Der Sieg der Palästinenser/innen in Jerusalem

von Petra Wild.

Am 26. Juli baute Israel die Metalldetektoren und Kameravorrichtungen, die es zuvor an den Zugängen zum Haram al-Scharif installiert hatte, komplett ab. Damit erfüllte es die Forderung der Palästinenser/innen und nahm den Versuch, seine Kontrolle über das Gelände auszudehnen, auf dem die al-Aqsa-Moschee und der Felsendom liegen, zurück.

13 Tage und Nächte hatten die Palästinenser/innen – Muslime und Christen, Gläubige und Atheisten, Frauen und Männer, Alte und Junge – dagegen gekämpft und am Ende gewonnen. Zehntausende hatten kontinuierlich die Zugänge zu der von Israel geschlossen al-Aqsa-Moschee belagert, massenhaft auf den Straßen gebetet, in der Westbank, dem Gaza-Streifen und innerhalb der Grünen Linien demonstriert, sich heftige Straßenschlachten mit der israelischen Armee und Polizei geliefert und beinahe täglich militante Angriffe durchgeführt. Sie ließen sich weder von brachialer Gewalt einschüchtern, noch mit faulen Kompromissen abspeisen. Sieben Palästinenser wurden während der Auseinandersetzungen getötet, mehr als 1000 verletzt und Hunderte verhaftet.

Versuchte Ausdehnung der israelischen Kontrolle über den Haram al-Scharif 

Die Errichtung von Metalldetektoren und Kameravorrichtungen an den Zugängen zum Haram al-Scharif war mehr als nur die Einführung neuer Sicherheitsmaßnahmen. Sie war der Versuch Israels, seine Souveränität schrittweise auf die muslimischen heiligen Stätten auszudehnen. Die al-Aqsa-Moschee ist nach Mekka und Medina das drittwichtigste Heiligtum aller Muslime und für die Palästinenser/innen eines der wichtigsten Symbole ihres Kampfes um Befreiung, Rückkehr und Selbstbestimmung.

Seit der militärischen Besetzung der Stadt gibt es ein Abkommen zwischen Israel und Jordanien, unter dessen Kontrolle Jerusalem seit 1948 gestanden hatte, das den Status, die Verwaltung, den Zugang zu den heiligen Stätten und ähnliches regelt. Diesem Abkommen zufolge wird der Haram al-Scharif von einer muslimischen Behörde verwaltet und kontrolliert. Israel hat keine Souveränität über das Gelände und darf dort keine Veränderungen vornehmen. Seit einigen Jahren untergräbt Israel dieses Abkommen in zunehmendem Maße. Nachdem es sich bereits 87% des Landes Ost-Jerusalems angeeignet, in den letzten Jahren die Vertreibung der einheimischen Palästinenser/innen verstärkt und den Umbau dieser alten arabischen Stadt in eine jüdisch-europäische intensiviert hat, steht nur noch die Übernahme der Kontrolle des Haram al-Scharif aus, um das Projekt der „ewigen, unteilbaren Hauptstadt“ Israels zu vervollständigen. Die Geschichte dieser alten, von den Kanaanitern gegründeten Stadt wird als jüdische konstruiert und monopolisiert, obwohl Juden weder die einzige noch die vorherrschende Bevölkerungsgruppe in der Stadt waren. In den 7000 Jahren Besiedlungsgeschichte Jerusalems spielten sie höchstens 400 Jahre eine größere Rolle. Jerusalem war über viele Jahrhunderte multireligiös und multikulturell.[1]

Israels Furcht vor weiterer Eskalation

Nachdem der israelische Inlandsgeheimdienst und die Armee nach tagelangen Kämpfen geraten hatten, die Metalldetektoren und Kameravorrichtungen abzubauen, da die Gefahr einer Eskalation zu groß sei, hatte die israelische Regierung zunächst auf deren Beibehaltung bestanden. Doch am 26. Juli machte Ministerpräsident Netanjahu eine jähe Kehrtwendung und befahl den Abbau der Vorrichtungen. Offenbar fügte er sich schließlich doch den Warnungen des Inlandsgeheimdienstes und der Armee.

Tatsächlich versammelten sich jeden Tag mehr Menschen auf den Straßen, so dass abzusehen war, dass der bevorstehende zweite „Freitag des Zorn“ noch heftiger werden würde als der erste. Die militanten und bewaffneten Angriffe verzehnfachten sich in den beiden Wochen nach der Schließung der al-Aqsa-Moschee. 19 Angriffe wurden vom israelischen Sicherheitsapparat vereitelt.

