Der große Sklavenmarkt

Von Susan Bonath.

Im Interesse des Kapitals: Die Politik lässt Massen verarmen und treibt die Ausbeutung auf die Spitze. Die Mehrheit duldet das – und macht mit.

Überflüssige zum »scheiße finden«

Jüngst heizte eine Schlagzeile von »Welt online« den selbstgerechten Mob selbsternannter einheimischer Inquisitoren an: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will Flüchtlingen das Bargeld kürzen. Alleinstehende Erwachsene sollen 22 Euro weniger bekommen. Dafür solle ihnen die Stromrechnung bezahlt werden. Ein Gesetzentwurf, den sich Nahles dafür hat verfassen lassen, sieht das vor. 22 Euro für eine Stromrechnung? Wie kann das sein?, empört sich der des Rechnens mächtige Wutbürger in der Kommentarspalte. Sofort wittert er Begünstigung einer Gruppe, die er so richtig scheiße findet: Leute, die komische Sprachen sprechen, Kopftücher tragen, dunkelhäutige Kinder spazieren führen – die einfach anders aussehen, als die Nachbarn in der Reihenhaussiedlung.

Was bei aller Empörung untergeht, ist wieder einmal: Es geht um 332 Euro Monatsbudget, von dem ein Alleinstehender ab 2017 alles – außer Miete und Energie – berappen soll: Es geht um 598 Euro für ein Paar. Im Monat. Es geht um 206 Euro, von denen ein Kind unter sechs einen Monat lang ernährt, gepflegt und eingekleidet werden muss, um 258 Euro für ein sechs- bis 13jähriges Schulkind, 265 Euro für die 14- bis 17jährige Tochter und nur einen Euro mehr für den erwachsenen Sohn unter 25. Dazu kommt kein Kindergeld, keine sonstige Hilfe – kein nichts. Auch, wenn wir 50 Euro für Strom dazurechnen, bekommt eine vierköpfige Familie 200 Euro weniger als selbige im Hartz-IV-Bezug. Auch ein Alleinstehender liegt selbst dann noch mit 30 Euro darunter – wohlgemerkt unter dem angeblichen, spärlichen Existenzminimum.

Und was Andrea Nahles nicht sagt: Die allermeisten Flüchtlinge kommen gar nicht in den »Genuss« einer bezahlten Stromrechnung. Denn bis zu ihrer Anerkennung leben sie in Unterkünften. Danach könnten sie, so sie keine Arbeit haben, Hartz IV beantragen. Für jene, die in Unterkünften leben, wird das Geld für Strom längst schon von den Minisätzen abgezogen. Und der Rest kommt nun dazu.

Und was schwarz auf weiß in einem Papier des Bundesarbeitsministerium geschrieben steht, aber nirgends propagiert wurde: Es geht nicht um die Stromrechnung. Das Budget für Essen und Bekleidung wird gekürzt. Ganz klar. Und zwar – je nach Alter – um 10 bis 32 Euro. Als »Wohltat« wird eine Erhöhung des Budgets für »persönlichen Bedarf«, also Hygiene, Mobilität, Telefon, Windeln fürs Baby – von der Regierung als »Taschengeld« bezeichnet –, gepriesen: Um null bis zehn Euro. Ein Zahlenspiel mit Empörungspotenzial zum Kleinrechnen und noch kleiner Rechnen, an dem sich Michel nur allzu gern beteiligt. Und bar jeder Realität unbeirrt zu hoffen scheint: Bekommen die weniger, gibt es mehr für mich. Vielleicht.

Geächtete als Versuchskaninchen

Das ist ein lang gepflegter Irrtum. Die gesamte Geschichte des industrialisierten Kapitalismus zeigt: Schon immer wurden soziale Einschnitte, Verarmungsprogramme, Lohnsenkungen, Entrechtungen usw. an der jeweils am meisten geächteten Gruppe zuerst ausprobiert. Hier seien nur kurz die Roma, die Juden, die Kommunisten, die Sozialisten, die Erwerbslosen, die Bettler, die Obdachlosen, die Leiharbeiter, die Muslime, die Nordafrikaner, die EU-Migranten, die Schwarzen und das Billigheer der Türken in der alten BRD erwähnt.

