„Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit“

„Friedenssicherung sollte Aufgabe aller Medien sein“, meint Ulrich Teusch. Impulsreferat auf der Tagung „Krieg und Frieden in den Medien“ am 27. Januar 2018 in Kassel (1).

Hinweis zum Rubikon-Beitrag: Der nachfolgende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Rainer Mausfeld aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt KenFM diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!

von Ulrich Teusch.

Meine Damen und Herren,

aus irgendwelchen, mir rätselhaften Gründen, bin ich davon ausgegangen, dass mir 45 Minuten Redezeit zur Verfügung stünden und habe einen entsprechenden Vortrag vorbereitet. Als ich vor zwei Tagen die bittere 20 Minuten-Wahrheit entdeckte, habe ich mich dann schleunigst ans Kürzen gemacht. Ursprünglich hatte ich mein Referat in zwei Teile gegliedert. Zunächst war da ein normativer, vielleicht könnte man auch sagen: utopischer Teil, sodann ein eher analytischer Teil. Den ersten, normativen Teil lasse ich nun zwar nicht ganz, aber doch weitestgehend weg und beschränke mich darauf, ihn kurz zu skizzieren, Ihnen also ein paar Stichworte zuzurufen.

Was heißt „Beitrag zum inneren und äußeren Frieden“?

Den inneren Frieden könnte der Journalismus befördern, indem er die Demokratie, die demokratischen Prozesse stärkt, den äußeren Frieden, indem er einen Beitrag zur Völkerverständigung leistet. Um zu zeigen, wie das konkret vonstattengehen könnte, habe ich verschiedene Maximen aufgestellt und am Beispiel der Arbeit einzelner Journalisten, die mir lieb und teuer sind, demonstriert, dass diese Maximen, wenn man denn wirklich will, durchaus in die Praxis umzusetzen wären.

Ich habe das Thema aber nicht nur auf der Ebene des einzelnen Journalisten durchgespielt, der ja immer nur, wie alle Menschen, perspektivisch sehen kann und nur in Glücksfällen in der Lage ist, diese perspektivische Verengung zu transzendieren, sondern auch auf höheren Ebenen, also auf der Ebene des einzelnen großen Mediums und auf der Ebene des Mediensystems.

Da in einem großen Medium viele Journalisten arbeiten, hätte es, wiederum den entsprechenden Willen vorausgesetzt, die Möglichkeit, konsequent multi-perspektivisch zu berichten. Und ein Mediensystem (im staatlichem oder nationalem Rahmen gedacht), das wahrhaft pluralistisch organisiert wäre, hätte zudem nicht nur die Möglichkeit, weitere Perspektiven zur Geltung zu bringen, sondern den gesellschaftlichen Diskurs auf breitestmöglicher Basis zu organisieren, die Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch zu bringen und – Stichwort „äußerer Friede“ – den Dialog zwischen unserer Gesellschaft und anderen Gesellschaften zu organisieren. Kurzum: Es hätte die Möglichkeit, diskursiven Journalismus zum Standard zu erheben.

Gegenwärtig erleben wir eine Konfrontation zwischen einem dominanten, eher affirmativen politik-, staats-, und wirtschaftsnahen Journalismus und einem minoritären, wie auch immer gearteten kritischen Journalismus. Der eine ist bei den etablierten Medien angesiedelt, der andere bei alternativen Medien unterschiedlicher Couleur.

Diese Frontstellung, die zurzeit unvermeidlich ist, würde ich auf längere Sicht gerne auflösen und sie ersetzen durch eine fruchtbare Kombination aus multi-perspektivischem und diskursivem Journalismus. Das wäre der beste journalistische Beitrag zum inneren und äußeren Frieden, und hätten wir in den letzten 20, 30 Jahren diese Art von Journalismus gehabt, sähe es vermutlich nicht nur in diesem Land, sondern in der Welt etwas anders aus.

