Das Märchen von den überforderten Intensivstationen | Von Hermann Ploppa

Der knallharte Überlebenskampf zwingt deutsche Kliniken zur Erzeugung falscher Zahlen, zu Konkurrenzdruck und Bilanzbetrug

Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Kanzlerin Merkel hat sich die neuen Sondervollmachten vom Bundestag gewähren lassen, um einen gesundheitlichen Notstand wirkungsvoll zu bekämpfen. So sagt sie. Als zentrale Begründungen für den bundesweiten Hausarrest mit nachgereichter Impfpflicht führt Merkel an: erstens hohe Inzidenzwerte. Nun wissen wir alle, dass die Inzidenzwerte dadurch zustande kommen, dass die Leute „kostenlose“ Corona-Selbsttests machen und dann möglicherweise ganz verängstigt zum nächsten PCR-Test eilen.

Der andere Grund zum Hausarrest: die Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern seien hoffnungslos überfüllt. Demnächst müssten dann mit dem Tod ringende Patienten nachhause geschickt werden. Ein Fall für die so genannte „Triage“: Ärzte selektieren, wer als lebenswert zu gelten hat und wer nicht.

Stimmt das mit den überlasteten Intensivstationen?

Zweifel sind angebracht. Zunächst einmal wurde die Anzahl der Intensivbetten in Deutschland über die Jahrzehnte immer weiter aufgebaut. So verfügten Deutschlands Krankenhäuser bis zum Jahre 2020 noch über 32.000 Intensivbetten. Diese wurden jedoch schon zwischen Juli und November 2020 auf 28.814 Intensivbetten heruntergefahren (1). Das alleine gibt schon sehr zu denken. Jedoch schrumpfte die Anzahl der Intensivbetten noch einmal um etwa 6.000 auf heute 22.637 Betten. (2). Wie kommt es, dass gerade in Zeiten einer angeblich derart schweren Seuche annähernd 10.000 Intensivbetten abgebaut werden? Der ehemalige Hauptgeschäftsführer Georg Baum begründete das damit, dass „die Belegungsdichte zur Infektionsprävention zurückgefahren werden muss und weil Mitarbeiter erkranken und quarantänebedingt ausfallen.“ (3)

Nun ja, aber wenn wirklich so eine große Gefahr für den Fortbestand der Bevölkerung durch Corona bestehen würde, müssten doch alle Mittel der Welt in Bewegung gesetzt werden, um dieser Gefahr zu begegnen?

Wir nähern uns dem Thema an, wenn wir das DIVI-Register betrachten. Die Deutsche Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin veröffentlicht seit Beginn der Corona-Kampagne ausführliche Berichte über die Situation der Intensivstationen, und zwar für jedes einzelne Krankenhaus in unserer Republik. Der Youtuber Samuel Eckert hat sich die Mühe gemacht, die Situation jeder einzelnen Intensivstation in Deutschland unter die Lupe zu nehmen (4). Wir sehen dabei: die Anzahl der Intensivpatienten ist über die ganze Corona-Welle hinweg immer gleich geblieben. Es gibt im Augenblick sogar weniger Intensivpatienten als im Sommer letzten Jahres. Das kann gar nicht anders sein. Dem entspricht nämlich, dass wir in diesem Frühjahr deutlich weniger Sterblichkeit haben als im Mittel der letzten vier Jahre (5).

Was also ist anders? Wie kommt es, dass die Intensivstationen dennoch eine Auslastung von bis zu hundert Prozent an DIVI melden? Nun, am 19. November 2020, im Windschatten der Neufassung des umstrittenen Infektionsschutzgesetzes wurde auch das Krankenhausfinanzierungsgesetz geändert (6). In der Neufassung ist vorgesehen, dass Krankenhäuser für ihre Intensivstationen besondere Förderbeträge aus dem Gesundheitsfonds bekommen. Voraussetzung: im Landkreis des betreffenden Krankenhauses übersteigt der Inzidenzwert 70 auf 100.000 Einwohner. Zudem muss die Intensivstation zu über 75 Prozent mit Patienten belegt sein. Den erforderlichen Inzidenzwert schaffen wir locker. Aber um eine Belegung der Intensivstationen mit über drei Viertel melden zu können, bedienen sich die Krankenhausmanager eines bestechend einfachen Tricks: die Krankenhäuser schieben einfach leere Betten aus der Intensivstation auf den Korridor, melden die Betten ab – und schon sind sie am Limit! Dass so etwas möglich ist, kann man sich als Außenstehender kaum vorstellen, aber so einfach ist das tatsächlich. Das Krankenhaus Offenbach hatte im April 2020 noch 57 Intensivbetten – jetzt sind es 25.

