Deutschland in der Kritik – Ein Interview

Deutschland scheint geläutert vor seiner Geschichte zu stehen: Man gedenkt routiniert der Vergangenheit, spricht sich staatsoffiziell gegen Antisemitismus aus, preist sich, Lehren aus der jüngsten Vergangenheit gezogen zu haben und tut, wie man behauptet, alles nur Mögliche für Weltfrieden und gegen Armut. Aber ist dem wirklich so – oder ist nicht vielmehr die politische Linke inzwischen weitgehend in das neoliberale Projekt integriert und zu radikaler Kritik daher gar nicht mehr in der Lage? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit Gerhard Hanloser, Herausgeber des Buches „Deutschland.Kritik“ – einer differenzierten Bestandsaufnahme dringend notwendiger undogmatischer und antiautoritärer Kritik an jenen deutschen Verhältnissen, die man uns ob ihrer Grausamkeit so gern als „alternativlos“ zu verkaufen sucht und deren Analyse und Kritik seit jeher zu den Kernaufgaben der NachDenkSeiten gehört.

Wernicke: Herr Hanloser, wenn man den Medien Glauben schenken darf, geht es „uns“, uns „Deutschen“, doch so gut wie niemals zuvor. Warum da eine umfassende „Deutschlandkritik“ – warum dieses Buch?

Hanloser: Dieses „wir“ und dieses „uns“, von dem Sie sprechen, war schon immer falsch und soll die soziale Realität verkleistern. Tatsächlich haben wir es mit einer enormen Spreizung der Einkommen und der sozialen Lebenssituationen zu tun – nicht nur in Deutschland. Die Occupy-Bewegung hat das in dem verkürzten Begriff der 99 Prozent gegen die 1 Prozent widergespiegelt. „Deutschlandkritik“ ist insofern ein Begriff, den man nur mit Augenzwinkern verwenden sollte. Nicht umsonst hat die historische Linke, wenn es ihr um Kritik ging, zuallererst die Kritik der politischen Ökonomie betrieben.

Das heißt, im Fokus linker Kritik sollten die kapitalistische Dynamik und die staatliche Ordnung der Herrschenden stehen. Wird dies vergessen, verdrängt oder marginalisiert, kann auch jede vermeintliche Kritik nur vage bis falsch ausfallen, was sich brennend an der ein oder anderen Pauschalkritik zeigt. Schließlich ist so manche „Israelkritik“ nur dann treffend, wenn sie materialistisch und ideologiekritisch auch den Sinn der Okkupationspraxis entschlüsselt und das Problem in der zionistischen und national-religiösen Struktur des israelischen Staates erkennt. Dies arbeitet der israelische Soziologe Moshe Zuckermann in seinem Beitrag „Jenseits deutscher Reflexe. Resümee über Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik“ heraus.

Noch haltloser und ins Reaktionäre spielend ist die viel zitierte „Islamkritik“, die kaum befähigt ist, irgendetwas Vernünftiges über die Dynamik in islamischen Gesellschaften auszusagen. Der Pariser Journalist Bernhard Schmid zeigt in seinem Beitrag, dass „Islamkritik“ oft nur Deckmantel ist für einen antimuslimischen Rassismus. Antimuslimische Attacken und Artikulationen nehmen in Deutschland sprunghaft zu und werden ja auch von der Pegida-Bewegung oder der AfD befeuert. Das scheint kein Sonderweg zu sein, Deutschland schließt hier an andere Nationen an, wie an Frankreich, wo es bereits viel breitere antimuslimische Bewegungen gibt, die sich auf einen Staatslaizismus beziehen können. Ein solcher ist in Deutschland noch nicht einmal gegeben, wo die großen christlichen Kirchen vom Staat unterstützt und mit Steuermitteln versehen werden.

„Deutschlandkritik“ ist also mit Vorsicht zu genießen und nicht zufällig erinnert der Begriff eher an offizielle Staatspolitik und ihre mediale Verarbeitung: Deutschlandkritik übt da die polnische Regierung oder man liest in den großen Medien von Erdogans harscher Deutschlandkritik… Offensichtlich scheint durch Kritik einer nationalen Einheit wenig Emanzipatorisches transportiert zu werden.

Das weiß die deutsche Linke nach der Wiedervereinigung spätestens seit dem Auftauchen sogenannter „Antideutscher“, die meinten, man könne das eigene Kollektiv mit irgendwelchen Fahnen anderer Kollektive provozieren – der US-amerikanischen oder der israelischen beispielsweise. Sie wurden dann tatsächlich zu Avantgarden einer bellizistischen, neokonservativen und neoliberalen Politik.

