch schon so viel sagen: Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges »Wir schaffen das« uns im letzten Herbst einreden wollte.

Der Staat muss jetzt alles dafür tun, dass sich die Menschen in unserem Land wieder sicherfühlen können. Das setzt voraus, dass wir wissen, wer sich im Land befindet, und nach Möglichkeit auch, wo es Gefahrenpotentiale gibt. Ich denke, Frau Merkel und die Bundesregierung sind jetzt in besonderer Weise in der Verantwortung, das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates und seiner Sicherheitsbehörden zu erhalten.“

Sie hat nach den empörten Reaktionen zurückgerudert, von Missverständnis gesprochen – was die Sache übrigens eher verschärft -, aber die entscheidenden Punkte nicht korrigiert: ihre Kritik an „Merkels Flüchtlingspolitik“ unterscheidet sich nicht entschieden genug von den Vorwürfen von rechts, sie kritisiert an der Flüchtlingspolitik der Regierung nicht die Verschärfung des Asylrechts oder den Pakt mit dem mörderischen Regime in der Türkei, das dafür bezahlt wird, dass es die Flüchtlinge von der EU fernhält und sie hat ihren Ruf nach Verstärkung der Sicherheitsorgane und Ausweitung ihrer Befugnisse nicht zurückgenommen. Das genau ist ein Einsteigen in den Diskurs der Macht, dessen Parolen sie dafür vertritt. Auch nicht das erste Mal.

W: Und das bedeutet nun, dass Wagenknecht „rechts“ ist, sie zum zu bekämpfenden Feind wird und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Kritiker der Gerechtigkeit hier schlicht Genüge tun?

B: Nein, keineswegs!

Ihre Position und Verankerung auf der linken Seite steht außer jedem Zweifel. Aber gerade deshalb kann das von ihr gezeigte Agieren so gefährlich sein: Sie hat sich an diesem Punkt auf den Diskurs der Macht eingelassen – ich vermute aus taktischen Gründen. Es könnte etwa die Meinung dahinterstecken, dass es sich bei den rechten Parolen und Stimmungen um Ressentiments in der Bevölkerung selbst handelt, und nicht – oder weniger – um von rechten Agitatoren übernommene, so ähnlich wie das Klaus Dörre kürzlich dargestellt hat – wie es die meisten Sozialwissenschaftler gerne so machen.

Ich meine aber, dass diese Taktik und dieses Denken zu kurz greift. Gewiss haben nicht erst AfD und Pegida „den Raum des Sagbaren“ gewaltig und nicht ohne Gewalttätigkeit erweitert; zugleich kassieren sie aber auch die Früchte der Politik des Roll Backs der letzten mindestens 30 Jahr ein. Und das bedeutet, es kommt darauf an, einen überzeugenden Bruch mit dieser elenden Tradition des „immer so weiter“, wie Wilfried Schmickler es nannte, zu vollziehen. Auch in diesem Bereich der Menschenverachtung wird, davon bin ich überzeugt, nichts besser werden können, akzeptiert man die Eingeschworenheit der Vielen auf den inhumanen Diskurs. Denn damit akzeptiert man Prämissen, die nicht mehr, wenn überhaupt, aus der Welt zu schaffen sind.

Auf der anderen Seite, und da gebe ich Ihnen vollkommen recht: Wenn man sich die Vehemenz der Medienkampagne gegen Sahra Wagenknecht und den Kontext der ausgebrochenen Debatte ansieht, wird man den Verdacht nicht los, dass die Kritiker ebenfalls nichts anderes als eine Rolle im Diskurs der Macht zu spielen versuchen, nämlich jene, die dezidiert linken Positionen innerhalb der Linken zu schwächen – ein Traumziel des Machtapparats aus Medien und Politik von Anfang an. Die Art und Weise, wie dieser Machtapparat dabei agiert, verdeutlicht dies unzweideutig.

Nur: So sehr Sahra Wagenknecht hier auch gegen Umstürzler und Opportunisten zu schützen ist – so falsch wäre es zugleich auch, so zu tun, als gäbe es nicht auch auf Ihrer Seite, gleichwohl wie gesagt in anderer Ausprägung, ein Problem bezüglich der Akzeptanz gesellschaftlicher Zustände, die inakzeptabel und von dezidiert Linken nicht akzeptabel sind.

