Corona und Schweden: Medienberichte und Wirklichkeit | Von Christian Kreiß (Podcast)

Ein Standpunkt von Christian Kreiß.

Wie steht es mit dem schwedischen Corona-Sonderweg? Ist es überhaupt noch ein Sonderweg? Wie ist momentan die Lage in Schweden, vor allem: Wie schlimm ist die Sterblichkeit dort? Und wie wird in den deutschen Medien dazu berichtet? Vorneweg die gute Nachricht: Ja, der liberale schwedische Sonderweg existiert auch heute noch und ist erfolgreich: Die Gesamtmortalität in Schweden ist 2020 bis jetzt die viertniedrigste der letzten 11 Jahre, es gibt 2020 bislang keine Gesamt-Übersterblichkeit.

Die schlechte Nachricht: In den deutschen Mainstream-Medien wird alles getan, um den schwedischen Sonderweg wegzudiskutieren, in schlechtes Licht zu rücken und zu diskreditieren. Der Grund dafür ist psychologisch recht einfach. Angenommen, Schweden käme ohne Maskenpflicht, ohne harte Lockdowns, ohne Denunziationen und ohne gravierende Grundrechtseinschränkungen durch die Corona-Krise genauso gut oder gar besser als Deutschland, dann, ja dann waren und wären ja unsere Maßnahmen … unsinnig. Das darf doch nicht wahr sein. Also wird dagegen angeschrieben.

Wie berichten die deutschen Medien?

Beginnen wir mit einem Blick in die jüngere deutsche Medienlandschaft. Auf spiegel.de trug am 4.12.2020 ein Artikel die Überschrift: „Das schwedische Corona-Desaster“. Darin stand u.a.: „Die Regierung hat mittlerweile eingelenkt. »Der schwedische Sonderweg ist vorbei«, sagt Pieper, »und das Ergebnis steht auch fest: Er war ein Desaster.«“ In der Frankfurter Rundschau konnten wir am 26.11.2020 lesen: „Corona-Sonderweg in Schweden gescheitert“. ARD berichtete am 24.11.2020: „Corona-Krise in Schweden – Zweifel am Sonderweg. Eine Fehleinschätzung und ihre Folgen“. Im ZDF hieß es am 22.11.2020: „Corona-Maßnahmen per Gesetz – Schwedens Sonderweg ist zu Ende. Schluss mit Empfehlungen, diesmal ist es Gesetz!“ Auf n-tv stand am 4.12.2020 „Sterberate auf US-Niveau – Schweden macht’s noch schlechter als Deutschland. (…) Ein Negativ-Beispiel ist Schweden (…) Chef-Epidemiologe verliert Überblick.“ Schließlich sei noch die FAZ vom 21.11.2020 und 3.12.2020 zitiert: „Pandemie in Schweden: Von wegen Sonderweg“ und „Schwarze-Peter-Spiel: Wer trägt die Schuld an den vielen toten Schweden?“

Ich denke, das reicht. Fassen wir zusammen. Glaubt man den deutschen Mainstream-Presseberichten, so gibt Schweden jetzt – endlich! – den Sonderweg auf, er ist gescheitert und hat in dem Land eine schlimme Todesspur hinterlassen, die man vermeiden hätte können (wenn man dem guten deutschen Weg gefolgt wäre). Soweit die Pressemeldungen. Nun zu den Fakten.

Gesamtmortalität in Schweden

Die folgende Tabelle zeigt die Gesamtmortalität in Schweden seit 2010 in den jeweils ersten 44 Wochen des Jahres, also jeweils bis etwa Anfang/Mitte November. Die Zahl der Verstorbenen wurde durch die Einwohnerzahl geteilt und dann mal tausend genommen. So erhält man die Gesamtmortalität pro tausend Einwohner. Die Zahl der Verstorbenen stammt von The Human Mortality Database, dessen Direktor am Max Planck Institut arbeitet und die die Zahlen vom statistischen Zentralamt Schwedens (SCB) verwenden.1 Für die Bevölkerungszahlen wurde statista verwendet.2

