Bewegung für das Überleben

Von Bernhard Trautvetter.

Sahra Wagenknecht sagte am 4. September anlässlich des Starts der Sammlungsbewegung #Aufstehen in einem ZDF-Interview:

“Wir haben eine handfeste Krise der Demokratie”. Das Klima werde immer aggressiver und rauer. Grund dafür sei die Schere, die zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klafft. Vierzig Prozent der Menschen verdienen heute weniger als vor 20 Jahren.

Auf der Bundespressekonferenz sprach sie von einem Angriff auf die Demokratie.

Im Tagesthemen-Interview mit Caren Miosga am 3.9.2018 erklärte sie dazu, dass sich viele Menschen von der Demokratie abwenden und teils rechte Parteien wählen, weil sie sich von der Politik abgehängt fühlen.(1)  Es reiche nicht, sich darüber aufzuregen, dass auf offener Straße der Hitlergruß gezeigt wird. Das offenbart, dass in diesem Land einiges schief laufe. Wenn Wirtschaftslobbyisten dazu beitragen, dass die Politik über die Menschen hinweg regiert, wenn sie das an der Rente, der Krankenkasse und anderen Missständen erkennen, dann wächst sich Unzufriedenheit aus. Ihr Unmut darüber, wie sie die Flüchtlingspolitik erleben, entspringt oft einer Verzweiflung über Abstiegserfahrungen und einer Angst vor einem Absturz ins Bodenlose. Vierzig Prozent der Menschen haben heute weniger als Ende der neunziger Jahre. Die Empörung über ihre soziale Zurücksetzung, über die soziale Spaltung, das sind Ursachen für die Krise der Demokratie, vor denen die Große Koalition die Augen verschließt. Sie habe konkrete Formen, wenn jemand sein Leben lang gearbeitet habe und dann mit 800 Euro in die Rente gehe.

Sahra Wagenknecht weiß als ehemaliges Mitglied der kommunistischen Plattform, dass diese Probleme im Charakter des Kapitalismus ihren Ursprung haben, der nun einmal keine soziale Veranstaltung, sondern eine systematische Bereicherung der Kapitaleigentümer auf Kosten des Restes der Gesellschaft ist. Nach dem Ende des Systemwettbewerbs, nach dem Kalten Krieg, verließ der Kapitalismus den Schönheitswettbewerb mit den Staaten im “Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe” , die sich mit der Sowjetunion realsozialistische Staaten nannten. Aus dem begrenzten Wohlfahrtsstaat, aus der sozialen Marktwirtschaft wurde und wird schrittweise der deregulierte Kapitalismus auf dem Weg zur Verelendung, wie ihn Friedrich Engels einst in seinem Werk “Die Lage der arbeitenden Klasse” über den Manchester-Kapitalismus seiner Zeit beschrieb. Zwar gab es bereits in der realsozialistischen Vergangenheit Armut, aber nicht die Gefahr, in Arbeitslosigkeit aus der Gesellschaft komplett heraus zu fallen.

Am Tag des offiziellen Starts der Bewegung #Aufstehen sagte Sahra Wagenknecht im ZDF-heute-Journal am 4.9.2018(2), diese Gesellschaft könne auf den “eingefahrenen Gleisen nicht weiter machen,… die Menschen wünschen sich mehr sozialen Zusammenhalt” und viele zweifeln an der Demokratie, das Klima werde rauer und aggressiver, wir “spüren, dass sich immer mehr Menschen abwenden”. Deshalb müsse man erfolgreich Druck auch von der Straße aus  ausüben, dann ließe sich eine soziale Politik leichter durchsetzen. Bewegungen wie die Friedensbewegung der 1980er Jahre hätten gezeigt, dass man etwas durchsetzen kann. Menschen, die sich abwenden, können dafür gewonnen werden, soziale Forderungen “auf die Straße” zu tragen. Der Sozialabbau und die Macht der Wirtschaftslobbyisten haben Wut nach sich gezogen. Auch beim Thema Flüchtlinge gehe es in erster Linie um soziale Themen, die zentral seien. Die notwendige Antwort sei auch eine realistische Flüchtlingspolitik, zu der die Einhaltung des Asylrechts gehört, und zugleich darf es nicht dazu kommen, dass Menschen am Rande des Existenzminimums leben und  andere bekommen etwas, während sie sich zurückgesetzt fühlen. Diese Analyse besagt, dass eine Sozialpolitik, zu der bessere Renten genauso gehören wie ein Ende der Hartz IV-Politik mit Sanktionen, realisiert werden muss. Dann kann keine Partei wie die AfD mehr ihr Süppchen auf der Stimmung und Wut kochen.