Eine solche angebliche „Deutschlandkritik“ ist der Tod der historischen Linken. Was das von mir herausgegebene Buch in einem ersten Teil, der sich „Deutschland.Kritik aktuell“ nennt, also präsentiert, ist eine antikapitalistisch unterfütterte Analyse unserer Welt, in der Deutschland eine hegemoniale und zusehends aggressive Rolle spielt, jedoch anders als noch in den Umbruchsjahren 1990/91 erwartet.

W: Worauf spielen Sie da an?

H: Der Journalist Thomas Konicz skizziert in seinem Beitrag etwa die Herausbildung eines deutschen Europa, das sich unter anderem mit dem Hartz-IV-Programm zum Lehrmeister Europas in Sachen kapitalistische Modernisierung gemausert hat. Konicz beschreibt, wie Deutschland als Exportweltmeister und mit seiner abgestuften Lohnhierarchisierung andere Nationen im Sinn eines Neomerkantilismus in den Konkurs treibt und zum Anwalt einer Austeritätspolitik wird, die ihrerseits das damit einhergehende Versprechen eines Aufschwungs dieser Länder auf den St-Nimmerleinstag verschiebt.

Leistungsbilanzüberschüsse und spektakulär gegenüber Griechenland durchgesetzte Spardiktate drücken die deutsche Dominanz in Europa aus, führen aber nicht zu einem ungebrochenen Aufstieg Europas, sondern der ökonomische Zerfall in Südeuropa ist nur das Vorspiel für das generelle Zusammenklappen der EU, das sich ja dieser Tage drastisch zeigt.

Und der Kölner Theoretiker Detlef Hartmann nimmt den Ukraine-Konflikt zum Anlass, um Deutschlands Rolle in einer Welt des Umbruchs zu analysieren, in der die verschärfte Entwertung von sozialen Lebenszusammenhängen wie in der Ostukraine als Teil einer größeren Transformation zu begreifen ist. Der sich beständig modernisierende Kapitalismus mit seinen Innovationsoffensiven muss seines Erachtens nach stets Lebens- und Arbeitszusammenhänge neu zusammensetzen, ja, gegebenenfalls zertrümmern. Mobilität und Flexibilität sind gefragt. Die Schaffung eines deutsch dominierten „Mitteleuropa“ ist seines Erachtens ein zwar weit entferntes, jedoch klar angestrebtes Projekt der Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit dem amerikanischen, japanischen, chinesischen Kapital.

Dabei lässt Deutschland immer aggressiver seine militärische Zurückhaltung fahren und bereitet sich auch für den Eintritt in neue Kriege vor, zurzeit etwa durch Remilitarisierung der Mentalitäten und innerer Aufrüstung. Die Terrorangst kommt da gelegen. Es wird wahrscheinlich viele verwundern, dass Hartmann auch den islamistischen Terror vor diesem Hintergrund interpretiert: als gewaltsame Reaktion von Männern, die Entwertungserfahrungen derart verarbeiten, dass sie andere zu unterwerfen und zu vernichten trachten. Er sieht darin Parallelen zur faschistischen Gewalt Anfang des 20. Jahrhunderts vorliegen. Darauf mit einer die westliche Zivilisation beschwörenden Kriegspolitik zu antworten, käme nur einer selbsterfüllenden Prophezeiung der islamistischen Avantgarden gleich. Sie sehen schon: die Beiträge machen es sich nicht leicht mit schnellen, leicht konsumierbaren Antworten…

W: In Ihrem eigenen Beitrag behandeln Sie die inzwischen sehr populäre und von antideutschen Kreisen gern und oft kolportierte These, das Erstarken des Antisemitismus im Hitlerfaschismus verdankten wir vor allem „dem kleinen Mann“ und die Vernichtungslager seien Resultat einer fehlgeleiteten antikapitalistischen Revolte von unten. Eines der vielen Denkgebäude, was die Trennung zwischen links und rechts zunehmend zu nivellieren versucht. Kam der Faschismus eigentlich „von unten“, wie man uns neuerdings gerne glauben machen mag?

H: Innerhalb der linken und marxistischen Tradition in Ost und West wurde der Faschismus als eine Form bürgerlicher Herrschaft dargestellt. Er kam dieser Lesart zufolge also „von oben“. Prinzipiell ist diese Erkenntnis ja auch richtig und die vielen jüngeren historischen Untersuchungen zu Einzelunternehmen und ihrem Profitieren im Dritten Reich bestätigen bloß, was allerdings nicht so Recht ins Massenbewusstsein treten darf: Dass natürlich der NS-Faschismus im Dienste des Kapitals agierte.