Hatte es erst einmal angefangen, wurde die Gruppe derer, die es am Ende traf, größer und größer – seit jeher. Drum muss man fragen: Wer kommt nach den Flüchtlingen? Die Langzeiterwerbslosen. Die Armen. Die Obdachlosen. Und dann? Die Leiharbeiter. Die prekär Beschäftigten. Die Soloselbständigen. Die kleine Verkäuferin mit 100-Stunden-Vertrag. Letztlich werden die Lohnsenkungen auch den Fließbandarbeiter bei VW einholen, der dann seine Frau in den zweiten Minijob schickt, um den Hauskredit abzuzahlen.

Kein Herrschender hatte je Interesse daran, ein bestimmtes »Volk« besser zu stellen – egal in welchem Land. Um Profite zu erzielen, wird er jeden unterdrücken, der ihm vor die Flinte kommt, in jedem Ort, in jedem Land, ob schwarz, gelb oder weiß. Und angesichts dessen, dass die politische Klasse aus seinem Topf gefüttert wird: Ist es nicht Irrsinn, zu glauben, dass Minister und Parlamentarier das anders sehen?

Die Ausbeutungsspirale

Aus Sicht des Kapitals sind die Flüchtlinge bestens dazu geeignet, das Heer der potenziellen, schnell verfügbaren Billiglöhner aus deutschen Langzeitarbeitslosen dauerhaft aufzustocken. Das passiert bereits seit Jahren. Zum Beispiel durch die Leiharbeit: Fast eine Millionen Menschen fristen damit inzwischen im reichen Deutschland ihr Leben von der Hand in den Mund, immer unterwegs zum nächsten Arbeitseinsatz für einen Tausender im Monat. Oder weniger. Das besagen die jüngsten Zahlen. Diese steigen und steigen und mit ihr die flexibel verwertbare Masse, die um jeden Preis ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um nicht im Hartz-IV-System zu landen und von dort von Jobcentern nicht nur für noch weniger Lohn zwangsverpflichtet sondern vom auch von selbigen komplett enteignet zu werden. Das Hartz-IV-System wurde gerade zu diesem Zweck eingeführt. Die Politik nahm damals, vor zwölf Jahren, nicht einmal ein Blatt vor den Mund. Schröder und Co. sagten ganz offen: Ziel sei es, den Niedriglohnsektor auszubauen. Lohnerwerbslose seien mit drakonischen Strafen genau in diesen hineinzuzwingen.

Inzwischen ist der Billiglohnsektor bis in hochqualifizierte Bereiche vorgedrungen: Dozenten schleppen sich von Uni zu Uni, um Vorträge gegen miese Honorare zu halten. Studenten und junge Fachkräfte hangeln sich von Praktikum zu Praktikum. Arbeitslose Ingenieure werden von Jobcentern zum Rasen Mähen für 1,25 die Stunde verdonnert, wenn sie nicht gerade »lernen« sollen, sich besser zu vermarkten. Die Zahl der Minijobber stieg von sechs auf mehr als 7,5 Millionen an. Eine Million Rentner stocken inzwischen damit ihre mageren Altersbezüge auf – ebenfalls Tendenz steigend. Arbeiten bis zum Tod. »Working poor« rund um die Uhr trifft immer mehr. Und dank der Automatisierung dreht sich die Spirale immer schneller. Doch der deutsche Lohnabhängige verachtet sie weiterhin: Die »Unproduktiven«, die »Leistungsversager«, die wachsende »Unterschicht«, in der er schon mit einem Fuße steckt – vor allem die, die er nicht kennt.

Das Märchen von »sozialer Marktwirtschaft«

Mithin: Prekäre Beschäftigung ist nicht neu im Kapitalismus. Während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert war sie Gang und Gäbe. Verarmte Eltern verliehen ihre Kinder zum Putzen an reiche Haushalte. Besser gestellte Vorarbeiter heuerten ihre eigenen »Leiharbeiter« auf dem »Tagelöhnerstrich« an und ließen sie in der Firma ihres Herren für »´nen Appel und ´n Ei« schuften. Der Kapitalismus blühte geradezu dank Abertausender bettelarmer Selbstvermarkter auf, die, aus der Not heraus, mit Wägelchen durch Straßen zogen, um selbstgedrehte Zigarren an den Mann zu bringen oder reichen Herren Schuhe zu putzen.