Noch einmal: die Anzahl der Intensivpatienten ist im Lauf der letzten zwölf Monate immer einigermaßen gleich geblieben. Nur die Belegung, dargestellt in Prozenten, hat massiv zugenommen. Das Krankenhaus Waldshut baute in diesem Zeitraum von 44 Betten auf 15 Betten ab. Das Krankenhaus Dachau halbierte von 60 auf 30 Intensivbetten. Und überall fand der Abbau exakt nach Inkrafttreten des überarbeiteten Krankenhausfinanzierungsgesetzes statt. Und zwar drastisch. Es ist zwar legitim, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass die Intensivstationen jetzt zu annähernd hundert Prozent belegt sind. Es ist aber extrem unseriös, mit solchen Prozenten hausieren zu gehen ohne mitzuteilen, dass die Anzahl der Intensivpatienten über die ganze Zeit gleich geblieben ist und jetzt sogar abnimmt. Auf solche erbärmlichen Taschenspielertricks stützt die Bundeskanzlerin ihre Rechtfertigung, die Grundfesten der Demokratie zu zerstören.

Jene Taschenspielertricks sind möglich geworden in einer verwilderten Krankenhauslandschaft. Früher waren die Krankenhäuser Teil des öffentlichen Versorgungsauftrags. Etwa seit Mitte der 1980er Jahre wurde auf Druck von Lobbyverbänden Profitorientierung im Gesundheitswesen zunehmend eingebracht. Wo früher städtische und kirchliche Krankenhäuser mehr oder weniger gute Arbeit geleistet haben, sind nun immer mehr private Krankenhäuser aufgemacht worden. So schreibt das Ärzteblatt: „Bei den Krankenhausträgern gab es eine deutliche Verschiebung von den kommunalen zu privaten Trägern: War 1991 jede zweite Klinik in öffentlicher Hand (46 Prozent), so ist der Anteil seither auf 29 Prozent geschrumpft. 34 Prozent wurden von Kir­chen, Stiftungen oder Vereinen unterhalten (freigemeinnützige Träger). 1991 waren es 39 Prozent. Der Anteil der privaten Träger stieg von 15 Prozent 1991 auf 37 Prozent.“(7).

Damit einher geht auch das große Krankenhaus-Sterben. Denn aus demselben Ärzteblatt-Artikel erfahren wir, dass seit der Privatisierung des Gesundheitswesens ein Viertel aller Krankenhäuser geschlossen wurde. Es handelt sich vornehmlich um kleine Krankenhäuser in der Fläche. Kommunale Krankenhäuser, die einen umfassenden Versorgungsauftrag zu erfüllen haben, verlieren lukrative Patienten an Privatkliniken und müssen sehen, wie sie mit der berüchtigten Fallpauschale noch rentabel arbeiten können (8).

Gegen die Fallpauschale hatten im Herbst 2019 über einhundert zum Teil sehr prominente Ärzte in einem Appell massiv protestiert (9). Die unter der rotgrünen Regierung dank Gerhard Schröder und Joschka Fischer durchgepeitschte Fallpauschale rammt das Profitprinzip fest in das Gesundheitswesen ein. Die Fallpauschale belohnt den Arzt, der Maßnahmen durchführt und nicht den Arzt, der den Patienten umfassend berät und eventuell eher konservativ behandelt und auf Maßnahmen wie zum Beispiel Operationen verzichtet.

Aber auch innerhalb der Maßnahmen gibt es perverse Verschiebungen, was förderungswürdig ist und was nicht. So schreiben die Ärzte in ihrem Appell: „Chronisch kranke Kinder oder ältere, multimorbide Patienten sind in dieser Systemlogik weniger wert als beispielsweise ein Patient mit Herzbeschwerden, den man im Herzkatheterlabor untersuchen und therapieren kann. Einen Beinbruch sollte man möglichst operieren – denn das Gipsen ist aus der Sicht vieler Krankenhausgeschäftsführer vergeudetete Zeit, in der ein Arzt mehr Umsatz machen könnte. Das große Los für die Klinik ist finanziell gesehen ein Krebspatient.“ Und noch etwas mehr zugespitzt: „Je höher der Aufwand, desto mehr Geld.“

Während auf diese Weise private Kliniken mit reichen Patienten so genanntes „Hüftgold“ verdienen, müssen öffentliche Kliniken alle Patienten versorgen, und machen bei der Fallpauschale massiv Defizite. Noch einmal die protestierenden Ärzte im Wortlaut: „Es darf nicht länger passieren, dass Krankenhäuser Gewinne für nötige Anschaffungen ausgeben und dafür am Personal sparen – weil der Staat ihnen seit Jahren Finanzmittel vorenthält, um unrentable Einrichtungen ‚auszuhungern‘“. Die öffentlichen Krankenhäuser müssen irgendwann Insolvenz anmelden und müssen dicht machen. Versorgungsengpässe in der Fläche werden immer dramatischer.