Dennoch ist dies nur die halbe Wahrheit. Denn der Vernichtungsantisemitismus und die Mobilisierungskraft des NS-Faschismus, der ja eine Antwort auf die Krise von 1929 war, stellte eine Überforderung des klassischen Marxismus dar, seines Geschichtsoptimismus, seiner Annahme, Krise führe sozusagen per se zu revolutionären Aktionen der Arbeiterklasse und seiner teilweise simplen Machtsoziologie. In Anschluss an den dissidenten Marxisten und Psychoanalytiker Wilhelm Reich haben so die Vertreter der sogenannten Kritischen Theorie versucht, zu erklären, warum auch die Leute „von unten“ teilweise für ein Projekt wie den Nationalsozialismus zu gewinnen waren, ja dem Führer bereitwillig entgegenarbeiteten. Eben auch bei der Massenvernichtung der Juden. Ohne auf die „Massenpsychologie des Faschismus“ zu reflektieren, bleibt meines Erachtens jede Faschismusanalyse unterkomplex.

Im Buch zeichnet der Freiburger Punkrocker Michael Koltan die unterschiedlichen Vorstellungen vom Faschismus und der Rolle des Antisemitismus im NS bei den wichtigen Köpfen der Frankfurter Schule nach, die sich den massenpsychologischen Aspekten des Nationalsozialismus widmeten: bei Adorno und Horkheimer gerinnen sie zu spekulativer Geschichtsphilosophie, bei Herbert Marcuse und Franz Neumann jedoch, die den US-Geheimdiensten im Kampf gegen den Hitlerfaschismus zugearbeitet haben, werden wichtige Einsichten über Rolle und Funktion des Antisemitismus geliefert, die den blinden Fleck des Marxismus in dieser Hinsicht beheben konnten.

Dass die Geburt des NS-Faschismus aus der Krise des Kapitalismus 1929 und die ihn tragenden gesellschaftlichen Schichten und Klassen im öffentlichen Diskurs verdrängt wurden, dafür stehen jeweils auf ihre Art die Namen Daniel Goldhagen und Götz Aly: Der US-amerikanische Soziologe Goldhagen zeichnet eine schlichte Sonderwegs-Linie eines ewigen eliminatorischen Antisemitismus von Luther bis Hitler, den alle Deutschen als kulturellen Code geteilt hätten. Und der Berliner Historiker Götz Aly, der aus der Linken kommt und in der Vergangenheit schon einmal bessere Forschung betrieben hat, sieht im Antisemitismus der Deutschen eine tendenziell egalitäre Bereicherungsbewegung, die neidgefüttert auf Enteignung der angeblich reicheren, flexibleren und klügeren Juden abzielt. Der Antisemit ziele eigentlich darauf ab, Gleichheit herzustellen und sei mit seiner Vorstellung den marxistischen Egalitätsvorstellungen und klassenkämpferischen Ansätzen, die Kapitalisten zu enteignen, daher mit diesen auf eine Stufe zu stellen.

Nun ja, und im linken Milieu gibt es den US-amerikanischen Marxisten Moishe Postone, der im NS-Antisemitismus eine antikapitalistische Revolte gegen die „abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses“ erblicken will. Alle drei eint, dass sie von Klassen- und Machtverhältnissen im Nationalsozialismus absehen, dass sie die Rolle der „kleinen Leute“ überbetonen und ihnen daher die aggressiven Trägerschichten des Nationalsozialismus aus dem Blick geraten.

Alle drei treibt dabei auch ein heftiges geschichtspolitisches Interesse um: Götz Aly mit der Herabsetzung alles Linken, das er nur als totalitär rezipieren kann, wie beispielsweise die 68er, die er als direkte Kinder Hitlers skizziert und nicht etwa als eine Generation, die mit den autoritären faschistischen Eltern abrechnen wollte. Und Goldhagen eben als Fürsprecher von Kriegen und Interventionen gegen neue Konstellationen, in denen angeblich eliminatorische Vernichtung um sich greife…

W: Das klingt ja ein wenig wie die andere vermeintlich antifaschistische These, man müsse „die neuen Hitlers“ dieser Welt mit Krieg bekämpfen, um Faschismus zu verhindern. Womit wir dann wieder bei der antideutschen Ideologie wären, nehme ich an…

H: Richtig, man kann sich noch erinnern, dass die Realogrünen die Reste der linken und antimilitaristischen Grünen 1999 zum Kriegseintritt gegen Serbien überstimmten. Die Kriegsbereitschaft in der grünen und sozialdemokratischen Staatslinken hatte Joschka Fischer mit seinem „Nie wieder Auschwitz“ befeuert. Hier war die radikale und außerparlamentarische Linke, die die „Nie-wieder-Deutschland“-Stimmung von 1989/90 teilte, noch gegen den Krieg.