Das von Linken und Gewerkschaften geforderte »Normalarbeitsverhältnis« ist somit eine kurzlebige Zeiterscheinung nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem irreführenden Namen »soziale Marktwirtschaft«. Der Glaube, diese Zeit käme unter heutigen Bedingungen einfach so zurück, ist irrwitzig. Nur zwei Bedingungen sorgten damals für diese etwa zwanzigjährige Periode im Deutschland der 50er und 60er Jahre: Eine vom Krieg zerstörte Wirtschaft, die nur wachsen konnte, der damit verbundene Mangel an Arbeitskräften sowie Billigprodukte aus der DDR und dem gesamten Ostblock, die auf Devisen angewiesen waren.

Schon in den 70ern wuchs in der alten BRD die Arbeitslosigkeit auf über eine Million. Das lag nicht etwa an wachsender Faulheit immer größerer Gruppen. Vielmehr war und ist es das Symptom verschiedener, absehbarer und bekannter Entwicklungen: Der Wiederaufbau war beendet, der Markt übersättigt, Maschinen machten Millionen Arbeiter überflüssig – und der Ostblock zerfiel wie zuvor die Kolonien. Die Folge: Lohnsenkungen, Abbau hart erkämpfter Arbeiterrechte, Ausbau der Leiharbeit, Senkung der Sozialleistungen. Die Binnenkaufkraft sank, das Heer rückte aus – um neue Märkte zu erobern.

Eure Armut kotzt mich an

Das Muster ist alt: Menschen werden entrechtet, klein gehalten, verarmt. Essen gegen Leistung: So zwingt man Massen in die Knechtschaft. Hartz IV war der Anschub für die neue Stufe der Ausbeutung. Hartz IV lässt den Arbeitenden gar keine Wahl: Wer den Mund nicht hält, gar etwas fordert, fliegt. Der fällt ins Nichts. Das Familienauto, das Häuschen oder Omas gute alte Möbel wechseln schneller als man gucken kann, den Besitzer. Das teure Studium der Kinder? Futsch. Großstadtbahnhöfe und -brücken sind der Film, der jedem zeigt: Das wird dir im schlimmsten Fall blühen. Wer dort nicht enden will, strampelt schneller. Und schneller.

Das im August in Kraft getretene Integrationsgesetz ist nichts weiter als ein Ausbau von Hartz IV. Wir leben nicht mehr im Mittelalter. Heute gießt die politische Front der Herrschenden harte Sanktionen, mit der Betroffene zu jeder Arbeit gezwungen werden können, in Gesetze, die vor Verachtung vor dem Pöbel nur so strotzen. Wer bei den Nazis als »Asozialer« in Gefängnisse und KZ´s deportiert wurde, kann heute in Nullkommanix dem Hunger- oder Kältetod ausgesetzt werden – mitten auf deutschen Straßen. Dazu reicht es, wenn ihm ein einfacher, aber möchtegerngroßer Jobcentermitarbeiter »sozialwidriges Verhalten« vorwirft, was nichts anderes als »asozial« im besten Nazisinne bedeutet. Der Geldhahn wird ihm zugedreht. Der Miethai sucht sich einfach einen solventen Mieter und setzt ihn auf die Straße. Dort vegetiert er hin, sich ohne einen Cent aus Mülltonnen ernährend, bettelnd, Flaschen sammelnd. Ob weiß, ob schwarz, ob Moslem, Christ oder Atheist: Dem Kapital und der politischen Klasse ist das egal.

Dieses Angstszenario strotzt uns inzwischen überall entgegen: Verwahrloste Jugendliche, heruntergekommene Bettler, Rentner die in Mülltonnen wühlen, Flüchtlinge, die vor Turnhallen herumsitzen oder in Schlangen vor Erstaufnahmezentren stehen. Diese Armut kotzt uns an. Gleichzeitig frönt die Masse dem politisch indoktrinierten »Selbst-schuld-Kult«: Erwerbslosigkeit, Armut, schlechte Jobs, ein Leben in ökonomischem Elend irgendwo auf der Welt – dafür sei jeder selbst verantwortlich, keineswegs ein Wirtschaftssystem, das diese Leute einfach nicht mehr braucht. Und dringend gestoppt werden müsste.

Das größte und cleverste Lügenmärchen der Herrschenden ist das von der individuellen Verantwortung für gesellschaftliche Verwerfungen. Es trägt Früchte in den Köpfen der Massen. Da heißt es nicht: Wir müssen die Aufrüstung stoppen, die Banken und Großkonzerne enteignen, die Verteilung besser organisieren, damit Menschen nicht mehr Hunger leiden, nicht mehr vor Waffen und Bomben fliehen müssen oder in Hartz-IV-Biographien enden. Dann heißt es: Such dir eine Arbeit. Oder: Verpiss dich aus Deutschland. So treibt die Masse die Verarmungs- und Ausbeutungsspirale mit voran. Ohne es zu realisieren.

