Corona, die Demokratie und der Profit

Von Bernhard Trautvetter.

Die weltweite Entwicklung um sich schnell ausbreitende Infektionserkrankungen mit dem Corona-Virus weist so viele Faktoren, Prozesse, Bewertungen und Interpretationen auf. Das Gesamtbild der Fakten und Berichte über die Zusammenhänge steht dem Bestreben entgegen, die Problematik valide zu bewerten. Dies gilt für jene, die zu wissen meinen, hier handelt es sich um eine Erkrankung biblischen Ausmaßes und es gilt auch für jene, die alle Vorsichtsmaßnahmen als übertrieben ablehnen.

Die Pandemie, das heißt die global verbreitete Erkrankung und der Umgang mit ihr, wirft Fragen auf, die weit über die aktuelle Situation hinaus Fragen an unsere Gesellschaft stellen:

Gegenwärtig spitzen sich Auseinandersetzungen um die Spannung zwischen Menschenrechtsschutz einerseits und Lebensschutz andererseits zu. Im Falle einer realen Gesundheitsgefahr tritt die Verteidigung der Freiheit hinter das Primat der Daseinsvorsorge und Prävention zurück.

Im Fall einer evtl. bestehenden Gefahr liegt die Priorität auf dem Primat, kurzfristig Leben zu schützen und es je nach Verlauf auch zu retten. Das gilt allerdings nur für die begrenzte Zeit der im Raum stehenden besonderen Gesundheitsgefährdung und der damit verbundenen eventuellen Lebensgefahr für die Menschen.

Es gibt Hinweise, denen zufolge eine auf die Dauer der Pandemie befristete Einschränkung von Freiheitsrechten der Absicht dienen kann, ein weit größeres Massensterben zu verhindern. Das ist in einer Gesellschaft mit autoritärer Vergangenheit und mit autoritären Inhabern von Macht eine gefährliche Tatsache.

Der Kommunist Max Reimann sagte im Verlauf der Beschlussfassung des Grundgesetzes, es werde die Zeit kommen, da man die Grundrechte gegen die Verteidigen müsse, die sie beschlossen haben.

Ich verweise in mehreren Texten auf diese Worte von Max Reimann. (1) Ich verstehe sie nicht alleine als Aussage über Gefahren für die Demokratie in diesem Land. Sie bezieht sich auf eine grundsätzliche Einsicht in Macht-Prozesse und trifft weltweit auf Staaten mit autoritären Kräften in der Staatsspitze und im Parlament zu. So hat Victor Orban die Demokratie unter Verweis auf Corona ausgehebelt, sein Notstandsgesetz hebelt das Parlament praktisch aus. (2)

Jene, die darauf verweisen, dass sogenannte Corona-Tote nicht an, sondern mit Corona gestorben sind, verharmlosen die Situation, denn: Wenn Menschen an einem Mix mehrerer pathologischer Prozesse leiden, darunter Corona und dann sterben, dann könnten zumindest einige ohne Corona noch leben.

Insofern ist es eine kaltherzige Betrachtung, Menschen, die ohne Corona noch länger hätten leben können, aus der Rechnung der Opfer herausrechnen zu wollen. Eine solche Rechnung kann bis zu der Gesamtbilanz geschönt werden, alle Corona-beteiligten Toten sind nicht als Opfer von Corona zu betrachten. Von dieser Interpretation aus ist es dann nicht mehr weit zum Argument, alle Versuche der Eindämmung und Streckung der Infektionskette des Virus als ungerechtfertigt darzustellen, als Ausdruck einer Hysterie oder als Plan, obrigkeitsstaatliche Realitäten zu schaffen, usw.

Die Situation ist allerdings schon im Vorfeld bis zu einem gewissen Grad so zugespitzt geworden, wie es vor allem in den Brennpunktregionen der Pandemie zu beobachten ist: Die neoliberale Strategie der sogenannten “Verschlankung” Staates mit ihrer Legende von einem sogenannten “effektiv-ökonomischen” Umgang mit finanziellen und hier auch mit medizinischen Ressourcen führte zu Einsparungen und Privatisierungen im Gesundheitsbereich mit nunmehr verheerenden Folgen. Das vielerorts zu knappe Angebot an vorhandenen Intensivbetten, Beatmungsgeräten, an Schutzkleidung und weiteren medizinischen Ausstattungen rächt sich jetzt. Umsichtige Risiko-Vorsorge und die kapitalistische Ökonomie mit ihrer Rendite-orientierten Deregulierung ist offensichtlich mit einer verantwortlichen Daseinsvorsorge unvereinbar.

Die neoliberale Strategie ist in vielen Staaten durch extrem rechte, rassistische, xenophobe und teilweise antisemitische Sündenbocktheorien bis heute begleitet worden.

In der gegenwärtigen Krise heizen Verantwortungsträger und Medien das gesellschaftliche Klima weiter auf, indem sie martialische Begriffe wie “Ausgangssperre” und “Krieg gegen den Virus” benutzen. Diese Sprache mit Begriffen der Gewalt flankiert schließlich auch noch Versuche, die Bundeswehr als Retter in der Not anzubieten.