Bei diesen knappen Hinweisen muss ich es an dieser Stelle aus den genannten Gründen belassen. Das ist es, was ich ursprünglich genauer ausführen wollte. Und es zeugt, wie Sie sehen, von einem gewissen Wunschdenken. Die mediale Wirklichkeit sieht leider anders aus. Jetzt kommt der zweite Teil, der aber in voller Länge.

Normative Vorgaben und journalistische Objektivität

Man könnte nun kritisch fragen: Gibt man denn mit einer normativen Vorgabe wie der, zum inneren und äußeren Frieden beizutragen, den Medien nicht eine politische Mission mit auf den Weg? Macht man sie damit nicht zu politischen Akteuren? Wie vertragen sich normative Vorgaben mit dem Ideal, neutral, objektiv, sachlich, unvoreingenommen zu berichten?

Ich bin überzeugt: Sie vertragen sich sehr wohl, es gibt da keinen Konflikt. Das sehen übrigens viele der wirklich großen, bedeutenden Journalisten ganz genauso. Robert Fisk zum Beispiel hat sein Journalismus-Verständnis einmal wie folgt definiert: „neutral, objektiv, auf der Seite der Leidenden“. Das klingt scheinbar widersprüchlich, ist es aber nicht. Ich glaube, dass genau umgekehrt ein Schuh daraus wird. Denn, so meine These: Nicht normative Vorgaben gefährden die Objektivität des Journalismus, sondern die mangelnde Objektivität des Journalismus gefährdet die normativen Vorgaben!

Um das näher zu begründen, werde ich mich im Folgenden immer wieder auf einen Essay beziehen, den die Politik-Theoretikerin Hannah Arendt Ende der 1960er Jahre geschrieben hat. Er trägt den Titel „Wahrheit und Politik“, und wenn man ihn heute, ein halbes Jahrhundert später, liest, lässt er geradezu prophetische Qualität erkennen.

Gegen Ende ihres bedeutenden Textes macht Hannah Arendt darauf aufmerksam, dass sich die Herrschenden in Verfassungsstaaten im Laufe der Zeit – und diese Zeit hat Jahrhunderte gedauert – bereitgefunden haben, bestimmte Institutionen zu tolerieren, sogar zu fördern, die nicht ihrer direkten Kontrolle, ihren Machtbefugnissen unterstehen, sondern sich einer relativen Autonomie erfreuen.

Zu diesen Institutionen rechnet sie zum Beispiel das Bildungswesen, insbesondere die Universitäten, oder die unabhängige Rechtsprechung. Sie weiß natürlich, dass es da, sieht man genauer hin, manches zu bemängeln gibt, manches gefährdet ist. Dennoch hält sie diesen keineswegs selbstverständlichen Tatbestand fest und würdigt ihn.

Wesentlich ist nun für Arendt, dass die genannten und einige andere Institutionen den tagespolitischen Kämpfen entzogen sind (in diesem Sinne sind sie also nicht politisch), wohl aber erfüllen sie eine politische Funktion im Gemeinwesen, sozusagen eine übergeordnete politische Funktion, eine politische Funktion höherer Ordnung.

Analoge Ansätze gibt es auch im Mediensystem. Bei der Konzeption eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks haben Gedanken dieser Art zweifellos Pate gestanden. Und nicht von Ungefähr enthalten die Rundfunkstaatsverträge normative Vorgaben, etwa dem Frieden zu dienen.

In seinem Buch „Die Unbelangbaren“ hat der von Hannah Arendts Denken beeinflusste Politikwissenschaftler Thomas Meyer genau an diesen Punkt erinnert. Er hat den Journalisten, insbesondere einigen Großjournalisten, vorgeworfen, ihr Publikationsprivileg zu missbrauchen und im politischen Prozess mitzumischen bzw. mitzuregieren. Das sei aber nicht ihre Aufgabe. Ihre Kernaufgabe bestehe vielmehr darin, die Öffentlichkeit treuhänderisch über das politische Geschehen zu informieren und auf diese Weise ihren Dienst am demokratischen Gemeinwesen zu leisten.