Der Gründungsaufruf umfasst passend zur Kritik von Sahra Wagenknechts Beschreibungen von Missständen, wie diese: “Das Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft, dass jeder, der sich anstrengt, auch zu Wohlstand kommen kann, gilt im Zeitalter von Leiharbeit und Niedriglohnjobs nicht mehr. Es gibt immer mehr Arbeitsplätze, von denen man nicht leben, geschweige denn eine Familie ernähren kann. Die Mittelschicht wird schmaler. In kaum einem anderen europäischen Land ist die Einkommensschere zwischen Frauen und Männern so groß wie bei uns in Deutschland. Gerade diejenigen, die sich im Beruf fürsorglich um andere Menschen kümmern, werden oft demütigend schlecht bezahlt… Seit der Sozialstaat keine ausreichende Sicherheit mehr gibt, kämpfen viele für sich allein. Wer seinen Job verliert oder durch längere Krankheit ausfällt, ist schnell ganz unten. Hartz IV enteignet Lebensleistung, egal, wie lange jemand gearbeitet und in die Sozialkassen eingezahlt hat. Im öffentlichen Bereich wird gekürzt und privatisiert. Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Wasser, Bahnverkehr, Schwimmbäder (…) – mit allem wird heute Profit gemacht. Besonders dramatisch sind die Veränderungen am Wohnungsmarkt. (…) Die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts, wachsende Unzufriedenheit und empfundene Ohnmacht schaffen einen Nährboden für Hass und Intoleranz. (…) Übergriffe auf Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Religion häufen sich. (…) Und während Konzerne hohe Dividenden ausschütten, streiten die Ärmsten an den Tafeln um überlagerte Lebensmittel.”(3)

Das Kapital und seine Meinungsmacher haben es entsprechend dem letzten hier zitierten Satz geschafft, von den großen Skandalen dieser Gesellschaft abzulenken: Oxfam berichtete vor zweieinhalb Jahren, 62 Superreiche weltweit besitzen so viel wie die arme Hälfte der Menschheit; ein Jahr später schrumpfte die Zahl auf acht.(4)

Passend dazu die Situation in Deutschland: “In keinem Land der Eurozone sind die Vermögen ungleicher verteilt als in Deutschland – Männer besitzen mehr als Frauen, Ostdeutsche nicht mal halb so viel wie Westdeutsche – Das Vermögen der Arbeitslosen ist um 40 Prozent geschrumpft – Die Zahl der Personen, die mehr Schulden als Vermögen haben, ist gestiegen.”(5)

Georg Schramm sagte 2012 anlässlich einer Preisverleihung der Erich Fromm_Gesellschaft:

„(…) Es geht letztlich ums Kämpfen, ob wir wollen oder nicht. Wir befinden uns in einem Art Kriegszustand. Ich halte dies nicht für übertrieben. (…) Jetzt ist die Frage, wer kämpft gegen wen. Hier gebe ich Ihnen eine Antwort von berufenem Mund: Warren Buffett hat das unmissverständlich beantwortet. Falls Sie ihn nicht kennen; Warren Buffett zählt mit grob geschätzten 50 Milliarden Dollar zu den Top-5 Besitzern auf der Welt. Einer der ganz großen Oligarchen. Auf die Frage, was er für den zentralen Konflikt unserer Zeit hält, hat Warren Buffet gesagt: ‘Der Klassenkampf natürlich, Reich gegen Arm, und meine Klasse, die Reichen, die gewinnen gerade.’

Ist doch schön, dass einer einmal nicht darum herumredet. Er nennt es einfach beim Namen. Buffet hat übrigens auch den Begriff von den finanziellen Massenvernichtungswaffen geprägt, der mittlerweile benützt wird und das zurecht. Die (…) Oligarchen und ihre Truppen haben uns den Krieg erklärt.”(6)

In der Situation bedient sich das Kapital der Methode, die Brzezinski  “Tittytainment” nennt, um die Menschen, die am Rande stehen, davon abzuhalten, auf die Barrikaden zu gehen:

“Zugeschrieben wird dieser Begriff Zbigniew Brzeziński, dem früheren nationalen Sicherheitsberater des Präsident der Vereinigten Staaten US-Präsidenten Jimmy Carter. Er soll ihn 1995 auf einer Versammlung des Global Braintrust geprägt haben. Aufgrund des Wachstums der Produktivität gehe, so die dem Schlagwort zu Grunde liegende Prognose, die (bezahlte) Arbeit aus. In Zukunft würden daher 20 % der  Weltbevölkerung ausreichen, um alle benötigten Dienstleistungen und Güter zu erbringen bzw. zu produzieren. Die restlichen 80 % der Bevölkerung müssten dann von Transferleistungen leben. Wie dem schreienden Säugling die Brust gegeben wird, müssten dann, so die Behauptung, die in der Produktion überflüssigen Menschen mit trivialer Unterhaltung (Fernsehen, Internet, sexualisierte Unterhaltung usw.) ‘bei Laune gehalten werden’.”(7)

Tittytainment ist mit dem “Teile und Herrsche”- Spiels der Herrschenden Element  der Herrschaftssicherung.