W: Können Sie als Psychologe vielleicht sagen, wie es zu „so etwas“ kommt: Warum passen sich Alphatierchen wie beispielsweise Politiker im Laufe der Zeit so oft und umfassend an? Darf ich mir das ähnlich vorstellen wie die sogenannte „Identifikation mit dem Aggressor“: gegen übermächtige Bedrohung begehrt man nicht auf, sondern assoziiert sich stattdessen lieber mit ihr, um der eigenen Angst Herr zu bleiben und nicht die Kontrolle zu verlieren?

B: Na ja, das sind zwei verschiedene Perspektiven: Während „Identifikation mit dem Aggressor“ eher die Innenperspektive des Individuums in den Blick nimmt und auf eine motivationale Begründung des entsprechenden Verhaltens abzielt, erlaubt die Perspektive auf den „Diskurs der Macht“ – also auf die durch den Diskurs als „Normalität“ dargestellte und vermittelte Interessenlage der Mächtigen – unterschiedliche motivationale Begründungen des Subjekts für seine Zustimmung zum Diskurs der Macht und das Einsteigen auf diesen anzunehmen.

Im Fall von Sahra Wagenknecht ist klar: Sie setzt auf den Diskurs der Macht, nicht weil sie sich mit dem Aggressor identifiziert, sondern weil sie an die Macht will. Für eine systemkritische Linke ist das nicht per se verwerflich – denn um linke Ziele zu verwirklichen, braucht man eben mehr als gute Argumente, man braucht ebenfalls Macht, und das ist zunächst einmal jene, diese guten Argumente überhaupt verbreiten zu können, die ja bisher in den Händen einer kleinen Schar von „Meinungsmachern“ liegt – durch keine demokratische Wahl bzw. Kontrolle legitimiert.

Problematisch ist es, wenn Vertreter der Linken über den Einstieg in den Diskurs der herrschenden Macht an diese Macht gelangen zu wollen. Denn innerhalb dieses Diskurses können sie, ich deutete es bereits an, nichts anderes mehr bewirken, als die Macht der hegemonialen und verlogenen Parolen weiter zu stärken, also etwa der Kriegspolitik als Menschenrechtspolitik, der Flüchtlingspolitik als Kontrollpolitik, der Sicherheitspolitik etc. pp.

Und das eben trifft auch für die meisten Kritiker von Wagenknecht zu. Von wenigen hat man vorher gehört, dass sie Kriege grundsätzlich und prinzipiell ablehnen – wie dies einst etwa die Überlebenden von Buchenwald unter dem Eindruck des gerade beendeten grauenhaften Weltkriegs geschworen hatten. Und von kaum einem hört man, dass er oder sie die Eigentumsfrage stellt oder dass sie die Beteiligung an einer Regierung, die nichts anderes sein würde als der geschäftsführende Ausschusses der herrschenden Klasse – im Jargon der Macht allerdings „Regierungsverantwortung“ genannt – ablehnen und ihre Aufgabe vielmehr in der Kritik dieser Regierung, also in der Opposition sehen.

Kollege Rainer Mausfeld hat das kürzlich sehr gut auf den Punkt gebracht, als er sagte:

„Auch an der Linken ging die tiefgreifende neoliberale Indoktrination mit ihrer ideologischen Kernthese der Alternativlosigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse, gelinde gesagt, nicht spurlos vorüber. Diese Ideologie wurde gleichsam zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung, da offensichtlich auch in der Linken der Denkraum möglicher Alternativen radikal schrumpfte und ihre Anliegen zunehmend zu einer reformistischen Perspektive verkümmerten.

Je stärker sie sich im Rahmen des gegenwärtigen neoliberalen Konsenses weniger als Opposition, sondern eher als mitgestaltende politische Kraft versteht oder verstehen möchte, umso mehr ist sie in Gefahr, dem Irrglauben zu erliegen, soziale Reformen könnten gleichsam symbiotisch im Konsens mit den herrschenden Eliten durchgesetzt werden.