Gesamtmortalität Schweden, jeweils Wochen 1-44 Verstorbene pro tausend Einwohner Rang (niedrigste Mortalität Rang 1)
2010 7,944374 10
2011 7,904536 9
2012 8,00659 11
2013 7,853161 8
2014 7,613949 6
2015 7,689374 7
2016 7,3988 2
2017 7,44031 5
2018 7,420626 3
2019 6,986447 1
2020 7,437203 4

Hier der Chart dazu:

Man sieht, dass Schweden innerhalb der letzten 11 Jahre 2020 die viertniedrigste Gesamtmortalität aufwies. Das heißt, in drei Jahren (2019, 2018 und 2016) hatte Schweden eine niedrigere Gesamtmortalität als 2020 und in sieben Jahren eine höhere Mortalität. 2020 ist also ein Jahr mit recht niedriger Sterblichkeit, jedenfalls besser als der Median der letzten 11 Jahre. Man kann deshalb bis Mitte November kaum von einer Sterbewelle in Schweden sprechen oder von einem verantwortungslosen epidemiologischen Umgang, der besonders vielen Menschen das Leben kostete, im Gegenteil. Von der Sterblichkeit her betrachtet ist 2020 eines der vier besten Jahre innerhalb der letzten 11 Jahre. Angesichts dieser Zahlen kann man schwerlich von einer Gesamt-Übersterblichkeit in Schweden in den ersten 44 Wochen 2020 sprechen.

Die starke Untersterblichkeit von 2019 und der zu erwartende rebound-Effekt in 2020

Dass es in Schweden in den ersten 44 Wochen 2020 keine Gesamt-Übersterblichkeit gab, ist umso bemerkenswerter, als es bis kurz vor Auftreten des Corona-Virus eine starke Untersterblichkeit in Form von zwei Tälern gab (siehe Schaubild unten). 2019 verzeichnete Schweden deshalb einen starken „Mortalitätsausreißer“ nach unten und wies die niedrigste Anzahl von Verstorbenen seit 1977 aus. Daher konnte man nach der dry tinder (trockener Zunder)-Hypothese mit einer deutlichen Übersterblichkeit 2020 rechnen. Insofern muss man berücksichtigen, dass das Land Anfang 2020 in einer verwundbareren Situation als viele andere Länder, insbesondere als seine Nachbarländer war, wo 2019 sehr viel mehr ältere Menschen den dortigen Grippewellen zum Opfer gefallen waren.3

Kurz: Für 2020 war nach der ungewöhnlich starken Untersterblichkeit 2019 mit einem deutlichen Ansteigen der Gesamtmortalität gegenüber dem Vorjahr zu rechnen. Insbesondere bei Auftreten eines besonders aggressiven Virus war zu erwarten, dass ihm in Schweden besonders viele besonders verwundbare ältere und schwer vorerkrankte Menschen zum Opfer fallen würden. Genau dieser „rebound“-Effekt trat 2020 ein. Er führte dazu, dass in den ersten 44 Wochen 2020 der Gesamtmortalitätswert ziemlich exakt auf die Werte der drei Jahre vor 2019 zurücksprang (siehe Schaubild oben), aber erstaunlicherweise nicht darüber hinweg stieg. Es gab demnach also keine Gesamt-Übersterblichkeit.

Covid-Mortalität

Gehen wir nun weg von sämtlichen Verstorbenen und richten den Blick lediglich auf die Covid-Toten, vor allem auf den aktuellen Rand. An oder mit Corona starben in Schweden bis Ende November insgesamt etwas weniger als 10 Prozent aller Hingeschiedenen. Über 90 Prozent aller Toten starben also an anderen Ursachen. Das erklärt auch, warum in Schweden, obwohl die Covid-Sterblichkeit vergleichsweise hoch ist, die Gesamtsterblichkeit trotzdem nicht hoch sein muss und tatsächlich nicht überdurchschnittlich hoch ist. Laut statista.com gab es in Schweden im Oktober 147 Covid-Verstorbene, in Deutschland 989, im November in Schweden 1.118, in Deutschland 6.211.4 Berücksichtigt man die Größe der Bevölkerung (Deutschland 2019 83,2 Millionen, Schweden 10,33 Millionen) heißt das, dass in Schweden im Oktober etwa 25 Prozent mehr Menschen pro 100.000 Einwohner und im November gut 50 Prozent mehr als in Deutschland an oder mit Corona gestorben sind.