Beschlüsse der Pandemiebekämpfung sind viel zu oft nach dem Rasenmäher-Prinzip – wie z.B. beim Entwurf eines Epidemie-Gesetzes in NRW unpräzise begründet, ungenau befristet und gesetzeswidrig scharf gefasst, wie beim inzwischen wieder zurückgenommenen Paragraphen zur Zwangsverpflichtung medizinischen Personals.

Planungen, die Bundeswehr zur Verstärkung der Polizei einzusetzen, lassen alle Demokrat*innen besorgt aufhorchen; In der Geschichte war viel repressive Gewalt mit dem Einsatz der Armee nach innen, den das Grundgesetz entsprechend verbietet, verbunden.

Die Bundeswehr kann Hilfsdienste wie sanitäre Hilfe leisten, wenn sie ziviler Leitung untersteht. Als sogenannte Ordnungsmacht nach innen hat das Militär niemals wieder zu fungieren.

Die Organisation politischer Aktivitäten alternativer Bewegungen, die Widerstand gegen die Macht bedeuten könnten, im Keim zu ersticken; das zählt zu Konzepten der Aufstand-Prävention der Nato. (3) Den repressiven Law and Order-Politiker*innen ist entgegenzuhalten: Die Anwendung des Demonstrationsrechtes im öffentlichen Raum ist auch unter den Umständen der Pandemie-Bekämpfung legal, solange die Aktiven die Schutzvorschriften zum Mindestabstand beachten.

Weitere Sorgen betreffen Wohnungslose, Geflüchtete und schlecht abgesicherte Berufstätige, auch Rentner*innen, die sich etwas hinzuverdienen, ebenso Studierende mit Nebenjobs, Künstler*innen und in der Konsequenz des Herunterfahrens der Wirtschaft immer mehr Arbeitslose, auch papierlose Flüchtlinge in Not. Asylbewerber dürfen nicht mehr in Heimen wie bisher untergebracht werden. Freie Räumlichkeiten z.B. in Hotels könnten Schutzsuchenden Schutz gewähren.

Wer wirklich Seuchen-Vorbeugung betreiben will,  der muss auch die unhygienischen und vielfach überbelegten Flüchtlingslager an den Randgebieten der EU auflösen und die Menschen menschenwürdig und medizinisch adäquat unterbringen. Die Europäische Union muss dafür ihre Unmenschlichkeit überwinden.

Aber die Fragen, die geklärt werden müssen, gehen über die konkrete Situation weit hinaus:

Das Wachstumsdogma des Kapitalismus ist eine grundsätzliche Ursache auch für die von Seuchen ausgehenden Gefahren für die Zivilisation. Eine Pandemie fällt nicht vom Himmel, die Globalisierung steigert die Gefahr: Das Zurückdrängen von natürlich gewachsenen Regionen schränkt den Bewegungsraum von Tieren wie z.B. Fledermäusen, Raub- und Nagetieren ein. Dadurch kommen sie näher an Siedlungsgebiete. Das steigert die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen in Berührung mit Viren kommen, die diese mit Ausscheidungen und Speichel hinterlassen. Tausende verschiedener Virenstämme haben das Potential, die Tier-Mensch-Schranke zu überschreiten. Der globale Austausch von Passagieren und Waren begünstigt die Gefahr zusätzlich. In den letzten hundert Jahren ereigneten sich mehrere internationale Seuchen wie die Spanische Grippe, die Vogel- und Schweinegrippe, SARS, Ebola und jetzt Corona.

Eine intelligente Politik bedeutet in dieser Entwicklung, dass die Krisenmanager eine Bereitschaft sicherstellen, im Fall des Falles genügend medizinische und andere Einrichtungen und Materialien vorbeugend zu Verfügung zu haben. Das kostet Geld. Der militärisch-industrielle Komplex nennt aber seine Verschleuderung von tausenden von Milliarden Dollar oder Euro “Sicherheitspolitik”. Diese Politik verhindert, dass die Ressourcen entsprechend einer klugen Vorsorge-Politik zu Verfügung stehen.

Es geht hier auch um eine vorsorgende Wirtschaftspolitik, die der Erde nur so viel Ressourcen entnimmt, wie in der Entnahmezeit neu entstehen. Im Moment beraubt die kapitalistische Ökonomie die Natur der Erde innerhalb der Lebzeit weniger Generationen um Schätze, die in Jahrmillionen entstanden sind.

Eine Schocktherapie birgt neue Gefahren, eine schrittweise Anpassung des Lebenswandels und eine System-Überwindung ist, aus vielen Gründen unabdingbar: Medizin und Gesundheit dürfen keine dem Profitprinzip unterstellte Leistung darstellen. Explodierende Preise für notwendige Güter wie Schutzmasken zeigen, dass der Kapitalismus sich nicht mit den Gesundheits- und Lebensinteressen der Menschen vereinen lässt.