Wir sollten stets in Erinnerung behalten, dass es gerade reformistisch-sozialistische und sozialdemokratische Parteien waren und sind, die in Europa das neoliberale Projekt am konsequentesten vorangetrieben und rechtlich verankert haben. Die notwendigen Konsequenzen daraus lassen sich nur ziehen, wenn die Ursachen für das Scheitern der – oft zunächst sehr vielversprechenden – linken Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte unter diesem Aspekt sehr viel genauer analysiert würden.“

Der Einstieg linker Politiker auf den Diskurs der Macht kann dabei jeweils nur die Funktion, die Wirkung haben, die linke Anhängerschaft auf die Seite dieses Diskurses zu ziehen, auf die Seite der herrschenden Macht: die entsprechende Funktion des „Sliders“ wird in der Sozialpsychologie ausführlich skizziert.

Und, um einer Illusion vorzubeugen: einmal „an der Macht“ könnten diese Politiker ihre linken Ziele dann auch nicht einfach wieder hervorholen und durchsetzen, denn sofort wäre die Meinung der durch sie getäuschten Öffentlichkeit gegen sie zu mobilisieren.

Überflüssig also zu wiederholen: linke Politik ist nicht mit dem Diskurs der herrschenden neoliberalen Macht zu machen, sondern nur gegen diesen. Das unterstreicht und begründet die Notwendigkeit jener Kritik, die Marx als Kritik „aller Verhältnisse, unter denen der Mensch ein elendes, entwürdigtes, verachtetes, entfremdetes Wesen ist“ beschrieb.

W: …das begründet die Notwendigkeit von Fundamentalopposition. Denn es gibt nicht „ein wenig Krieg“ und jedes Quäntchen Sozialabbau wäre eben bereits ein solches zu viel…

B: So ist das gemeint, in der Tat.

W: Nun habe ich aber immer noch nicht verstanden, warum Politiker mit der Zeit alle einander ähnlich und die Positionen in der Tendenz doch austauschbar werden, warum es aktuell, wie mancher gerne behaupten wird, bspw. vier neoliberale Parteien im Bundestag hat. Wie erklären Sie derlei mit ihrer Theorie vom „Diskurs der Macht“? Und, da Sie es ansprachen: Welche Interessenlagen sind es, die Einzelne veranlassen, sich hier „geschmeidig“ zu machen und also anzupassen an das, was den Oberen dient?

B: Wenn Menschen „einander ähnlich“ werden, die es vorher noch nicht gewesen waren, verweist das vor allem auf die gleichmachende Qualität der Tätigkeit, die sie miteinander tun, das Milieu, in dem sie miteinander kooperieren, kommunizieren, und die Pläne, die sie miteinander aushecken. Die Politiker leben sozusagen in einem Biotop, in ständigem Kontakt und Austausch mit den Lobbyisten und Medienleuten, und bilden gemeinsam mit diesen das, was sie selbst die „politische Klasse“ nennen, abgeschirmt von störenden Einflüssen von außerhalb.


Sie waren einander vielleicht schon vorher nahe, beispielsweise in ihrer Entscheidung, „in die Politik zu gehen“. Aber sie unterschieden sich noch nach der Bevölkerungsschicht, aus der sie kamen und von der sie gewählt und damit beauftragt worden waren, diese oder jene Interessen zu vertreten.

Im Lauf ihrer Anwesenheit im Biotop haben sie sich von ihrer Wählerschaft dann aber immer mehr entfernt. Bis dahin, dass sie mehrheitlich Beschlüsse fassen und Gesetze verabschieden, die den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung widersprechen. Agnoli und Brückner haben diese „Transformation“ bereits 1967 sehr präzise beschrieben; und Colin Crouch hat das Problem knapp 40 Jahre später auf den Namen „Postdemokratie“ getauft.

Das Problem heutzutage ist doch schlicht jenes, dass viele Politiker die Tatsache, dass sie nun einen Dienstwagen haben, bereits als „Partizipation an den Trögen der Macht“ fehldeuten – und dass der Preis, den sie hierfür bezahlen, eben in keinem Verhältnis zu diesem „Genuss“ steht.

