Atomare Zeitbomben der sog. “friedlichen Nutzung” der Atomkraft

Von Bernhard Trautvetter.

Am gestrigen Montag waren die 24 Milliarden Euro fällig, mit denen sich die vier atomaren Energieriesen Eon, RWE, EnBW und Vattenfall auf einen Schlag von den Endlagerkosten für die Hinterlassenschaften der Nuklearindustrie freikaufen. Die nächsten 1 Mio. Jahre soll dann der Staat, also die Steuerzahlergemeinschaft, die Risiken übernehmen. Die Atomkonzerne bleiben lediglich für die Stilllegung und den Abriss der Atomkraftwerke verantwortlich. Dann haben sie zwar die Profite der Nutzungsjahre eingestrichen, aber die unüberschaubaren Folgelasten sind sie los. Der Kapitalismus orientiert auf die Privatisierung der Gewinne. Weltweit.

Über sechs Jahre nach dem „Super-Gau“ in Fukushima am 11. März 2011 haben sich Manager des Energiekonzerns Tepco wegen der ihnen vorgeworfenen Missachtung von Gefahren vor Gericht zu verantworten. Ein solcher Prozess gegen Führungskräfte eines solchen Großkonzerns ist ein höchst ungewöhnlicher Akt.

Aber eins nach dem anderen: “Super-Gau” ist ein verharmlosendes Wort. “Gau” ist “größter anzunehmender Unfall”. Außer einem größten solchen Unfall gibt es dann also noch einen größeren als den größten, das ist ein Super-Gau.

Der Vorwurf gegen die Manager stütz sich unter anderem auf die Information, dass der Konzern seit 2008 gewarnt war: Ein konzerninternes Dokument für eine Tagung im Jahr 2008 legt offen, dass Experten befürchteten, ein Tsunami von mehr als 15 Metern könnte die Anlage gefährden, wie die Japan Times veröffentlichte.

Eine Expertenkommission erklärte 2012, es handele sich bei der Katastrophe um ein “Desaster von Menschenhand”, entstanden unter anderem in einem “Beziehungsgeflecht zwischen Staat und Atomlobby”, so die Tagesschau vom 30.06.2017.

Diese Menschenhand ist noch immer nicht im Griff.

Greenpeace schrieb dazu letztes Jahr: ” ‘Ich habe daran geglaubt, dass Japans fortschrittliche Technologie einen nuklearen Unfall wie in Tschernobyl verhindern würde’, sagt Naoto Kan, Japans Premierminister zur Zeit der Fukushima-Katastrophe. Doch er ist passiert – und das hat Kans Leben verändert. Heute wirbt er für Japans Ausstieg aus der Atomenergie. Vor dem fünften Jahrestag des Reaktorunglücks lässt er sich an Bord des Greenpeace-Schiffs Rainbow Warrior erklären, wie Strahlenschutzexperten die radioaktive Belastung des Pazifiks vor Fukushimas Küste messen. (…) ‘Das Fukushima-Desaster hat bislang ungekannte Mengen Radioaktivität ins Meer freigesetzt’, so Thomas Breuer, Leiter der Klima- und Energiekampagne von Greenpeace Deutschland. (…) 1,4 Millionen Tonnen radioaktiv verseuchtes Kühlwasser aus den havarierten Reaktoren ließ der AKW-Betreiber Tepco nach dem Gau in den Pazifik abfließen. Auch anschließend gab es beträchtliche Austritte kontaminierten Wassers ins Meer. Bis heute wäscht der Regen aus den umliegenden Bergen und Wäldern immer wieder radioaktive Partikel in die Flüsse und schließlich in den Pazifik. Diese Verseuchung des Ozeans wird noch hunderte Jahre andauern.”

Der Zeithorizont von hunderten Jahren ist für sich genommen schon ein Indikator für die Unfähigkeit der Menschheit mit einer Technologie klarzukommen, deren Hinterlassenschaften nachfolgende Generationen über solch lange Zeiträume schädigen. Was war vor z.B. 300 Jahren? Da gab es noch keinen Kapitalismus, keine Dampfmaschine, keine Industrie. Aber dieser Zeitraum ist ein Wimpernschlag in der Ewigkeit, um die es eigentlich geht. So schrieb der Spiegel am 10.5.2011: “In unscheinbaren Hallen in Deutschland stapelt sich hochgefährlicher radioaktiver Abfall. In den sogenannten Zwischenlagern werden jedes Jahr Hunderte Tonnen Atommüll aus Kernkraftwerken aufgeschichtet. Das Problem: Die Substanzen strahlen mit tödlicher Stärke – und das noch Millionen Jahre. Zwar blockieren Castorbehälter aus Stahl und Glas die Radioaktivität. Doch um den Atommüll für alle Zeit sicher zu entsorgen, fahnden Politiker und Wissenschaftler nach einem Endlager. Die jahrzehntelange Suche blieb allerdings bislang vergeblich – und so steht der Müll bis auf weiteres in den unsicheren Hallen.”

Vor einer Millionen Jahre lebte noch kein Homo Sapiens. Die Situation der Menschheit angesichts der Atomindustrie, ist mit der von den Mitfliegern in einem Interkontinentalflug zu vergleichen, die zwar schon in der Luft sind, für die es im Zielgebiet aber noch keinen Flughafen gibt.

Hinzu kommt die unverantwortliche Unbedarftheit im Umgang mit den durch bekannte wissenschaftliche Fakten bestehenden Gefahren.