Wie das israelische Fernsehen am 25. Juli berichtete, gab es einige Polizisten, die den Dienst an den Kontrollpunkten in der Umgebung der al-Aqsa-Moschee aus Angst vor palästinensischen Angriffen verweigerten.

Diese Angriffe sind völkerrechtlich legitimiert durch das Recht auf Widerstand – einschließlich des bewaffneten Widerstands -, dass die UNO in den 1970er Jahren allen kolonisierten oder unter ausländischer Besatzungen stehende Bevölkerungen zugesprochen hat. Dasselbe gilt für die Erschießung von zwei israelischen Polizisten am 14. Juli an einem der Zugänge zum Haram-al-Scharif durch Palästinenser, die von Israel zum Vorwand genommen worden war, um dort ein neues Regime einzuführen.

Die palästinensischen Massen agierten autonom, jenseits der Kontrolle durch die traditionellen PLO-Organisationen, die durch die Oslo-Abkommen von Israel kooptiert worden waren. Die Proteste wurden geleitet von Nachbarschaftsorganisationen, der autonomen Jugendbewegung und dem religiösen Establishment in Jerusalem. Diese autonome Struktur, die die Wiederbelebung des palästinensischen Kampfes seit 2014 prägt, ist für Israel schwer zu durchschauen und noch schwerer zu kontrollieren. Dadurch wird die Entwicklung der Auseinandersetzung mit den Palästinenser/innen für Israel sehr viel unkalkulierbarer.

Ein Meilenstein in der Entwicklung des palästinensischen Kampfes

Die Klarheit, Entschlossenheit und politische Reife, die die Palästinenser/innen im Kampf um die muslimischen Heiligtümer gezeigt haben, ist das Ergebnis der politischen Prozesse der letzten Jahre. In Sommer 2014  begann die allmähliche Wiederbelebung des palästinensischen Kampfes, der durch die Niederschlagung der 2.Intifada 2000-2004 für viele Jahre weitgehend zurückgedrängt werden konnte. Die Auslöser dafür waren die brutale Ermordung des 16jährigen Muhammad Abu Khdeir in Jerusalem, den Siedler entführten, ihm gewaltsam Benzin einflößten und bei lebendigem Leib verbrannten, sowie der dritte Krieg gegen den Gaza-Streifen, der kurz danach begann.

Die palästinensische Jugend hat begonnen, den Kampf außerhalb des traditionellen politischen Rahmens zu reorganisieren. Da sie um die Zeit der Unterzeichnung der Oslo-Abkommen herum geboren wurde, wird sie die Oslo-Generation genannt. Diese Generation glaubt nicht mehr an die falschen Friedensversprechen und hat keine Illusionen mehr, was ihre eigene offizielle Führung anbelangt. Sie spricht wieder von Befreiung und hat die Wiedererlangung aller palästinensischen Rechte – einschließlich des Rechts auf Rückkehr und Entschädigung – wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Ihr Horizont ist das gesamte historische Palästina. Diese Jugend war es auch, die im Oktober 2015 mit einem Mini-Aufstand auf erneute tödliche Siedlergewalt und die zunehmenden israelischen Übergriffe auf den Haram al-Scharif reagierte. Dieser Mini-Aufstand entwickelte sich zwar nicht zu einer Massen-Intifada, aber die Konfrontation auf der Straße sowie die militanten und bewaffneten Aktionen gehen seitdem mit niedriger Intensität weiter. Nicht nur die Jugend greift nach 25 Jahren fruchtloser Verhandlungen mit Israel wieder auf die Widerstandsoption zurück, auch die Bevölkerung tritt dafür ein, so zeigt eine Umfrage des Palestinian Centre and Survey Research vom Dezember 2015. Zweidrittel der Palästinenser/innen unterstützen Messerangriffe auf israelische Siedlerkolonialisten innerhalb und außerhalb der Westbank. Ebenso viele sind der Ansicht, dass durch einen bewaffneten Aufstand mehr erreicht werden könnte als durch weitere Verhandlungen mit Israel.[2]

Der Kampf um die al-Aqsa war ein deutlicher Ausdruck der Verstärkung des Widerstands der palästinensischen Bevölkerung. Er hat gezeigt, dass auch die Basisorganisationen in der Lage sind, den Kampf um die Durchsetzung einer Forderung zu führen und zu gewinnen. Die PLO spielte so gut wie keine Rolle in der Auseinandersetzung. Das gleiche gilt für die Palästinensische Autonomiebehörde, auch wenn deren Präsident Mahmoud Abbas sich nun als Retter Jerusalems feiern lässt, obwohl er keinen Finger dafür gerührt hat. Auch die arabischen Könige und Präsidenten schwiegen bzw. unterstützten Israel. Der saudische König stimmte der Installierung von Kameras auf dem Haram al-Scharif zu und der jordanische König ließ einen Wachmann der israelischen Botschaft in Amman ausreisen, nachdem dieser zwei jordanische Staatsbürger erschossen und einen dritten lebensgefährlich verletzt hatte.