Mit 9/11 setzte sich im antideutschen Milieu, also einigen Antifa-Gruppen, der Monatszeitung Jungle World sowie in marxistischen Lesekreisen, dann aber das durch, was sich 1991 bereits in der großen linken Publikumszeitschrift „konkret“ bahnbrach: Man müsse mit Bush senior bzw. junior gegen arabische und islamische Despoten und Terroristen vorgehen, um angeblich Israel zu schützen – so viel auch zum außenpolitischen Programm – und außerdem der angeblich antiamerikanischen und antisemitischen Friedensbewegung eins auszuwischen – so viel zum innenpolitischen Programm.

Die deutsche Linke wird an diesem Irrsinn und seinen Folgen noch einige Jahre zu knabbern haben: Goldhagens Thesen wurden von dieser “antideutschen“ Linken Mitte der 90er Jahre breit rezipiert und von ehemals „antideutschen“, nun neokonservativen Publizisten wie Matthias Künzel, die am liebsten heute schon den Iran mit Bomben eindecken wollen, als adäquateste Theorie zur Erklärung des NS-Antisemitismus betrachtet. War für Rot-Grün der neue Hitler noch der Serbe Milosovic, so ist er für die Antideutschen immer sehr arabisch, sitzt im Nahen Osten und liest den Koran.

W: In welcher Situation sehen Sie die gesellschaftliche Linke denn aktuell? Ist es zutreffend, dass die Kritik zunehmend aus den Parlamenten verschwindet und wir es immer mehr mit einer Art neoliberaler Einheitspartei zu tun haben?

H: Gab es fundamentale Kritik schon jemals im Parlament und hat sie dort einen angemessenen Platz? Mit dem Vater des Anarchismus Michael Bakunin – über dessen Deutschlandkritik der Anarchismusforscher Philippe Kellermann einen schönen Beitrag in dem Sammelband geschrieben hat – und dem Berliner Politikwissenschaftler Johannes Agnoli würde ich sagen: Nein.

Was Sie über die neoliberale Einheitspartei sagen, mag stimmen, viel schlimmer wiegt aber doch, dass eine im Kern neoliberale, konservative und islamfeindliche Anti-Immigrationspartei wie die AfD auch von Teilen der Arbeiter und Arbeitslosen als unangepasst, widerständig und wahrhaft anti-establishment angesehen wird. Diese wird aktuell als einzige Nicht-Einheitspartei rezipiert, wo sie doch nur die neoliberale Ideologie der Austerität mit der kultur- und sozialrassistisch begründeten Ausgrenzung anderer und einem rabiaten Konservativismus koppelt.

Der AfD gelingt es, glauben zu machen, wir würden von einem multikulturell verzückten, linksgrünen sowie „politisch korrekten“ Mainstream beherrscht, der von Angela Merkel über das grüne Milieu einer Claudia Roth bis zu männerhassenden Genderprofessorinnen an den deutschen Unis reichen. Die Linke habe einen Sieg in Kultur und Staat errungen, so die Klage, und man müsse daher gegen den Ausverkauf Deutschlands, gegen Homoehe und Frühsexualisierung an Schulen als Spätfolge von 68 und anderes rebellieren. Und diese Klage kommt an, besonders bei Leuten, die sich tatsächlich von der Dynamik der kapitalistischen Beschleunigung und der Liberalisierung im Bereich medialer und kultureller Überbauphänomene erdrückt fühlen – und sich konservativ an deutsche und abendländische Identitäten klammern, was immer das sein mag.

Diese Leute werden von einem Medienmarkt bedient, der von der auflagenstarken Zeitschrift Compact des ehemaligen „Antideutschen“ Jürgen Elsässer reicht, der mittlerweile so deutsch denkt, handelt und agitiert, dass das Verdikt, die Antideutschen seien bloß negative und verkrampft sich verstellende Nationalisten gewesen, Plausibilität erhält, bis zur „Jungen Freiheit“ oder verschwörungstheoretischen Publikationen aus dem Kopp-Verlag.

W: Was wäre Ihr Appell, was täte in dieser Situation gerade am meisten not?