Viele, der von Abstiegserfahrungen und -ängsten Betroffenen, feinden sich in Reaktion auf die kapitalistischen Konkurrenzgesetze gegenseitig an, da sie im anderen, vielleicht noch Ärmeren, eine weitere Gefahr für ihre Existenzsicherheit sehen. Dabei sitzen sie im gleichen Boot. Sie sind die Leidtragende des von Eliten genutzten Systems. Die Krisenmanager stoßen immer deutlicher an die Grenzen des Systems und ihrer Steuerungskompetenzen. Sie versuchen ihr Fell ins Trockene zu retten und dabei so viel wie möglich herauszuschlagen. Damit ihre Korruption dabei nicht auffällt, lenken sie ab. Sündenböcke sind dafür willkommen, auch politische Konkurrenzkämpfe, etwa im Zusammenhang mit Wahlen. Wenn sich ihre Gegner dabei miteinander befassen und zerreiben, reiben sie sich die Hände.

Die Spaltung verläuft ohnehin nicht zwischen arm und ganz-arm, sie verläuft zwischen Unten und Oben, auch wenn korrupte und korrumpierte Elitenangehörige und ihre Helfershelfer davon ablenken. Passend dazu diese Zeilen des Solidaritätsliedes:

 “Unsre Herrn, wer sie auch seien,
sehen unsre Zwietracht gern,
denn solang sie uns entzweien,
bleiben sie doch unsre Herrn.”(8)

Das Tittytainment und ‘Teile und Herrsche’ zu durchkreuzen, dafür ist eine Sammlungsbewegung, die von unten wächst, die Druck auf die Herrschenden, auf die Politik, auf die Manager und ihre Herren ausübt, eine Chance, die es lohnt, versucht zu werden.

Es geht um eine gerechte und friedliche Zukunft. Wir müssen immer greifbarer damit rechnen, dass die Alternative darin besteht, dass die Welt aus den Fugen gerät, oder, wie Sahra Wagenknecht sagt, dass wir in Kürze auch unser Land nicht mehr wieder erkennen.

Der #Aufstehen-Gründungs-Aufruf weist in seinem Schluss-Absatz diese Sätze auf:

“Weil die Probleme sich auf den eingefahrenen Gleisen nicht mehr lösen lassen, bedarf es eines neuen Aufbruchs. (…) Was die Konzerne durch ihr Geld, ihren Medieneinfluss und ihre Lobbyisten schaffen, müssen wir durch unsere Stärke, innere Toleranz und öffentliche Resonanz erreichen. Wenn die Vielen sich sammeln und nicht mehr vereinzelt bleiben, dann haben sie mehr Macht als die wenigen Privilegierten. Dann können sie ihre Interessen durchsetzen und die Politik in unserem Land verändern. Dann können Sie Menschlichkeit, Frieden, Sicherheit und Zusammenhalt ganz oben auf die Agenda setzen.”(9)

Letzteres weist über den Kapitalismus hinaus. Er hat sich in seinen zweieinhalb Jahrhunderten als ein System erwiesen, das die Menschheit an den Rand des Abgrunds gewirtschaftet hat. Gorbatschow hatte 1988 in Bonn gesagt: Euer System im Westen und unseres im Osten, beide sind nicht zukunftsfähig. Es kommt darauf an, dass die Bewegungen die konkreten Forderungen des Alltags stellen, etwa zur Bildung, Rente, zur Mietpolitik, zur Krankenversicherung, zur Abrüstung, zu Arbeitsverhältnissen, Steuern, (…) Umwelt mit einer Perspektive verbinden, die über den Augenblick hinausreicht – auf ein zukunftsverträgliches System.

Zuerst gilt es, das konkrete Ärgernis anzugehen, dabei ist der Erfolg erst dann nachhaltig, wenn er weiter denkt, über das System der Konkurrenz und der Jagd nach Profit als Wurzel des Übels hinaus.

Quellen

(1) alle in diesem Abschnitt stehenden Äußerungen stammen aus dem Interview: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-444177.html

(2) alle in diesem Abschnitt stehenden Äußerungen stammen aus dem Interview: https://www.zdf.de/nachrichten/heute/wagenknecht-im-interview-zur-sammlungsbewegung-aufstehen-100.html

(3) https://www.aufstehen.de/gruendungsaufruf/

(4) https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/2016-01-18-62-superreiche-besitzen-so-viel-haelfte-weltbevoelkerung und

https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2017-01-16-acht-milliardaere-besitzen-so-viel-aermere-haelfte

(5) https://www.diw.de/de/diw_01.c.438772.de/vermoegen_in_deutschland_durchschnittlich_83_000_euro_fuer_jeden_aber_hoechst_ungleich_verteilt_nbsp.html

(6) http://friedensblick.de/5119/georg-schramm-wir-befinden-uns-im-krieg/

(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Tittytainment

(8) http://www.text-lyrics24.top/deutsche-text-lyrics/bertolt-brecht-das-solidaritatslied-text-lyrics

(9) https://www.aufstehen.de/gruendungsaufruf/

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Bildhinweis: Pressfoto –  Bildnachweis: @DiG/Trialon

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung.

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