Die Not der öffentlichen Krankenhäuser ist dramatisch. Aufgrund jenes pervertierten Rentabilitätsgebotes anstelle des Versorgungsauftrags versucht jeder Geschäftsführer eines Krankenhauses überall noch Geld zu akquirieren. Doch auch private Profit-Krankenhäuser versuchen Geld abzustauben wo immer es nur geht. So ermittelt die Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen das private Asklepios-Krankenhaus in Harz-Ort Seesen wegen möglicherweise „zu Unrecht erhaltenen Zahlungen für freigehaltene Corona-Betten“ (das war letztes Jahr).

Und die im letzten Jahr so heuchlerisch gepriesenen Krankenpfleger, Medizinisch-Technischen Assistenten, die Reinigungsmitarbeiter, die Laborangestellten? Diese Regierung hat selber jahrelang den Personalabbau, wir hörten es im oben zitierten Ärzte-Appell, massiv gefördert.

Jetzt sind die wirklichen Helden unserer Gesellschaft am Limit und können nicht mehr. Besonders Frauen werden in der Pflegebranche miserabel bezahlt und aufgrund ihres Geschlechtes mit einem im Schnitt 10 bis 25 Prozent niedrigeren Lohn abgefunden als ihre männlichen Kollegen. Schichtarbeit ist besonders gesundheitsschädlich und verkürzt nachweislich die Lebenserwartung. Wenn dann noch das Betriebsklima nicht stimmt, geht gar nichts mehr. So ist die Fluktuationsrate in dieser Branche extrem hoch: im Krankenhaus verbleiben die Kollegen im Schnitt 13,7 Jahre und in der Altenpflege gar nur 8,4 Jahre. Viele ausgebildete Pflegerinnen ziehen die Arbeitslosigkeit dem Verbleib in der Pflege vor. Und so verwundert es auch nicht, dass allein im Jahre 2020 mehr als 9.000 Pflegerinnen und Pfleger gekündigt haben. Und der Massenexodus aus den Pflegeberufen hat dieses Jahr noch einmal so richtig Fahrt aufgenommen.

Die miese Trickserei mit den am Limit arbeitenden Intensivstationen, die in Wirklichkeit nur ihre Bettenzahl reduziert haben, ist eine logische Konsequenz des mörderischen Rentabilitätsdrucks im Gesundheitswesen. Man kann hier ansatzweise noch auf Mitleid plädieren.

Dass die Bundesregierung diese statistischen Notlügen leidender Krankenhäuser als Begründung für die Abschaffung der Demokratie missbraucht, ist allerdings durch rein gar nichts mehr zu entschuldigen: erst ohne Not einen Notstand schaffen, und dann noch den selbst verursachten Notstand durch Verdrehung der Zusammenhänge als Rechtfertigung für einen noch größeren zu schaffenden Notstand anzuführen – das ist in seiner Perfidie nicht mehr darstellbar.

Quellen und Anmerkungen:

  1. Deutsches Ärzteblatt https://www.aerzteblatt.de/archiv/216577/Intensivbetten-Die-Kapazitaeten-schwinden
    20.921 waren damals belegt, 7.893 Betten frei.
  2. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1109137/umfrage/verfuegbare-und-belegte-intensivmedizinische-betten-in-deutschland/
    Stand 26.4.2021
  3. https://www.kma-online.de/aktuelles/politik/detail/forderung-nach-wirtschaftlicher-absicherung-von-kliniken-a-44952
  4. https://www.youtube.com/watch?v=JilayrOl8xg&t=10s
  5. https://www.tagesschau.de/corona-sterbefaelle-maerz-101.html
  6. https://www.buzer.de/gesetz/6105/a84258.htm
  7. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/117181/Zahl-der-Krankenhausbetten-geht-stark-zurueck
    Eine ARD-Doku macht das Elend anschaulich: https://www.youtube.com/watch?v=ekHmwRWDVWQ
  8. Zur Fallpauschale eine Szene aus der ZDF-Satire Die Anstalt: https://www.youtube.com/watch?v=8xYunkVTsTA&t=246s
  9. https://www.stern.de/gesundheit/aerzte-appell-im-stern–rettet-die-medizin–8876008.html

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Dieser Artikel erschien zuerst in der Wochenzeitung Demokratischer Widerstand Ausgabe 45

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle:     VILevi/ shutterstock

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