Allerdings scheint sich in der letzten November-Woche (der letzte Zeitraum, für den verlässliche schwedische Zahlen vorliegen) eine Trendumkehr abzuzeichnen. Von 24. bis 30.11. sank die Zahl der an oder mit Corona Gestorbenen in Schweden um 22 Prozent.5 In Deutschland stieg im selben Zeitraum jedoch der 7-Tages-Mittelwert der an oder mit Corona Gestorbenen um etwa 33 Prozent.6 Auch die Zahl der neu eingelieferten Intensivpatienten in Schweden scheint seit Mitte/ Ende November langsam zurückzugehen.7

Das Argument, dass in Schweden bis heute (zumindest bis Ende November) mehr Menschen pro 100.000 Einwohner an Corona starben und sterben als in Deutschland, ist also korrekt. Da aber etwas weniger als 10 Prozent aller Toten in Schweden an oder mit Corona sterben, darf man daraus nicht ableiten, dass Schweden eine insgesamt höhere Gesamtmortalität hat und durch seine epidemiologischen Maßnahmen eine insgesamt höhere Sterblichkeit hervorgerufen hat oder hervorruft. Denn das stimmt nicht. Im Gegenteil. Angesichts der historisch niedrigen Sterblichkeit 2019 weist 2020, wie oben ausgeführt, einen überraschend milden Verlauf der Gesamtsterblichkeit auf, keine allgemeine Übersterblichkeit.

Dieser scheinbare Widerspruch liegt daran, dass, wie gesagt, der Anteil der an oder mit Corona gestorbenen Menschen in Schweden bei knapp 10 Prozent liegt. In Deutschland liegt dieser Wert bei unter 4 Prozent. Dennoch behandeln gefühlt 99 Prozent aller Medienberichte über Sterben und Tod in Deutschland seit März Corona. Die gut 96 Prozent aller Menschen, die 2020 in Deutschland nicht an oder mit Corona, sondern an anderen Ursachen starben, spielen in den Medien keine nennenswerte Rolle mehr. Das spricht doch für eine verblüffende Inkongruenz der Berichterstattung. Das Scheinwerferlicht der Medien strahlt gefühlt Tag und Nacht auf Corona. Es findet geradezu ein Hype statt. Auch viele andere wichtige Themen versinken seit Monaten in der Bedeutungslosigkeit. Meiner Meinung nach ist das kein Zufall. Politik und Medien wollen Angst erzeugen.8

Corona-Maßnahmen in Schweden

Zuletzt soll noch ein Blick darauf geworfen werden, welche Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung die Schweden eigentlich momentan, also Stand etwa Mitte Dezember ergreifen. Richten wir den Blick vor allem auf die Unterschiede zu Deutschland: Gesichtsmasken, also Mund-Nasen-Schutz-Masken gibt es in Schweden praktisch gar nicht. So gut wie alle Menschen laufen mit offenen Gesichtern statt mit Bankräuber-Masken herum.9 Die Schulen (bis zur achten Klasse) waren das ganze Jahr hindurch geöffnet, die Schüler tragen keine Gesichtsmasken. Restaurants, Cafés, Hotels, Fitnessstudios und sonstige private Geschäfte sind geöffnet.10

Öffentliche Veranstaltungen sind seit Kurzem auf acht Menschen begrenzt, nach 22 Uhr gilt ein Alkoholverbot und von 7.12.2020 bis 8.1.2021 gibt es Homeschooling für Oberstufen-Schüler. Eine Maskenpflicht wird derzeit nicht einmal ernsthaft diskutiert und privat dürfen sich auch mehr als acht Schweden treffen. Kurz: Schweden setzt nach wie vor auf einen äußerst liberalen Kurs in der Pandemie-Bekämpfung, appelliert ganz überwiegend an die Vernunft der Bürger*innen statt eine Vielzahl von Verboten einzuführen. Erhebliche Einschränkungen in die Grundrechte gab es nie: Das Notfall-Pandemie-Gesetz, das im April verabschiedet worden war, lief Ende Juni aus, ohne jemals genutzt worden zu sein.11 Für Menschen mit starkem Freiheitsdrang und Abscheu vor Gesichtsmasken klingt das nach wie vor paradiesisch.