Das Wegbrechen unserer Lebensgrundlagen auch im ökologischen Kontext muss von den Kräften des Friedens und damit auch des Überlebens durch ein Engagement gegen den Lebenszerstörer (Hoch-)Rüstung und gegen die betriebswirtschaftlich ausgerichtete Priorität des kurz- und mittelfristigen Gewinns der Konzerne bekämpft werden, die die Volkswirtschaften und die Weltgemeinschaft mit sich in den Abgrund zu reißen droht, wie sich schon daran ablesen lässt, dass die kritischen Nuklearwissenschaftler ihre Warnung vor dem Weltuntergang im Krieg wegen der Ökologie und der Hochrüstung sowie der eskalierenden internationalen Spannungen auf 100 Sekunden vor Mitternacht vor gestellt haben. (4).

In der Corona-Krise werden die doppelten Standards deutlich, die die Politik der Gegenwart kennzeichnen: Was im Zusammenhang mit der Ökologie für viele einflussreiche Kreise bis vor kurzem noch sozialistisches Teufelszeug war, winken sie nun im Zusammenhang mit der Reaktion auf die epidemischen Gefahren in Sieben-Meilen-Stiefeln durch.

In der Frage der Einstufung der Corona-Gefahr hat noch keiner den wissenschaftlichen Stein des Weisen gefunden, an dem niemand vorbei kommt. Insofern müsste jemand, der jenen folgt, die zu wissen meinen, dass diese Pandemie keine besondere Gefahr mit sich bringt, oder der umgekehrt jenen folgt, die hier von einer existenziellen Bedrohung für die Zivilisation sprechen, die Details mehr faktenhart wissen, als er sie wissen kann.

Wer sich auf die These einer Harmlosigkeit von Corona festlegt, der verliert auch wichtige Bezugspunkte für Forderungen wie die, sich in der gegenwärtigen Lage mit medizinischem und pflegendem Personal zu solidarisieren und deren bessere Bezahlung und Entlastung zu fordern. Ähnliche Argumentationsbezüge gehen mit dieser Festlegung verloren, wenn es darum geht, die Petition des Internationalen Peace-Büros zu unterstützen, die unter Verweis auf Corona die Umwidmung von Militärausgaben in Ausgaben für den Gesundheitssektor fordert. Zitat: “Der Coronavirus-Notstand zeigt, in welch geschwächtem Zustand sich unsere Gesellschaften befinden, wenn es darum geht, Menschen zu schützen: Eine Welt, die von der Vorherrschaft des Finanzkapitals, dem Vorteil für Teilhaber und Aktionäre und von Sparmaßnahmen getrieben wird, hat unsere Fähigkeit zur Verteidigung des Gemeinwohls geschwächt und Menschenleben im globalen Maßstab in Gefahr gebracht.” (5)

Die Restriktionen in der Bewegungs- und Kontaktfreiheit verschärfen die soziale Spaltung: Kinder in wohlhabenden Familien können in den Garten, auf die Terrasse, haben eine unterstützende Ausrüstung für Home-Schooling und Ruhe in ihrem eigenen Zimmer. Kinder mit prekärem Sozialisationshintergrund können davon nur träumen. Das allerdings sprich nicht in erster Linie gegen die Restriktionen für die Zeit, in der die Gefahr möglicherweise zu groß ist. Es spricht gegen einen Kapitalismus, der mit dem Märchen daherkommt, die Unterschiede zwischen Reich und Arm seien die zwischen Leistungsträgern und Minderleistern. Die kapitalen Legitimationsgeschichten der Propagandisten für das System verlieren an Überzeugungskraft, je offensichtlicher die Ungerechtigkeiten werden.

Die Gefahr besteht dann, dass Sündenböcke herhalten, wie bei Trump, der von einem “foreign” oder “Chinese Virus” sprach und der danach Europa für den Ausbruch verantwortlich erklärte.

Zusammenfassend ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es eine Lösung nicht ohne Abrüstung geben wird. Eine nachhaltige Lösung kann es nur in einer Überwindung der Profit-, Wachstums- und Konkurrenz-Ökonomie des Kapitalismus geben.

Quellen:

(1) siehe: https://kenfm.de/strukturelle-demokratiegefaehrdung-durch-die-sicherheitsbehoerden/

(2) https://www.kreiszeitung.de/politik/coronavirus-ungarn-pandemie-viktor-orban-gesetzesentwurf-diktatur-kritik-notstand-demokratie-zr-13609012.html

(3) https://www.swp-berlin.org/publikation/isaf-aufstandsbekaempfung-1/

UND: https://www.academia.edu/7328747/Credibility_in_the_Global_War_on_Terrorism_Strategic_Principles_and_Research_Agenda

(4) https://thebulletin.org/2020/01/press-release-it-is-now-100-seconds-to-midnight

(5) http://www.ipb.org/ipb-statements/ipb-statement-call-to-the-g20-to-invest-in-healthcare-instead-of-militarization/ Übersetzung: B.T.

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Danke an den Autor für die Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Ascannio / shutterstock

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