Anders formuliert: Die Aufgabe von Journalisten ist es, so wahrhaftig und wahrheitsgetreu wie irgend möglich zu informieren, nicht jedoch, selbst in die Rolle von politischen Akteuren zu schlüpfen. Hannah Arendt formuliert das gleiche Anliegen so: „Wer nichts will als die Wahrheit sagen, steht außerhalb des politischen Kampfes, und er verwirkt diese Position und die eigene Glaubwürdigkeit, sobald er versucht, diesen Standpunkt zu benutzen, um in die Politik selbst einzugreifen.“

Zwei Politikbegriffe

Um Missverständnisse auszuschließen, muss man hier streng zwischen zwei Politikbegriffen unterscheiden. Wenn Arendt das politische Engagement von Journalisten ausschließt, dann meint sie das profane, tagespolitische Engagement, sie meint nicht das politische Engagement höherer Ordnung, also das, was Thomas Meyer als Dienst am demokratischen Gemeinwesen oder was Robert Fisk als Solidarität mit den Leidenden beschreibt, oder eben das, was ich als Eintreten für inneren und äußeren Frieden bezeichnet habe.

Es unterliegt für mich überhaupt keinem Zweifel: Hannah Arendt hätte solche normativen Orientierungen goutiert, sie hätte sie sogar für unabdingbar erachtet, und sie hätte in ihnen keinerlei Widerspruch zu ihrem Wahrheitsideal erkannt.

Die Frage ist nun: Erbringen unsere Medien – und damit meine ich die etablierten Medien, also den Mainstream – die hier geforderte Dienstleistung, insbesondere: tragen sie zum inneren und äußeren Frieden bei? Die Antwort: Sie tun es nicht oder viel zu wenig. Und: Sie sind immer öfter aktiv daran beteiligt, den inneren und äußeren Frieden zu gefährden.

Ich will jetzt keine Belege für diese Behauptung auflisten, das habe ich andernorts getan, das haben viele andere Autoren ebenso getan; auch will ich mich nicht in eine Ursachenanalyse vertiefen. Ich will heute einen anderen Zugang wählen, um die Gefahren aufzuzeigen, die dem inneren und äußeren Frieden durch die Unzulänglichkeiten des Journalismus drohen.

Was heißt hier Wahrheit?

Mein Ansatzpunkt ist die Frage, ob und inwieweit journalistische oder mediale Objektivität überhaupt möglich ist. Gibt es so etwas wie Wahrheit, wie Objektivität, gibt es die gerade gegenwärtig so viel beschworenen Fakten?

Hannah Arendt erinnert in ihrem Essay daran, dass man zweierlei Wahrheit unterscheiden kann: die Vernunftwahrheit und die Tatsachenwahrheit.

Zu den Vernunftwahrheiten gehören mathematische, wissenschaftliche und einige philosophische Wahrheiten. Lange Zeit galt: Wenn solche Vernunftwahrheiten mit der politischen Macht (oder sonstigen Mächten, etwa der Kirche) in Konflikt gerieten, waren sie gefährdet. Das hat sich inzwischen geändert. Wir leben in einem aufgeklärten, rationalistischen, toleranten Zeitalter. Der Konflikt zwischen Macht und Vernunftwahrheit ist ein historisches Phänomen.

Umso virulenter, so Arendt, ist aber der Konflikt zwischen Macht und Tatsachenwahrheit geworden. Im Konflikt mit der Macht geraten Tatsachenwahrheiten immer öfter auf die rote Liste – manchmal auf die schwarze.