Nur das Wissen, dass das Biotop des Parlamentarismus mit seiner politischen Klasse eine ganz andere Funktion hervorbringt, als uns in den schönen Märchen von der „guten Regierung“ gerne dargeboten wird, kuriert jenes Wahnfieber von der „Partizipation“ an der Macht.

Die wirkliche „Macht“ einer linken Partei im Parlament besteht dann auch in der Möglichkeit dessen, was Sie „Fundamentalopposition“ nennen: den Zockern das Spiel verderben, den Widerspruch zwischen den großartigen Versprechungen und der schäbigen Realisierung beständig aufzeigen, die Lügen des Parlamentarismus platzen lassen. Das kann man nämlich nur dort, nicht „in der Regierung“.

W: In einem Interview mit dem Deutschlandfunk gab der Kritiker des Zeitgeistes Armin Nassehi zu Protokoll: „Kritik ist heute sehr, sehr konservativ geworden. Also, viele Kritiker, die wissen genau, was man kritisieren muss. Kapitalismuskritik ist eine Marke, die funktioniert unglaublich toll, man weiß, wer die Guten, man weiß, wer die Bösen sind, man weiß, wo man ansetzen muss. Und es ist oftmals mehr Posing als tatsächlich Theorie dahinter, das muss man leider so sagen. Und jetzt ist die interessante Frage: Wie können wir eigentlich heute Kritik üben? Und Kritik ist eben heute nicht mehr das Urteil aus der Perspektive dessen, der weiß, wie die Dinge passieren, sondern Kritik würde heute zum Beispiel bedeuten, wenn wir Leute, die in bestimmten Bereichen gemeinsame Lösungen finden müssen, darauf hinweisen, dass sie in der Lage sein müssen, ihre Perspektiven in die ihres Gegenübers zu übersetzen, dann hat das ein riesiges kritisches Potenzial, weil man eigentlich dann erst auf Lösungsperspektiven kommt, weil man dann erst darauf kommt, tatsächlich in der Gesellschaft etwas erreichen zu können und nicht nur in einem Posing auf der richtigen Seite stehen zu wollen.“ Ist es das, was wir erleben: Der Neoliberalismus hat über den stillen Zwang der ökonomischen Verhältnisse bereits einen derartigen Druck auf den Einzelnen entfaltet, dass Kritik jenseits dieser „Sachzwänge“ kaum noch denkbar erscheint und immer mehr zur Pose gerät?

B: Ich würde dagegen sagen: „Kritik“, wie ich sie verstehe, Kritik all jener Verhältnisse, unter denen der Mensch ein elendes, entwürdigtes, verachtetes, entfremdetes Wesen ist, …die ist nicht konservativ, sondern aktuell vor allem heimatlos geworden, ohne Stimme, ohne Personal.

Zugleich wurden die Verhältnisse, die ihre Nutznießer und Verteidiger in den staatstragenden Parteien schützen, immer unwirtlicher, unmenschlicher, brutaler. Man könnte sagen: die Verhältnisse bestätigen sozusagen deren Kritik. Und zwar: immer frecher, unverhüllter, unverschämter.

W: Könnten Sie das bitte anhand einiger Beispiele ausführen? Wo wird zum einen das System immer „dreister“ – und wo fehlt zum anderen hieran die notwendig radikale Kritik und gibt es nur noch solche im Rahmen des „Diskurses der Macht“?

B: Beispiele gibt es im Überfluss: von der innenpolitischen Aufrüstung – Stichwort „Innere Sicherheit“, Stichwort „Terrorismus“ – über die Geheimarmeen, den NSU, die staatliche Überwachung – sei es auf öffentlichen Plätzen, sei es im Internet -, die Verwahrlosung der Infrastruktur, also etwa der Krankenhäuser, Straßen, der Bildung und Bildungseinrichtungen bzw. des Zugangs zu diesen, bis hin zur ungebremsten Privatisierung von immer mehr öffentlichen Einrichtungen und Lebensbereichen und der immer weiteren Verarmung der „Überflüssigen“.