Die Darstellung in den meisten deutschen Mainstreammedien liest sich aber ganz anders. Auch das ist kein Zufall, wie eingangs erwähnt. In unseren Leitmedien klingt es meist so, als ob Schweden nun – endlich – seinen Sonderweg, seine Rolle als schwarzes Schaf, aufgegeben habe und zu Zwangsmaßnahmen greife, wie eben alle anderen auch. Das ist aber eine klare Fehldarstellung, denn die Unterschiede zu Deutschland sind nach wie vor gewaltig. Insbesondere gibt es ein nicht annähernd so verbreitetes Denunziationswesen, längst keine so aggressive und intolerante Stimmung und keine solche Angst wie bei uns. Das Leben in Schweden wirkt seelisch nicht annähernd so Corona-verseucht wie bei uns. Kurz, die Menschen dort leben ungemein weniger (Corona-) belastet als bei uns.

Ökonomische Entwicklung

Vergleicht man die ökonomische Entwicklung von Deutschland und Schweden, so zeigt sich, dass Schweden deutlich erfolgreicher ist. Die beiden Länder haben praktisch eine gleich hohe Außenhandelsquote bzw. Offenheitsgrad (foreign trade quota, Anteil der Summe von Exporten und Importen am Bruttoinlandsprodukt) von 84 Prozent, sind also beide etwa gleich stark in den internationalen Handel eingebunden.12 Das deutsche Sozialprodukt ist in den ersten drei Quartalen 2020 um insgesamt 5,8 Prozent13 gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen, das schwedische um 3,13 Prozent14. Der deutsche Wirtschaftsabschwung war also 1,85 Mal stärker als der schwedische, die deutsche Volkswirtschaft ist damit fast doppelt so stark abgestürzt wie die schwedische. Glückliches Schweden.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der schwedische Corona-Weg ist entgegen den meisten deutschen Medienberichten nach wie vor ein liberaler Sonderweg. Es gibt praktisch keine Gesichtsmasken und sehr wenige gesetzliche Grundrechtseinschränkungen. Das Leben in Schweden ist sehr viel freier, weniger aggressiv und weniger angstbesetzt als in Deutschland und den meisten anderen Industrieländern. Die Gesamtmortalität in Schweden war in den ersten 44 Wochen 2020 die viertniedrigste innerhalb der letzten 11 Jahre, es gibt 2020 keine Übersterblichkeit, sondern einen überraschend milden Verlauf der Gesamtsterblichkeit. Allerdings ist die Covid-Mortalität in Schweden pro 100.000 Einwohner unverändert deutlich höher als in Deutschland. Da es keine nennenswerten Lockdowns gab, ist die schwedische Wirtschaft 2020 nur etwa halb so stark abgestürzt wie die deutsche.7

Quellen:

3https://www.aier.org/article/swedens-high-covid-death-rates-among-the-nordics-dry-tinder-and-other-important-factors/ paper vom 29.8.2020: „Sweden was loaded with “dry tinder” when the coronavirus arrived.“

6 https://www.worldometers.info/coronavirus/country/germany/, abgerufen 13.12., eigene Berechnung

7 https://experience.arcgis.com/experience/09f821667ce64bf7be6f9f87457ed9aa, Nya intensivvårdade fall per dag, abgerufen 13.12.

10 Nachdenkseiten 7.12.2020: https://www.nachdenkseiten.de/?p=67735

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de

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Die Bücher „Geplanter Verschleiß“, „Gekaufte Forschung“ und „Gekaufte Wissenschaft“ von Prof. Dr. Christian Kreiß werden in diesem Zusammenhang empfohlen.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Coffeetable Photobook / shutterstock

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