Was sind nun Tatsachenwahrheiten? Arendt ist sich natürlich darüber bewusst, dass es in der Moderne ausgedehnte Diskussionen über die Frage gegeben hat, wie wahrheitsfähig wir denn überhaupt sind, ob wir Wirklichkeit objektiv erkennen können, und sie weiß natürlich auch, dass historische Ereignisse sich verschieden deuten lassen, dass jede Tatsache in einem Kontext steht oder in ihn gestellt werden kann, dass man Tatsachen unterschiedlich gewichten kann, dass Fakten mit anderen Fakten – nennen wir sie ruhig: alternative Fakten – konkurrieren. Doch all das ist gar nicht ihr Thema. Worum es ihr geht, ist etwas viel Einfacheres, und sie veranschaulicht es an einer Anekdote:

„Am Ende der zwanziger Jahre […] wurde Clemenceau von einem Vertreter der Weimarer Republik gefragt, was künftige Historiker wohl über die damals sehr aktuelle und strittige Kriegsschuldfrage denken werden. ‚Das weiß ich nicht’, soll Clemenceau geantwortet haben, ‚aber eine Sache ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein.’“

Wenn Arendt von Tatsachenwahrheiten spricht, dann von elementaren, unumstößlichen Daten dieser Art. Manchmal sind solche Tatsachenwahrheiten für jedermann evident, liegen offen zu Tage, manchmal ist es mühsam, sie zu etablieren: man muss recherchieren, Zeugen befragen, Dokumente sichten, Archive besuchen.

Nun folgt aus der Existenz unbestreitbarer Tatsachen, die ganz einfach so sind, wie sie sind, keineswegs, dass die Tatsachen auch vorgeben, welche Meinung oder Ansicht man zu ihnen haben sollte. Darüber kann, darf, soll es Streit geben. Aber dieser Streit muss sich an den Fakten orientieren, er muss die Integrität der Tatbestände respektieren. Die unumstößlichen Fakten disziplinieren sozusagen die politischen Kontrahenten, sie markieren das Feld, auf dem sie sich legitimer Weise auseinandersetzen dürfen.

Das alles sollte unmittelbar einleuchten. Aber, so Arendt – wie gesagt, vor einem halben Jahrhundert! – es ist nicht so, oder es ist immer weniger so. Es habe, schreibt sie, „vielleicht […] kaum je eine Zeit gegeben, die Tatsachenwahrheiten, welche den Vorurteilen oder Ambitionen einer der unzähligen Interessengruppen entgegenstehen, mit solchem Eifer und so großer Wirksamkeit bekämpft hat“.

Meinungen als Tatsachen – Tatsachen als Meinungen

Die Bekämpfung von Tatsachenwahrheiten kann auf unterschiedlichste Weise vonstattengehen. Totalitäre Systeme machen das anders als Demokratien. Was die Demokratien angeht, beobachtet Arendt ein besonders wirksames und sich rasch ausbreitendes Verfahren.

Sie stellt fest, dass Tatsachenwahrheiten immer seltener die unverrückbare Grundlage von Meinungsbildungsprozessen und politischen Auseinandersetzungen seien. Im Gegenteil: Statt Meinungen oder Ansichten zu disziplinieren, würden Tatsachenwahrheiten von Ansichten und Meinungen bedroht. Anders gesagt: Tatsachen werden zu bloßen Meinungen abgewertet – und im Gegenzug werden Meinungen zu Tatsachen erklärt.

Ein großer Teil der verdienstvollen Arbeit von Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer besteht darin zu zeigen, wie die wichtigste deutsche Fernsehinformationssendung genau das immer wieder praktiziert. Sie blendet Tatsachen aus, unterschlägt sie, erkennt oder anerkennt sie nicht als Tatsachen, sie reduziert Tatsachen auf Meinungen – nach dem Motto: „Die russische Seite hat diese Darstellung bestritten…“ – und verbreitet bloße Meinungen, etwa in Gestalt von Regierungspropaganda, als Tatsachen.