Nehmen wir als aktuellstes Beispiel die Politik gegenüber der Türkei: Wir können durchaus von der Herausbildung eines offenen Faschismus in der Türkei sprechen, mit geradezu handgreiflichen Parallelen zum historischen deutschen. Bereits die Säuberungen in den höchsten Staatsstellen: Justiz, Militär, Schulen, Verwaltung erinnern an die „Machtergreifung“ 1933, auch mit der Behauptung, die Demokratie zu schützen.

Damit zeigt Erdogan sich als gelehriger Schüler: Er hat gelernt, wie man den Staat „übernimmt“ und das zugleich auch noch „rationalisiert“, also den Diskurs führt – und das nicht nur von Hitler, sondern ebenso von den „demokratischen“ Politikern der deutschen Gegenwart. Denken wir nur an Steinmeier und daran, was er über die Beteiligung von Faschisten beim Putsch in der Ukraine und der anschließenden Regierungsbildung und „Säuberung“ von Oppositionellen sagte. Die „Argumente“ ähneln sich wie ein Haar dem anderen.

Und zugleich ist Erdogan eben nicht nur ein gelehriger Schüler, nein, die deutsche Regierung schweigt auch noch dazu. Das ist nicht nur ein verräterisches Schweigen, weil Deutschland sonst stets und ständig dabei ist, in anderen Fällen anzuprangern, was Erdogan gemacht hat: Krieg gegen sein eigenes Volk führen, die Opposition zu entmachten und die Demokratie auszuhöhlen.

Es ist zugleich ein tätiges und tatkräftiges Schweigen, ein „Schweigen im Handeln“, denn die militärische Kooperation mit der Türkei wird wie die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage unbeirrt fortgeführt.

W: Weil Sie es ansprachen… In der Ukraine nehmen Deutschland und die EU das Aufkommen eines neuen Faschismus offenbar wohlwollend in Kauf. Wieso? Brauchen sie ihn?

B: Nicht in Deutschland, denn da wären sie selber schnell weg vom Fenster, wohl aber in den Randgebieten, dort ist es für sie nur ein Wechsel des Führungspersonals des geschäftsführenden Ausschusses.

Im Zentrum können sich die Herrschenden die „Demokratie“ leisten, ja, wollen sie sich vielleicht sogar leisten – wenn sie „marktkonform“ gemacht werden kann: „Postdemokratie“ eben. Auch die „Postdemokratie“ kostet zwar etwas, aber das können sie sich leisten; das wollen sie sich aber nicht an den Rändern leisten. Die Ränder sollen durchaus weniger gegen Raubbau und Ausplünderung geschützt werden, deshalb kann man sich dort keine Demokratie, keine Postdemokratie leisten.

Man muss nicht behaupten, sie „wollen“ den Faschismus dort, aber ihre Politik lässt diesen entstehen – man denke etwa auch an Griechenland – bzw. duldet oder fördert ihn, so etwa in der Ukraine und Türkei.

W: Diese Perspektive ist höchst alarmierend, gleichwohl … statt dass nun in Breite seitens der linken Parlamentarier lautstark Warnsignale ausgegeben werden, die vor der Wiederkehr des Faschismus in Europa warnen, wird die Kritik auch von dieser Seite offenbar eher konzilianter, ja, entgegenkommender. Wenn man so will: Der Unmut und die Unzufriedenheit bleiben ängstlich und brav im Rahmen der Affirmation der elenden Verhältnisse, passen sich diesem – statt ihn endlich zu sprengen – mehr und mehr an.

B: Wir sind noch immer in der Situation des „Roll Back“, wie Brückner die Jahre nach der Studentenbewegung einmal genannt hat. Und da kann passieren, was will, der Protest erreicht nie die notwendige Radikalität oder Grundsätzlichkeit.

Die Fragen, die gestellt werden, werden immer im „psychologischen“ Register gehalten, und damit unter Absehen von jenen Bedingungen, die diese „Psychologie“ erst hervorbringen: den gesellschaftlichen, politisch vermittelten, unter Absehen von der Geschichte, von der Entwicklung, die ja die Gegenwart erst hervorgebracht hat.

So erleben wir einen allmählichen Prozess von immer weiterer Desillusionierung, Resignation, Einschüchterung, Repression, Diskurs-Zerstörung, das Orwell‘sche Prinzip schwarz für weiß zu erklären. Bestes Beispiel dafür sind wohl die sogenannten „Antideutschen“, deren Methode es ist, wie Häring es treffend skizzierte: „Mit linkem Duktus staatstragende Sichtweisen unters kritische Volk zu bringen“.