Erst die einen, dann die anderen

Kurz gesagt: Hartz IV war eine von vielen Reaktionen der politischen Klasse auf die Verwertungskrise des Kapitals. Angefangen hatte es Anfang der 90er mit der von CDU und CSU forcierten Kampagne namens »Das Boot ist voll«. Die Asylgesetze wurden massiv verschärft, Leistungen dramatisch abgebaut. Man stelle sich den Aufschrei der Wirtschaft vor, hätte irgendeiner verlangt, die Förderungen für selbige gen null zu fahren? Oder die Vermögenssteuer nicht abzuschaffen, sondern auszuweiten? Oder millionenschwere Spekulanten zur Kasse zu bitten? Oder gar: Die Rüstungsproduktion sofort einzustellen?

Mit Flüchtlingen konnte man es machen. Indem man sie als »Eindringlinge« brandmarkte. Als »Sozialschmarotzer«. Halt: Wo sind die Leute eigentlich eingedrungen? In ein globales Wirtschaftssystem, das nationale Grenzen und Regierungen nur dazu nutzt, mittels Gesetzen, Vorordnungen und Richtlinien Menschen und Umwelt effektiver auszubeuten? In einen »Kulturkreis«, der den Ausbeutern völlig Latte ist? In die Hegemonie einer Gruppe eifriger Hamsterradläufer? Von einem Sklavenmarkt in den anderen?

Irgendwann, die Krise nahte und die (statistische) Arbeitslosigkeit verharrte bei sechs Millionen, musste etwas anderes her. Das Bashing gegen »faule« Deutsche begann. Wer nicht arbeite, solle nicht essen, posaunte SPD-Mogul Franz Müntefering in den neoliberalen Äther. Was nichts anderes heißt: Wer nicht zum Steine schleppen für einen Teller Suppe bereit ist, hat das Leben nicht verdient. Wer so nicht mit dafür sorgt, dass Millionen Niedriglöhner und Ein-Euro-Jobber dienstbereit bei Fuß stehen und die Bonzen immer reicher werden, muss verrecken. Und das Volk jubelte in einem Wahn spezieller Bewusstlosigkeit. Es ignorierte völlig, dass es nur zwölf Monate von selbiger Drangsal entfernt im Hamsterrad läuft.

Der unerschöpfliche Neid der Hamster im Rad

Und nun? Der Neid der Hamster auf langsamer laufende Hamster ist unerschöpflich. Flüchtlinge oder Hartzer, die essen müssen, einfach darum, weil sie Menschen sind? Nichts da! Da ist jedes Stückchen Brot, jede medizinische Behandlung zu viel. »Untermenschen« verdienen nichts dergleichen. Genauso wie die die »faulen« Griechen, Spanier, Portugiesen, Bulgaren, Rumänen, Afrikaner, Osteuropäer…….

Der lang und effizient gezüchtete Irrtum wabert wie nicht tot zu kriegende Bazillen in den Hirnen: Wird den einen genommen, würde schon den anderen gegeben. Das ist schon alleine deshalb Blödsinn, weil das zu Vergebene immer noch im Besitz einer bestimmten Klasse ist: Der Verwalter der Konzerne, Banken und des Geldes. Der Ölmogule, der Agrarbonzen, der Waffenproduzenten.

Ein Träumer ist, wer glaubt, die satten Bonzen würden ohne Flüchtlinge und mit härtesten Arbeitsprogrammen für vermeintliche Faulpelze auch nur einen Cent mehr locker machen zugunsten der wachsenden deutschen Unterschicht. Sich dieses einzureden, ist vergleichbar mit der Arroganz von Sklaven, die sich recken und strecken an der Verkaufsrampe, während ihre Ketten klirren, um vom freundlichsten Sklaventreiber mitgenommen zu werden. Das ist die Selbstgefälligkeit derer, deren Freizeit darin besteht, den Befehlen eines Menschen, der nicht zwingend mehr Verstand, dafür aber mehr Kohle auf dem Konto hat, zu gehorchen.

 

Danke an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung des Artikels.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln


Auch interessant...

Kommentare (15)

Hinterlassen Sie eine Antwort