Anne Will fiktiv

In verschärfter Form findet das Verfahren in Polit-Talkshows Anwendung. Nehmen wir ein von mir ausgedachtes, fiktives Beispiel, sagen wir: eine „Anne Will“-Sendung. Thema sei, wieder einmal, Russland/Ukraine. Nun sagt einer der Diskutanten Folgendes:

„Also, Frau Will, ich habe große Zweifel, ob es sich bei dem Umsturz vom Februar 2014, wie hier eben behauptet wurde, um einen legitimen Machtwechsel handelte. Zunächst ist mal fraglich, ob die Leute auf dem Kiewer Maidan überhaupt die ukrainische Gesamtbevölkerung in irgendeiner Weise repräsentiert haben. Zudem hat es nachweisbar im Vorfeld und während der Proteste eine massive Einmischung des Westens in die innerukrainischen Angelegenheiten gegeben. Kurz vor dem Machtwechsel war eine Vereinbarung für einen geordneten Übergang getroffen worden, die dann kurzerhand wieder gekippt wurde. Auf dem Maidan kam es zu einer Gewalteskalation, und die aufwändigen Recherchen, die seither unternommen wurden, zeigen, dass es offenbar Kräfte gab, die diese Eskalation bewusst provoziert haben, um einen Umsturz herbeizuführen. Und auch die Abstimmung in der Rada, dem Parlament, lässt Zweifel an der Legitimität des Machtwechsels zu. Kurzum, aus meiner Sicht war das alles nicht legitim, sondern ein Putsch.“

Vorausgesetzt, man hat den Diskutanten überhaupt ausreden lassen, kommt dann die Gegenrede, und die geht so:

„Also, ich finde es unerträglich, dass ich mir hier so etwas anhören muss. Es ist ungeheuerlich. Was Sie da erzählen, hat mit den Fakten nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. Was Sie hier verbreiten, das ist reinste russische Propaganda. Das sind genau die Lügen, die Putin und Lawrow nach der Flucht Janukowitschs erzählt haben und seither über ihre Propagandamedien in die Köpfe der Menschen zu hämmern versuchen, und Sie übernehmen das hier eins zu eins. Ich bestreite nicht Ihr Recht, dieses Zeug hier zu erzählen, wir haben ja Meinungsfreiheit – anders als in Russland. Aber die Menschen hier im Studio und draußen im Lande müssen wissen, dass Sie hier nichts anderes machen als russische Propaganda nachzubeten, russische Propaganda, das muss man mal ganz deutlich sagen!“

An dieser Stelle tritt der Vorklatscher in Aktion, und ein großer Teil des Publikums klatscht mit, was der Moderatorin die Gelegenheit gibt, Folgendes zu sagen:

„Ja, ich denke, wir können das jetzt sicher hier nicht klären, aber die Standpunkte sind ja hinlänglich klar. Ich möchte die Diskussion jetzt mal ein bisschen von der Vergangenheit weglenken und Herrn Röttgen das Wort geben, verbunden mit der Frage…“

Und so weiter und so fort. Ein fiktives Beispiel, wie gesagt. Die Wirklichkeit ist manchmal noch drastischer, wie Michael Lüders erfahren musste.

So löst man Fakten in Meinungen auf, oder: so bekämpft man Fakten mit Meinungen. „Unbequeme geschichtliche Tatbestände […]“, so Hannah Arendt, „werden behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne. […] Was hier auf dem Spiele steht, ist die faktische Wahrheit selbst, und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung.“

Arendt lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sobald eine Tatsachenwahrheit den Meinungen und Interessen im politischen Bereich entgegensteht, sei sie gefährdet. Und: Der Gegensatz zur Tatsachenwahrheit sei die bewusste Unwahrheit oder Lüge. Ja, schon der Versuch, die Trennungslinie zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen, sei eine der Formen der Lüge. Und umgekehrt gilt: „In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber.“