Das alles gehört zu den Strategien der Spaltung, die sozusagen die Bedingungen der Spaltung, die in der Ökonomie, in der Klassengesellschaft selbst liegen, flankieren, verstärken.

In meinem Verständnis von „Kritik“ geht es darum, genau diese Strategien zu entwaffnen, die die grundlegende Spaltung in der Klassengesellschaft zu verdecken suchen und die schließlich darauf abzielt, das Privateigentum an Produktionsmitteln als den entscheidenden Grund für die „Verkehrung“ von Tatsachen wieder scharf ins Auge fassen.

Kritik in diesem Sinn und mit dieser Perspektive ist mehr als nur eine Vorstufe zum Entwurf eines anderen Gesellschaftsmodells. Das Gegenmodell muss entwickelt werden – nicht nur im Kopf, sondern ebenso in gesellschaftsverändernder Praxis.

Kritik ist vielmehr: der Prozess der „Schärfung der Sinne“, wie Hans-Jürgen Wirth einmal schrieb, und also der Selbstveränderung, die zwingend mit einer Beunruhigung der Vertreter der bestehenden Verhältnisse einhergeht.

Dass der Verzicht auf eine solche Kritik der Verhältnisse schließlich über kurz oder lang zum Versiegen der gesellschaftsverändernden Kraft führt und führen muss – nun, das sieht man aktuell ganz wunderbar am Beispiel auch der Linkspartei.

Und das ist auch nur folgerichtig, denn wie Ernst Hillebrand, Büroleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Rom schreibt, haben nicht nur dort „die Parteien der linken Mitte […] den Kontakt ausgerechnet zu jenen, deren Interessen zu vertreten sie vorgeben und aus deren Emanzipationsbewegungen sie einst hervorgegangen waren, längst verloren.“ Gewählt werden sie stattdessen „von den aufgeklärten Mittelschichten gewählt, den Besserverdienern, den höheren Angestellten und Teilen des Managements.“

Die Linke reagiert darauf zunehmend mit einer Un-Kultur der Belehrung und Moralerziehung sowie einer Vorstellung von Demokratie nach Gutsherrenart. Der italienische Sozialpsychologie Luca Ricolfi bringt diese Haltung auf die Formel: „Souverän ist das Volk, wenn es so wählt, wie es soll“.

„Tut es das nicht, dann muss man intervenieren bzw., wie es etwa vor ein paar Wochen in einem Zeitungsartikel hieß, „das Volk vor sich selbst schützen“ indem man die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse parlamentarisch in die richtige Richtung korrigiert. 

Und, unter Bezugnahme auf Gramsci stellt er fest: „Kulturelle oder politische Hegemonie erringt man mit dieser Haltung in Zeiten des Internets und der sozialen Medien nicht mehr.“ Vielmehr sei nötig: „Ein Ernstnehmen der „einfachen“ Bevölkerung als „Intellektuelle“ ihres eigenen Alltags und die Nutzung des Alltagsverstandes, des „senso comune“ als Sockel eines linken, emanzipatorischen Projekts.

Die heutige Linke sei davon weit entfernt. Die Legitimität der „Alltagsvernunft“ werde schlicht geleugnet und als falsches Bewusstsein diskreditiert. Damit erkläre man die Wähler für dumm und erhebe sich über sie. Wer sollte so jemanden wählen? Mal ehrlich, wer wäre so dumm?“

Dem ist wenig hinzuzufügen. Man kann diese Feststellung durchaus für die Situation in Deutschland übernehmen.

W: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder, 1941 in Leipzig geboren, studierte Psychologie, Soziologie und Politik in Würzburg und Heidelberg und lehrte an der Freien Universität Berlin. Er gilt als einer der profiliertesten Vertreter einer explizit gesellschaftskritischen Psychologie und ist erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP).

 

Das Interview erschien in den NachDenkSeiten am 15.08.2016.

Hier der Link zum Text: nachdenkseiten.de/?p=34608

Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jensewernicke.wordpress.com.

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