Die Palästinenser/innen forderten in ihren Parolen den Sturz der saudischen Königshauses, verurteilten König Abdullah 2 von Jordanien und bezeichneten den ägyptischen Präsidenten Abdel-Fatah al-Sisi als Hund und Kollaborateur der USA.

Die Palästinenser haben auch ohne Unterstützung der arabischen Potentaten gewonnen. Mit dem Kampf um die al-Aqsa-Moschee, der gleichzeitig auch ein Kampf um Ost-Jerusalem war, haben sie gezeigt, wem die Stadt wirklich gehört. Als die Palästinenser/innen nach dem Abbau der neuen Sicherheitsvorrichtungen nach fast zwei Wochen erstmals wieder auf das Gelände der al-Aqsa-Moschee kamen, schwenkten sie, um das zu unterstreichen, auf deren Dach die palästinensische Flagge.

Die Rückkehr der Palästina-Frage auf die arabischen Straßen

Es gibt in Deutschland die Tendenz, die Palästinenser/innen nur als Opfer zu sehen, als bloße Objekte israelischer Willkür und Gewalt. Der Kampf der Palästinenser/innen wird von vielen nicht wahrgenommen und von ebenso vielen nicht gut geheißen. Aber eine einheimische Bevölkerung, die einem europäischen Siedlerkolonialismus, wie der Zionismus einer ist, ausgesetzt ist, hat gar keine andere Wahl. Wenn sie überleben will, muss sie kämpfen. Die Palästinenser/innen leisten seit fast 120 Jahren mit allen Mitteln Widerstand gegen die Siedlerkolonisierung ihres Landes und ihre Vertreibung. Nur deswegen gibt es sie als Palästinenser/innen überhaupt noch. Dieser Kampf ist Teil ihrer Geschichte, Kultur und Identität, er gibt ihnen ihren Stolz und ihre Würde. Die Palästinenser/innen sind Subjekte und sie machen Geschichte. Sie bloß als Opfer und Objekte israelischen Handels zu sehen, wird ihnen nicht gerecht und nimmt ihnen ihre Würde.

In der arabischen Welt ist die Wahrnehmung der Palästinenser/innen völlig anders. Dort gelten sie als Bevölkerung von „Giganten“ und werden vor allem für ihren Widerstandsgeist und beharrlichen Kampf geliebt und bewundert.

Die israelischen Angriffe auf den Haram al-Scharif haben zu einer deutlichen Wiederbelebung der Palästina-Solidarität in der arabischen Welt geführt. Am „Freitag des Zorns“ am 21. Juli demonstrierten nicht nur in Palästina Hunderttausende, sondern auch in der arabischen Welt. Von Mauretanien über Tunesien, den Libanon, Syrien und Jordanien bis zum Jemen waren große Menschenmassen auf den Straßen. Israelische Fahnen wurden verbrannt und „Tod Israel“-Rufe waren zu hören. Die intensiven Versuche der Golfstaaten und Israels, die arabischen Bevölkerungen von der Palästina-Frage abzubringen und an deren Stelle einen konstruierten schiitisch-sunnitischen Konflikt zu setzen, sind offensichtlich gescheitert. Wenn selbst im Jemen, der von Krieg, Hunger und Cholera geplagt wird, Hunderttausende für Palästina auf die Straße gehen, dann zeigt das den Stellenwert, den die Palästina-Frage in der arabischen Welt noch immer hat.

Quellen

[1]: Said, Edward, Edward Said’s last Essay on Jerusalem, 1995. The Current Status of Jerusalem, 1995, reprinted in; Jerusalem Quarterly, Spring 2011; Emek Shaveh, Archeology in the Shadow of Conflict, Jerusalem, o.J. ;

[2]: Wild, Petra, Ein Jahr nach dem Mini-Aufstand – Habba Sha’biyya im besetzten Palästina; Inamo 88, Jahrgang 22, Winter 2016, S.27-30

Petra Wild ist Islamwissenschaftlerin mit den Arbeitsschwerpunkten Palästina-Frage sowie Widerstand und Revolution in der arabischen Welt. Sie ist Autorin der Bücher „Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina. Der zionistische Siedlerkolonialismus in Wort und Tat“ (Wien, 2013) und „Die Krise des Zionismus und die Ein-Staat-Lösung. Zur Zukunft eines demokratischen Palästinas“ (Wien, 2015)

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