Tatsachen und Narrative

Wie man eben an dem fiktiven Russland/Ukraine-Beispiel sehen konnte, geht es bei solchen Auseinandersetzungen oft um mehr als nur eine einzelne, isolierbare Tatsachenwahrheit. Und das hat dramatische Folgen:

„…wenn die modernen Lügen sich aber nicht mit Einzelheiten zufrieden geben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten, was hindert eigentlich diese erlogene Wirklichkeit daran, zu einem vollgültigen Ersatz der Tatsachenwahrheit zu werden, in den sich nun die erlogenen Einzelheiten ebenso nahtlos einfügen, wie wir es von der echten Realität her gewohnt sind?“

Das ist eine frühe Beschreibung dessen, was man heute als „Narrativ“ bezeichnen würde. „Die russische Bedrohung“ ist so ein Narrativ, für das es in der Tatsachenwelt keinen vernünftigen, belastbaren Anhaltspunkt gibt. Dennoch bildet es den großen Berichterstattungsrahmen, und alle Fakten oder vermeintlichen Fakten, die in diesen Rahmen passen, werden dem Publikum übermittelt, alle entgegenstehenden Fakten werden entweder ignoriert oder als russische Propaganda, also Meinung, abgetan.

Tatsachen werden als Meinungen hingestellt, Meinungen als Tatsachen verkauft. In den USA – und mittlerweile auch andernorts – wird seit weit über einem Jahr unter dem Label „Russiagate“ etwas behauptet und als gesichertes Wissen präsentiert, für das es bislang keinen substanziellen Beleg gibt – und vermutlich auch nie geben wird. Fake News oder bloße Meinungen und Behauptungen werden als Fakten präsentiert, und gleichzeitig wird jenen, die den Fake News, Meinungen und Behauptungen mit sachbezogener Information entgegentreten, vorgeworfen, sie verbreiteten Fake News. Es ist eine verkehrte Welt, in der viele die Orientierung verlieren und nicht mehr wissen, wo oben und unten ist, was richtig und falsch ist.

Kampf um Tatsachenwahrheiten

Was sich hier abspielt zwischen etablierten und wie auch immer gearteten Alternativmedien, ist nicht lediglich ein Kampf um Deutungshoheit. Es ist auch und vor allem ein Kampf um die Relevanz von Tatsachenwahrheiten. Und dieser Kampf um die Tatsachenwahrheiten wird mit immer härteren, zunehmend auch unfairen Bandagen geführt: durch administrativen Zugriff, durch Manipulation von Algorithmen, durch Angriffe auf die Netzneutralität, durch direkte Zensur.

Diese Entwicklung ist beängstigend, und sie verläuft mit beängstigender Geschwindigkeit. Niemand sollte glauben, dass es hier darum geht, die angeblich so gefährliche russische Propaganda zu konterkarieren; die eigentlichen Zielobjekte, auch das wird von Tag zu Tag deutlicher, befinden sich nämlich nicht auf dem Territorium der Russischen Föderation, sondern auf dem eigenen Territorium: in Gestalt von Personen und Medien, die auf Tatsachenwahrheiten beharren.

Auch das hat Hannah Arendt schon prophezeit:

„Die Täuscher wie die Getäuschten müssen, schon um ihr ‚Weltbild‘ intakt zu halten, sich vor allem darum kümmern, daß ihr Propaganda-image von keiner Realität gefährdet wird. So kommt es, daß diese Art Propaganda sich viel weniger durch den wirklichen Gegner und feindliche Interessen, deren Informationen ohnehin nicht akzeptiert werden, als durch Leute bedroht fühlt, die innerhalb der eigenen Gruppe darauf bestehen, von Tatbeständen und Geschehnissen zu sprechen, die dem image nicht entsprechen. Die moderne Geschichte ist voll von Beispielen, in denen die einfache Berichterstattung als gefährlicher und aggressiver empfunden wird als feindliche Propaganda.“

Im Kampf mit der politischen Macht, schreibt Arendt, sieht es für die Tatsachenwahrheit düster aus, sie hat schlechte Karten, sie steht immer in der Gefahr, den Kürzeren zu ziehen. Im unmittelbaren Zusammenprall mit den bestehenden Mächten sind Tatsachenwahrheiten ohnmächtig und verletzlich.