In dieser Situation die Atomindustrie zu forcieren, ist ein Ausdruck von kurzfristiger Risiko-Herausforderung, in der Hoffnung, dass das Befürchtete ja vielleicht nicht so schlimm kommt. Es ist ein verantwortungswidriger Umgang mit dem Leben. Diese Verantwortungswidrigkeit wird noch gesteigert, wenn man sich folgendes vergegenwärtigt: Die Tatsache, dass Atomkraftwerke aufgrund des Erfordernisses ständiger Kühlung, um einen Gau zu verhindern, oft nahe an Küsten gebaut sind, stellt eine Gefahr wie die einer Zeitbombe dar. “So liegen zum Beispiel viele der Kernkraftwerke an der britischen Küste nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Und 1992 verursachte der Hurrikan Andrew erhebliche Schäden am Kernkraftwerk Turkey Point in der Bucht von Biscayne in Florida, wenn auch zum Glück nicht an betriebskritischen Systemen.”, so Die Welt am 15.3.2011.

Neben die Wasser-bezogenen Probleme treten Erdbebengefahren, die bei Fukushima ebenfalls zutage traten: Die Tsunami-Tragödie war die Konsequenz eines Seebebens. Japan liegt zum Beispiel “auf dem Rand der Pazifischen Platte, dem sog. ‘Feuergürtel der Erde‘, der durch besonders intensive Tektonik (Vulkane, Erdbeben) gekennzeichnet ist. Japan ist außerdem durch die hohe Anzahl beteiligter Erdplatten besonders gefährdet. Hinzu kommt, dass die Grenze der Ochotsk-Platte direkt die Hauptinsel Honshu in der Nähe von Kyoto schneidet.”

Ein solches Problem kann innerhalb der Existenzzeit der Hervorbringungen der Nuklearindustrie auch in Europa verheerend wirken; und zwar nicht nur dann, wenn ein Schrottreaktor wie der im belgischen Tihange – der auch das Ruhrgebiet mit seinen ca. 10 Mio. Einwohner bedroht und der von Deutschland mit Brennstab-Material versorgt wird – einen Gau erfährt. Dann brauchen sich für die nächsten Jahrhunderte im Ruhrgebiet keine Menschen mehr blicken lassen.

Die Erdbebengefahr kommt für die gesamte Zivilisation in Europa vom Mittelmeer bis nach Eurasien hinzu: “Ein wirklich verheerendes Beben ist – bezogen auf eine einzelne Stadt oder einen Ort – nur alle paar Hundert Jahre zu erwarten. Und gerade in jahrhundertealten Siedlungen, wie der jetzt schwer getroffenen Bergregion Zentralitaliens, ist es unmöglich, die komplette Stadtplanung nachträglich auf Erdbeben auszurichten. Ein Problem, das auch Metropolen haben. (…) Wie Istanbul zum Beispiel. Oder Lissabon. Dort ereignete sich das letzte verheerende Beben vor mehr als 250 Jahren und es mag scheinen, als hätten sich die Platten dort beruhigt. Doch Geologen wie Onno Oncken wissen: ‘Ruhe gibt es nicht.’ Es kann in Europa jederzeit zu einem schweren Beben kommen. Mit Pech liegt das Epizentrum mitten in einer Großstadt.”

Neben die Ignoranz gegenüber sichtbaren unverantwortbaren Bedrohungen tritt der Terror der Profit-Priorität zugunsten der Konzerne: Sie haben das Recht, satte Rendite aus dem Atomgeschäft einzustreichen und dann der Menschheit die Folgen für die nächsten 1 Mio. Jahre zu hinterlassen: “Die Atomkonzerne können sich für 23,6 Milliarden Euro von sämtlichen Kosten für Zwischen- und Endlagerung ihres Strahlenmülls freikaufen. Ist das ein Aufreger? Ja und nein. Die Steuerzahler werden am Ende höchstwahrscheinlich auf Milliardenkosten sitzen bleiben. Allerdings ist der Ansatz durchaus richtig: Der Staat muss die Entsorgung selbst in die Hand nehmen und darf diese Aufgabe nicht den Atomkonzernen überlassen. Die haben nämlich ein Interesse am günstigsten, nicht am sichersten Endlager.” [Freitag 31.10.2016]

Hier wird sichtbar, dass der Kapitalismus sich mit der von der Nuklearindustrie ausgehenden Gefahr nicht im Sinne der Menschen und des Lebens versöhnen lässt: Ein System, in dem Betriebe auf Kosten des Lebens die Priorität der Rendite haben, ist unfähig, der Menschheit im Atomzeitalter die Sicherheit zu geben, die das Leben braucht.

Fassen wir zusammen: Der Prozess gegen die Manager von Tepco ist so lächerlich wie vermutlich im Detail sachlich richtig. Die Verbindung von Atomlobby und Politik stellt eine bei Licht gesehene intolerable Zukunftsgefährdung für die Menschheit dar. Wir müssen die Atomindustrie zur Geschichte machen, ehe das Vorhersehbare überraschend eintritt. Und das gleiche gilt für das System des privaten Profits im Konkurrenzkampf der Einzelkapitale, das ich Kapitalismus nenne. Diese Aufgabe bedarf des Zusammenwirkens aller Kräfte guten Willens, ohne dass es eine Gewissheit auf Erfolg geben wird. Es gibt dazu einfach keine mir sichtbare Alternative.

Infos über die Anti-Atom-Bewegung aus erster Hand findet man beim “wichtigsten deutschen Bürgernetzwerk gegen Atomkraft”, wie es die ZEIT am 22.11.2012 titulierte :
https://www.ausgestrahlt.de
https://www.ausgestrahlt.de/mitmachen/tihange-menschenkette

 

Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Textes.

KenFM bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Meinungsartikel und Gastbeiträge müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.


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