H: Eine Linke, die unangepasst, widerständig und anti-establishment agiert, und zwar außerhalb der Institutionen, als wahrhaft autonome Kraft. Wo ist etwa die Medien- und Ideologiekritik geblieben, die mit Anti-Springer-Kampagnen am Anfang der 68er-Protestbewegung stand? Das rechte Geraune von „Lügenpresse“ ist zwar nicht aufklärerisch, erhascht aber dennoch einen Zipfel der Wahrheit.

Die Linke hätte die Aufgabe, eine aufklärerische Kritik der Medienmacht zu formulieren. Sie muss gleichzeitig die Idee der Solidarität nicht nur propagieren, sondern auch umsetzen können. Ein Einknicken vor migrationsfeindlichen Stimmungen, wie das aktuell teilweise zu beobachten ist, sorgt nur dafür, dass Kernbestandteile linken Denkens wie Solidarität und das Festhalten am Gedanken der globalen Gleichheit unterhöhlt werden.

Was wir aber haben, das ist eine Partei wie „Die Linke“, in der es zumindest Vielen inzwischen offenbar vor allem um Pöstchenjagd geht, ansonsten aber wenig radikale, im Sinne von „an die Wurzel gehende“ Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit zu finden sind. Und auch eine wirkliche außerparlamentarische Linke gibt es nicht mehr; die, die es gibt, hat weitgehend jeden Kontakt zu den Ausgebeuteten und Abgehängten verloren und bedient sich inzwischen fast nur noch einer Sprache, die kaum verstanden wird – das ist durchaus auch als Selbstkritik gemeint – oder sich auf die Artikulation von Anliegen des „Patchwork der Minderheiten“ festgelegt und damit jeglichen universalistischen Anspruch aufgegeben hat.

Das von mir herausgegebene Buch „Deutschland.Kritik“ erinnert ja nicht umsonst an eine ganze Traditionslinie antiautoritärer linker Tradition. So würdigt der Historiker Christoph Jünke den libertär-marxistischen Sozialpsychologen Peter Brückner, der die Besonderheit der post-faschistischen BRD-Konstellation mit ihrem Untertanengeist kritisierte und dennoch an eine internationale Debatte um eine Erneuerung von sozialen Kämpfen jenseits der starren Gewerkschaftsapparate anknüpfen wollte.

Ein solcher Zugang zur Wirklichkeit muss aktualisiert werden. Von der subversiven Kraft der 60er-Bewegungen ließe sich diesbezüglich einiges lernen, nicht umsonst wollen ja die neoliberal gewendeten Fürsprecher des Bestehenden wie Götz Aly den Bannstrahl über die 68er-Revolte verhängen. Der Antisemitismus-, Antiamerikanismus- und Faschismusvorwurf ist dabei zum beliebtesten Diskursjoker geworden, wenn es darum geht, das Erbe der Fundamentalopposition madig zu machen. Dies zeigt der Protestforscher und Politologe Markus Mohr in seinem Beitrag über „Die ‚antideutsche‘ Geschichtsschreibung des Linksradikalismus in der Bundesrepublik nach 1967“.

Und auch an die Erfahrungen der osteuropäischen Subkulturen und staatsfernen Linken lässt sich anknüpfen, wie die der DDR-Opposition entstammende Aktivistin Anne Seeck in ihrem Beitrag über „Die DDR – zu wenig sozialistisch, zu deutsch“ zeigt. Sie insistiert darauf, dass es keinen Grund gibt, sich einer Ostalgie für die autoritäre Gartenzwergidylle der DDR, die in vielen Verkehrsformen und praktizierten Sekundärtugenden deutsche Mentalitäten konserviert und bloß rot angestrichen hat, zu befleißigen. Seeck endet dann mit dem Appell, dem ich mich nur anschließen kann:

„Eine Reflexion über Verknüpfung von Freiraumpraxis, Nachdenken über Utopien und Aktivität im gesellschaftlichen Umbruch 1989 kann für eine heutige Linke und ihre Alternativendiskussion jenseits des Kapitalismus äußerst wertvoll sein.“

W: Ich bedanke mich für das Gespräch.

Gerhard Hanloser, Jahrgang 1972, studierte Soziologie, Geschichte, Pädagogik und Germanistik in Freiburg im Breisgau. Hanloser lebt in Berlin und arbeitet als Lehrer und Publizist. Er veröffentlichte 2004 eine der bekanntesten Darstellungen und Kritiken der Antideutschen: „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken: Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik“ im Unrast-Verlag.

Das Interview erschien in den NachDenkSeiten am 23.09.2016.

Hier der Link zum Text: nachdenkseiten.de/?p=35141

Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jensewernicke.wordpress.com.

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