Gibt es Hoffnung?

Eine gewisse Hoffnung könnte man aus dem Umstand ziehen, dass Tatsachenwahrheiten zwar stets gefährdet, aber auch hartnäckig sind. Denn sie sind – trotz aller Manipulations- und Propagandakünste – letztlich nicht aus der Welt zu schaffen. Sie haben eine Kraft eigener Art: sie sind einfach da und nicht rückgängig zu machen. Insofern – aber auch nur insofern – sind sie jeder Machtkombination überlegen.

Sodann gilt: Die Macht kann die Tatsachenwahrheiten zwar erfolgreich bekämpfen, aber sie kann nichts Gleichwertiges an ihre Stelle setzen. Auch daraus könnte man eine gewisse Hoffnung schöpfen, aber diese Hoffnung ist trügerisch. Denn was ist das Ergebnis, wenn einerseits die Wahrheit durch Lüge und Totalfiktion ersetzt wird, andererseits aber nichts Gleichwertiges an ihre Stelle tritt?

„…das Resultat“, so Arendt, „ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ „Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt die Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.“

Damit sind wir beim Kern des Problems angelangt. Der Verlust des menschlichen Orientierungssinns, der Sturz ins Bodenlose – das wäre gleichbedeutend mit dem Ende der Demokratie. „Meinungsfreiheit“, sagt Hannah Arendt, „ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.“

Wer den Respekt vor Tatsachenwahrheiten verliert und untergräbt, der spielt mit dem inneren und äußeren Frieden, der setzt ihn aufs Spiel und wird ihn am Ende verspielen.

Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit, hört man oft. Genauer müsste es heißen: Das erste Opfer eines Krieges ist die Tatsachenwahrheit. Und noch genauer: Das erste Opfer bei der Vorbereitung eines Krieges ist die Tatsachenwahrheit. Das Gleiche im Innern: Das erste Opfer bei der Zerstörung des demokratischen Diskurses ist die Tatsachenwahrheit…

„Rettet die Wahrheit“, so der bombastische Titel eines Büchleins von Claus Kleber. Der Titel ist irreführend. „Die“ Wahrheit gibt es nicht. Und unwahrhaftig ist der Titel auch. Wäre Kleber ehrlich, hätte er schreiben müssen: „Rettet meine Wahrheit“.

Aber es geht nicht um „die“ Wahrheit, nicht einmal um Claus Klebers Wahrheit. Sondern es geht um eine Vielzahl von Tatsachenwahrheiten. Sie gilt es zu retten. Dieser Kampf hat erst begonnen, und er wird sich weiter verschärfen.

Eine Möglichkeit, diesen Kampf zu führen, wäre es, konsequent die Art von multi-perspektivischem, diskursivem Journalismus zu praktizieren, die ich eingangs grob skizziert habe. Aber der Kampf um die Tatsachenwahrheit hat viele größere Dimensionen. Er ist letztlich ein politischer Kampf, allerdings keiner von der profanen, tagespolitischen Art, sondern ein Kampf in jenem übergeordneten, höheren politischen Sinn, den Hannah Arendt schon vor einem halben Jahrhundert in den Blick genommen hat.

Quellen und Anmerkungen:

(1) http://www.ialana.de/arbeitsfelder/frieden-durch-recht/ialana-kongresse-frieden-durch-recht/januar-2018-kassel-krieg-und-frieden-in-den-medien/2114-einladung-zum-ialana-medienkongress-26-28-januar-2018-in-kassel

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Dieser Beitrag erschien am 1.2.2018 bei Rubikon – Magazin für die kritische Masse.

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